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Zygmunt Baumann:
Die Angst vor den anderen.
Ein Essay über Migration und Panikmache
Zygmunt Baumann sucht in seinem psychologisch und philosophisch geprägtem Sozialarchiv nach Erklärungen für die forcierte Fremdenfeindlichkeit in Zeiten erhöhter Migration. Der erste ist die weitreichende „Individualisierung“, der zweite die „Erosion der territorialen Souveränität“. Auf dem Weg von der „Disziplinargesellschaft” der noch nicht ‘flüchtigen’, sondern’soliden’ Moderne« zur “Leistungsgesellschaft” “wird die Unsicherheit des menschlichen Daseins privatisiert und die Verantwortung für den Umgang damit dem schwachen Einzelnen aufgebürdet, während die existenziellen Notlagen und Schicksalsschläge als Doit-yourself-Jobs abgetan werden, die dummerweise von den Betroffenen selbst verursacht worden sind”. “Das Gespenst, das in einer Gesellschaft von Menschen umgeht, die vor allem Leistung erbringen sollen und wollen, ist die Angst, sich selbst als ungenügend – unfähig und ineffizient – zu fühlen, und die Angst vor den unmittelbaren Auswirkungen dieser Einsicht – dem Verlust der Selbstachtung – sowie ihren wahrscheinlichen Folgen: Ablehnung, Verbannung und Exklusion. Als Erzeuger der offiziellen Angst schüren die Machthaber unablässig die existenzielle Unsicherheit, aus der dieses Gespenst hervorgegangen ist und immer wieder neu geboren wird. Die Machthaber tun alles, um dieses Gespenst so greifbar und glaubwürdig – so »realistisch« – wie möglich zu machen; schließlich ist es die offizielle Angst ihrer Untertanen, die sie letzten Endes an der Macht hält.”
Man hat das Gefühl, ein Opfer zu sein. Opfer wovon? Von Umständen, auf die man nur sehr geringen oder gar keinen Einfluss hat – von Kontrolle gar nicht zu reden. Wir sprechen hier gerne von »Schicksal«, doch mit dieser Bezeichnung machen wir alles nur noch schlimmer. Dann sind wir nicht nur Versager, sondern dazu noch kurzsichtige, unwissende oder unfähige und tölpelhafte Versager, wodurch die Schmach und die daraus folgende Selbstverachtung sich verdoppeln: Das Schicksal hat kein Gesicht, und meist ist es aussichtslos, ihm ein Gesicht geben zu wollen. Um diese Erniedrigung zu vermeiden und etwas von ihrer Würde und Selbstachtung zu retten, müssen die Opfer diejenigen ausmachen und benennen, die sie zu Opfern gemacht haben; und diese Leute müssen ein erkennbares Gesicht haben, damit man sie lokalisieren und mit einem Namen belegen kann. (…) Migranten und vor allem die Neuankömmlinge unter ihnen erfüllen alle diese Voraussetzungen bestens.
Mit Miroslaw Hroch sieht Baumann Nationalismus und den Verweis auf die ethnische Zugehörigkeit als »Ersatz für Integrationsfaktoren in einer desintegrierenden Gesellschaft. Wenn die Gesellschaft zerfällt, erscheint die Nation als letzte Garantie.« Individuell nicht aufzulösende Diskrepanzen in Denken und Wollen – kognitiven Dissonanzen – verwirrten die Wahrnehmung und lenkten die”Hoffnungen auf einen Retter und Erlöser, einen von der Vorsehung geschickten Mann (oder eine Frau) setzen, nach einer eisern, militant, kämpferisch nationalistischen Gestalt suchen – nach jemandem, der den globalisierten Planeten draußen zu halten und die Tore zu schließen verspricht, die doch schon längst aus ihren Angeln gehoben (oder vielmehr aufgebrochen) und daher nutzlos geworden” sind. “Die Attraktivität der Anwärter auf die Rolle des starken Manns oder der starken Frau gründet auf ihrem Versprechen, zu handeln (auch wenn ihr Handeln sich im Augenblick auf Reden beschränkt), und auf dem Umstand, dass sie immerhin behaupten, sie könnten es anders machen, es gäbe eine Alternative – und zwar sie selbst. Und schließlich beruht die Verführungskraft der starken Männer und Frauen auf dem Umstand, dass all diese Versprechungen und Behauptungen ungeprüft bleiben.”
Zygmunt Baumann versieht die “anthropologischen Wurzeln des Hasses” auf die Frremden mit zeitbedingten Gründen. Er lässt den Leser nicht allein und postuliert am Schluss “eine Gegenkraft: das Phänomen der Begegnung, die zu einem Dialog führt, der zwar nicht unbedingt auf Einvernehmen, sicher aber auf wechselseitiges Verständnis zielt”.
2016
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Sarah Bakewell:
Das Café der Existenzialisten.
Freiheit, Sein & Aprikosencocktails
Als ich mit Anfang zwanzig erstmals Heidegger las, verfiel ich der Magie des Zauberers von Meßkirch. Mein Blick auf die Welt wurde von seinem schieren Erstaunen darüber beeinflusst, dass es tatsächlich etwas gibt und nicht vielmehr nichts. Ich war beeindruckt von seiner Betrachtung von Landschaften und Gebäuden und von dem Gedanken des Menschen als «Lichtung», auf die das Sein hinaustritt.” “Auf ganz andere Weise hat mich der zweite Gigant des Existenzialismus überrascht, Sartre, der mich mit seinem Roman Der Ekel früh für die Philosophie begeistert hatte. Ich wusste, er würde in meinem Buch eine herausragende Rolle spielen, ohne zu ahnen, wie sehr ich ihn am Ende wertschätzen, ja mögen würde.
Jetzt erkennt sie, dass “Eigentümlichkeiten der Persönlichkeit oder die Details der Biographie eines Philosophen bedeutsam sein” können und deshalb schrieb die 1962/63 Geborene 2016 eine leichtfüßige, anekdotische Revue der Existenzialisten. Ausgehend von ihrer intellektuellen und Lesebiografie erzählt Sarah Bakewell vom Denken und Streiten, vom Schreiben und Trinken, von Liebschaften und Intrigen, von allerlei Indiosynkrasien gewichtiger Existenzialisten. Am meisten Raum nehmen Heidegger und Sartre ein, doch auch Simone de Beauvoir, Raymond Queneau, Boris Vian, Hannah Arendt, Maurice Merleau-Ponty und andere dürfen ins Café. (Wobei Husserl mit seiner Flucht beschäftigt ist und Heidegger nicht aus seiner Schwarzwaldhütte tritt.) Mit Bakewell lassen sich die Denkrichtungen durch die 1940er und 1950er Jahre verfolgen, ich lese eine anschaulicheEinführung in den Existentialismus und versteh’ ein bisschen mehr. Was mir aber fremd bleiben wird, ist die „magische Anziehungskraft” Heideggers auf Frauen und Studenten und spätere Philosophen. “Wenn wir von unserer Natur her zeitliche Wesen sind, bedeutet eine
authentische Existenz zuallererst, dass wir unsere Endlichkeit und Sterblichkeit akzeptieren. Wir werden sterben. Diese überaus wichtige Erkenntnis nennt Heidegger das authentische «Sein zum Tode».“ Es ist für seine Philosophie grundlegend.“ Kann diese ‘Erkenntnis’ jemals verborgen gewesen sein? Sartre verstand Heidegger nicht, auch sonst niemand verstand ihn, auch Husserl, sein Lehrer, verstand ihn icht.
Als er jedoch Heidegger freundschaftlich erzählte, er sei oft genug gewarnt worden, Heideggers Phänomenologie sei etwas völlig anderes als die seine, lachte der nur und sagte: «Unsinn!»
Privat jedoch äußerte sich Heidegger durchaus abschätzig über Husserls Philosophie. Noch als sein Mentor ihm überschwänglich lobende Empfehlungsbriefe schrieb, sagte er über ihn: «Huss. war nie auch nur eine Sekunde seines Lebens Philosoph. Er wird immer lächerlicher.»“
2016 350 Seiten
der Freitag: Das Buch der Woche
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Elisabeth Wehling: Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht (2016)
Im ersten Teil gibt Elisabeth Wehling ihr Wissen über Mechanismen des sprach- und begriffgeleiteten Denkens weiter, erklärt die zugehörigen Begriffe und stellt das Instrumentarium für die Analyse der oft/weitgehend unbemerkten (Selbst-)Manipulationen des Denkens und – folgend – politischen Handelns bereit. Der Leser fühlt sich, als wäre er bei Wehling im Seminar, er wird bei der Hand genommen, direkt angesprochen und mit der Nase auf die grundständigen Prozesse gestoßen. „Kann ja jeder behaupten, sagen Sie vielleicht. Zu Recht. Ich trete also kurz die Beweisführung an. Lesen Sie einmal.” (Den Begriff „Hebbian Learning“ habe ich nicht gekannt: „Auch sprachliche Erfahrung verändert also unser Gehirn im Zuge des Hebbian Learning. je öfter wir Worte oder Sätze hören, die bestimmte Ideen miteinander assoziieren, desto selbstverständlicher wird diese Assoziation Teil unseres alltäglichen Denkens und formt langfristig unsere Wahrnehmung.”) Sie kennt Beispiele ohne Ende, als Skeptiker bezüglich der Studien zur psychologischen Verhaltensökonomie (Daniel Kahnemann) halte ich manche gezogenen Zusammenhänge für recht gewagt.
In einem Experiment an der Princeton-Universität haben Forscher kürzlich folgenden Versuch gemacht: Man ließ Probanden sich entweder nach rechts oder links bewegen – zum Beispiel, indem man den Stuhl auf dem sie saßen, so manipulierte, dass er sich leicht nach rechts oder links neigte. Dann ließ man sie eine politische Meinungsumfrage ausfüllen. Und tatsächlich: Diejenigen Probanden, die nach rechts gelehnt saßen, rutschten auch in ihren politischen Positionen signifikant >nach rechts<, also hin zum Konservativen; und jene, die nach links gelehnt saßen, rutschten auch politisch signifikant >nach links<, also hin zum Progressiven (OPPENHEIMER/TRAIL 2010).
Der zweite Teil des Buches ist die Anwendung. Wehling erläutert an Beispielen aus dem politischen Denken (Reden, Schreiben) die Wirkmächtigkeit des Framing. Sie behandelt Themen wie: Steuern, Sozialstaat, Arbeit, Abtreibung, vieles davon kennt man schon, manche Thesen wirken etwas dezidiert. Aktueller, wenn auch nicht ganz neu, sind Kapitel zu „Islam und Terrorismus“ sowie „Zuwanderung und Asyl“. Viele ihrer Beispiele stammen aus den letzten Jahren und thematisieren Wertungen durch begriffliche Metaphorik (Die Nation als „Schiff/Boot“, die „Phobie“ beim Denken an den Islam, etc.). Was mir fehlt, sind Analysen, die eine ganze Textstruktur betreffen und nicht bloße Aneinanderreihungen von Schlagwörtern sind. Framing geht ja wohl über die Metaphorik hinaus.
Eine Zusammenschau in angenehm kurzen Kapiteln, als Abriss etwas über Wert verkauft.
TEIL EINS – DEMOKRATIE IM GEHIRN:
DIE SPRACHLICHEN SOCKEL POLITISCHEN DENKENS UND HANDELNS
als pdf der Bundeszentrale für politische Bildung
Interview mit Elisabeth Wehling in der ZEIT vom März 2016
Elisabeth Wehling ist beliebter Gast im Fernsehen (youtube-Übersicht)
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Carlo Strenger: Abenteuer Freiheit.
Ein Wegweiser für unsichere Zeiten
2017
In der „westlichen Kultur“ ist der „autonome Mensch, der keinen vorgegebenen Identitäten verpfichtet“ ist, das Ideal des „freien „ Menschen, wobei diese Freiheit auch Überforderungen und Ängste zeitigt. “Die größte Leistung der westlichen Moderne besteht darin, es den Individuen ermöglicht zu haben, ihr Leben frei nach bestem Wissen und Gewissen zu gestalten, und ihnen ein breites Spektrum von Lebensformen und -stilen zur Verfügung zu stellen.”
Die freiheitliche Ordnung des Westens “ist dadurch definiert, dass sie die Frage nach dem Großen Sinn ins Private verlagert hat. In einer freiheitlichen Ordnung kann und darf keine Institution, keine Gruppe und kein Einzelner ein Monopol auf diesen Sinn beanspruchen, jede Ausübung von Zwang in Glaubensfragen gilt als Verletzung unseres Grundrechts auf persönliche Freiheit. Aus existenzialpsychologischer Sicht ist diese Freiheit einerseits eine Errungenschaft, andererseits stellt sie eine Last dar. Anders als zu den Zeiten unserer Vorfahren ist es heute nicht länger möglich, irgendein Sinnsystem als selbstverständliche Gegebenheit zu akzeptieren. Das bedeutet zugleich, dass es die für die bestehenden Systeme, vor allem die Religionen, immer schwieriger wird, ihre ursprüngliche Schutzfunktion auszuüben.”
Mit Sigmund Freud insistiert er darauf, dass “wirkliche Freiheit bestenfalls eine Errungenschaft” sei, die nur “durch harte Arbeit erworben werden könne. Gemäß dieser Auffassung sind persönliche und politische Freiheit überaus komplexe kulturelle Schöpfungen, die an die Mitglieder freier Gesellschaften hohe Ansprüche stellen. Die Dynamik des Erwachsenwerdens besteht darin, dass wir für uns selbst immer mehr Verantwortung übernehmen müssen.” “Kulturkritiker” wie Michel Houellebecq, Benjamin Barber, Alain Finkielkraut oder John Gray würden nicht verstehen, “dass es ein schwerwiegender, fast metaphysischer Fehler ist zu glauben, es gebe für alle Probleme eine technische Lösung und alle Schwierigkeiten könnten letztlich von irgendeiner Instanz beseitigt werden. Menschen mit einer solchen Mentalität weigern sich, die tragische Dimension unserer Existenz zu akzeptieren. Sie wollen sich nicht eingestehen, dass das menschliche Dasein wesentlich von nicht lösbaren Konflikten und Spannungen geprägt ist.” Bloßer Konsumismus oder die Erwartung staatlicher Fürsorge seien kein Ersatz für die individuelle Anstrengung, die Disziplin, Freiheit zu erarbeiten.
Carlo Strenger ist Psychologe und beruft sich bei seinen Thesen auf den Fundus seiner Arbeit und Forschung, im zweiten Teil befasst er sich mit der modernistischen Kunst, der Freiheitsvorstellung im Existenzialismus, zieht auch Beispiele aus dem – nicht mehr ganz neuen – Film heran. Weder seine Thesen noch seine Beispiele sind neu, doch arbeitet er Strukturen heraus, die auch zur Erklärung von religiösem Fundamentalismus oder der Angst vor Fremden herangezogen werden können.
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Stephan Rammler:
Volk ohne Wagen.
Streitschrift für eine neue Mobilität
2017
Stephan Rammler ist Professor für Transportation Design & Social Sciences und kennt sich als solcher aus mit Fragen des Verkehrs. Es geht ihm nicht nur um veränderte Antriebsformen (Elektroauto), sondern um grundlegende Probleme der (Auto)Mobilität und eine “zukunftsfähige Automobilpolitik”. Behandelt werden Themen wie fossile und erneuerbare Energieversorgung, Vernetzung verschiedener Arten der Mobilität, Digitalisierung, Abgase, Parkraum, Car-sharing und manches mehr. Der Nutzen der “Streitschrift” liegt in der umfassenden Themenverbindung und den Gedanken zu Perspektiven einer Mobilität, die weggeht vom privatgenutzten Automobil.
Stephan Rammler ist Professor für Transportation Design & Social Sciences und schreibt auch so. Dass Fachbegriffe nötig sind, seht außer Frage, Rammler aber schwelgt in ihnen, was zusammen mit einem wenig reflektierten Satzbau zum Drüberweglesen verführt. Der Aufbau scheint in der Inhaltsangabe logisch und systematisch, in der Darstellung ergeben sich aber kaum zu ertragende Redundanzen. Mag sein, dass dies in seiner Zunft übliches Publizieren ist, für den interessierten Laien mindert es den Nutzen erheblich. “Für eine Streitschrift aber bleiben Rammlers Darstellungen zu abstrakt und zu sehr verhaftet in der Sprache der verwalteten Welt. Pauschale Behauptungen werden ohne differenzierende Belege ebenso wiederholt wie Stereotype, wie sie tagtäglich in politischen Statements kursieren. Ein ums andere Mal wird die gute Absicht in einem abstrakten, über den Problemen schwebenden soziologischen Jargon begraben, ob vom „Ressourcenkuchen, der gleich bleibt“, von einer Politik „für die Politikbetroffenen“ oder einem „Minimalanforderungsprofil“ die Rede ist.“ (Thomas Wagner, stylepark) Ich finde zu wenig konkrete Informationen, mit denen sich argumentieren ließe. Ulkig ist, dass Rammler sich nicht für seinen Kreisverkehr-Stil entschuldigt, sondern für „nüchterne politikprogrammatische Textexegese” in einem Abschnitt. (Auch hier erfüllt er seine Ankündigung nicht.)
Insofern die unterschiedlichen Innovationskorridore der Digitalisierung der Mobilität alle im weitesten Sinne zu einer Effizienzsteigerung der Nutzung einzelner Produkte führen bzw. auf eine gesamtsystemische Effizienzsteigerung abzielen und damit eine enorme Technologierendite versprechen, ist das Thema der Reboundeffekte gerade hier unbedingt mit im Blick zu behalten, vor allem wenn man mit dem Einsatz digitaler Technologien auf eine ökologische Gesamtoptimierung abzielt. Als eine direkte Schlussfolgerung ergibt sich aus den digitalen Rebounds, dass digital unterstützte verkehrssystemische Innovationen mit ökologischem Anspruch immer im Gesamtkontext komplementärer Handlungsansätze zu betreiben sind. Einer etwaigen Optimierung des urbanen Verkehrsflusses für den fließenden und ruhenden Verkehr durch verkehrstelematische Lenkung digital vernetzter, womöglich sogar autonomer Autoflotten stünde in dieser Denkweise dann also die Notwendigkeit eines Handlungsansatzes gegenüber, der die weiteren, dadurch möglichen Wachstumsprozesse der Automobilität durch geeignete fiskal- oder ordnungspolitische Instrumente auf ein gewünschtes Niveau reguliert. Damit ist nun auch die Möglichkeit generalisierter, gesamtgesellschaftlicher Reboundeffekte der Digitalisierung angesprochen. Hier kann vielleicht eine Metapher dem Verständnis weiterhelfen, die den funktional hochdifferenzierten und deswegen strukturell auf ein hohes Maß an integrationsleistender Mobilität angewiesenen »Organismus der Gesellschaft« mit allen seinen Straßen, Leitungen und Austauschprozessen gleichsetzt mit dem biologischen Organismus, seinen Blutbahnen, Nervenleitungen und Schaltzentralen. Zu befürchten ist nun, dass die Digitalisierung auf den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gesamtorganismus so wirken könnte, wie viele Liter koffeinhaltige Getränke oder aufputschende Drogen auf den menschlichen Organismus wirken würden: Es kommt zu einer enormen Beschleunigung und Dynamisierung aller körperlich-metabolischen bzw. gesellschaftlichen Vorgänge, zu eher kurzfristigen Steigerungseffekten – und eben nicht zu nachhaltig-dauerhaften Entwicklungen -, mit allen damit verbundenen Effekten eines gesteigerten Ressourcendurchsatzes, Flächenverbrauches, Zerstörung sozialer Strukturen und Institutionen etc. vorgeschlagen – allein durch eine am Effizienzzuwachs orientierte allgemeine Verbrauchsbesteuerung von Energie und Ressourcen ausgeglichen werden.
Auf die pointierte “Streitschrift” muss man weiter warten.
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Philipp Blom:
Was auf dem Spiel steht
2017
Wenn Historiker über die Gegenwart schreiben, kann man meist beruhigt weiterleben. Sie wissen, dass alles schon einmal da war und sie verstehen es, das Jetzt in die Geschichte einzuordnen. – “Demokratie und Menschenrechte sind nicht die Norm und keine logische Folge des Fortschritts. Sie sind eine junge und seltene historische Ausnahme, vielleicht nur eine Episode.” Philipp Blom weiß in seinem neuen Buch, „Was auf dem Spiel steht“ und er gibt auch schon auf der Rückseite die Antwort: „Alles steht auf dem Spiel!“
Katastrophismus? Ja, aber psycho-sozial-historisch abgeleitet. Die Menschen und ihre Geschichte sind – wieder einmal – an eine „globale Zäsur“ geraten. „Geben wir es zu: Wachstum durch Ausbeutung, das Geschäftsmodell der westlichen Gesellschaften, ist bankrott.” „Wir leben in reaktionären Zeiten, weil viele begriffen haben, dass das gegenwärtige Geschäftsmodell des Westens über kurz oder lang katastrophale Konsequenzen haben wird und bereits hat.”
Ein wesentliches Problem ist, dass die Digitalisierung (wie auch der Klimawandel) schneller voranschreitet, als Gesellschaften sinnvoll darauf reagieren können. Der Niedergang der linken Parteien ist ein Indiz für die Schwierigkeit von Gesellschaften, ihre eigene Struktur und vielleicht auch ihre Ideen an neue, technologisch geschaffene Realitäten anzupassen. Ein Grund dafür ist auch, dass Ideen und gesellschaftliche Einstellungen nicht so einfach auswechselbar oder aktualisierbar sind wie Software. Ideen leben und sterben mit den Generationen, in denen sie geboren werden. Wenn der technologische Wandel schneller ist als der Generationenwechsel, entsteht notwendigerweise eine gewisse Verwerfung.
Das sind historische Linien, die Blom zieht, das sind Gedanken an die Krise und an das Ende der Aufklärung, das sind Ängste um die Bewahrung der Demokratie und des Lebens.
Was passiert in einer Demokratie, wenn zu viele Leute einfach keinen Bock haben auf Veränderung? Was passiert, wenn zu wenig Zeit bleibt, um sie umzustimmen?
Was passiert, wenn Gesellschaften, die Zukunft vermeiden wollen, die nur wollen, dass die Gegenwart nie aufhört, und deren politische Allianzen auf Statuserhalt ausgerichtet sind, auf die mächtigste Stromschnelle der Geschichte treffen?
Blom sieht zwei Alternativen:
Wenn die liberale Demokratie in den Augen so vieler so dramatisch versagt und so offensichtlich immer weniger imstande ist, die fundamentalen Versprechen des Gesellschaftsvertrags einzuhalten, dann ist es verständlich, dass sich die Menschen nach Alternativen umsehen, die ihnen eher geeignet erscheinen, ihre Interessen zu wahren, und die auch ihrem Selbstbild stärker entsprechen. So hat sich die Zukunft der reichen Welt in einen liberalen und einen autoritären Traum aufgespalten, die beide nicht notwendigerweise demokratisch sind oder Menschenrechte respektieren. Ich nenne diese beiden Träume den Markt und die Festung.
Hinter diesen Bildern stehen keine Ideologien, sondern Haltungen zur Welt, die eine geprägt von einer grundsätzlichen Offenheit (für wen, bleibt zu fragen), die andere vom drängenden Verlangen nach Sicherheit. Längst hat sich gezeigt, dass diese Haltungen das politische System der Nachkriegszeit innerhalb von wenigen Jahren von der Landkarte gewischt haben. Rechts und links, konservativ und progressiv, religiös und säkular – diese Begriffe treffen nur noch unvollständig zu auf die ideologischen Allianzen und Familienähnlichkeiten zwischen unterschiedlichen Formen von Populismus, die sich als das stärkste Idiom der gesellschaftlichen Umbrüche der unmittelbaren Zukunft etablieren.
Politische Debatten und Entscheidungen, aber auch Kämpfe und politische Gewalt geschehen entlang dieser Grenze zwischen dem liberalen und dem autoritären Traum, zwischen dem Markt und der Festung. Arbeitslosigkeit und soziale Hoffnungslosigkeit durch Digitalisierung, völkischer Nationalismus als Rebellion gegen intensivierte Migration im Zuge des Klimawandels und globale Finanzmärkte, deren nächste Krise nur eine Frage der Zeit zu sein scheint, werden eine große, vielleicht sogar zu große Herausforderung für liberale Demokratien und die Durchsetzung von Menschenrechten darstellen.
Blom hat keine Lösung und wenig Hoffnung. Stattdessen erzählt er das Märchen von der “Zahnfee der Geschichte”.
Kein Buch zur Wahl, aber vor der Wahl verkauft es sich wohl besser. Das Buch geht weit über den medial-inszenierten zappelig-behäbigen Wahlkampf hinaus. Es zeigt nichts unbedingt Neues, zieht aber einen Strukturrahmen und ist so historisch wie sozial wie anthropologisch interessant. Man liest es so schnell wie Blom schreibt.
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Joachim Radkau:
Geschichte der Zukunft.
Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute
2016
Joachim Radkau hat vieles, wenn nicht alles gelesen, was an relevanten Texten zum Fortschreiten der Bundesrepublik veröffentlicht wurde. Er erspart einem, das alles selbst zu finden und zu lesen, er musste wohl lauch sehr vieles weglassen – und dennoch droht die Fülle des Materials zu erschlagen.
Radkau versucht einerseits, seine Informationen in eine Chronologie zu bringen „von 1945 bis heute“ (2016), doch lässt sich diese Methode nicht strikt durchhalten, ohne bestimmte Komplexe immer wieder aufzugreifen. Also bildet er auch thematische Knotenpunkte, vor allem bei Energie- (Atom) und Umweltpolitik. Beides zweifellos wichtig, andere zentrale Aspekte wie Gestaltung von Arbeit (Automation) oder Bildung greift Radkau auf, verfolgt sie aber nur am Rande weiter. Themen wie Globalisierung oder Migration werden vernachlässigt. Kapitel wie das über Reisen („Reale und virtuelle Träume der Zukunft“) sind durchaus interessant, ihr Stellenwert im Buch erschließt sich eher über persönliche Forschungsprojekte des Autors.
Radkau wollte sein Buch ursprünglich „Im Zickzack der Zukünfte“ nennen. Ungenauigkeit und Wechsel- und Sprunghaftigkeit der Prognosen ist eigentliche Bilanz und Erkenntnis Radkaus. Vorhersagen gehorchen zu oft „Himmel-Hölle-Szenarien“, protegieren Ideologien und/oder Interessen (Georg Picht > Bildungskatastrophe / Roman Herzog > Ruck /@Bertelsmann) oder beschwören Katastrophen, nicht zuletzt ein Mittel der (Selbst-)Vermarktung der Weissager.
Allzu oft liegen Vorhersage und Zufall nahe beieinander („Zufalls-, nicht Zukunftsforscher, was jedoch auf das Gleiche hinausläuft!“), da Entwicklungen unvorhersehbar oder unerwartet rasch eintreten und die ganze Zukunft über den Haufen werfen (Fotovoltaik, Informationstechnologie, aber auch die Marktreife der Antibabypille, die Vorhersagen über die Demografie obsolet machte), oft bringen auch Katastophen einen Bruch (Tschernobyl, Fukushima). Wichtig für die Wirksamkeit von Zukunftsgedanken ist immer ihre Verbindung mit Denkströmungen.
Überprüfbar sind Radkaus Thesen und Schlussfolgerungen kaum. Es wäre schön gewesen, Radkau hätte seine Materialfülle noch prägnanter strukturiert, hätte neue rote Fäden eingezogen, hätte dafür manches als redundant zurückgehalten. Schön wäre es auch gewesen, Autor/Verlag hätten Leerzeilen spendiert und Kapitelüberschriften kenntlicher gemacht. Ein in Darstellung und Aufmachung eher altmodisch wirkendes Buch, das zu wenig auf Lesefreudigkeit setzt.Daran ändern auch die raren Schwarzweißbildchen nichts.
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