David Grossman:
Kommt ein Pferd in die Bar
Dovele Grinstein wird als Kind zum Affen gemacht und er macht mit, um überleben zu können, und er läuft auf den Händen, da können sie hm nichts tun, und er will doch nur sein: ein Mensch. Seine kindlichen Späße sollen auch das Holocaust-Trauma seiner Mutter lindern, die nie mehr richtig ins Leben gefunden hat.
Ich hab mein Leben lang versucht, sie zum Lachen zu bringen.(…) Ich hab gesehen, wie begeistert meine Mutter war, und die Beine nochmal hochgeworfen, ich bin ein bisschen herumgewankt, hingefallen, hab nochmal die Beine hochgeworfen, und sie hat gelacht. Ich habe sie richtig lachen gehört! Dann hab ich es nochmal und nochmal versucht, und irgendwann hatte ich meinen inneren Punkt gefunden, jetzt hatte ich’s raus. (…) Die Sache hatte noch einen Vorteil: Wenn ich auf den Händen lief, hat keiner mehr auf sie geachtet, kapiert ihr? Da konnte sie mit ihren Gummistiefeln rumlaufen, so lange sie wollte, mit gesenktem Kopf, das Kopftuch tief ins Gesicht gezogen, plötzlich hat keiner sie mehr schief angeguckt. Das war nämlich sonst immer ihr Gefühl. (…) Und da konnte ich mich entspannen, da ging es mir gut. Ich hab mein Blut in den Ohren gehört, aber sonst war da nur Ruhe, Ruhe von allem, und plötzlich wusste ich: Ich hatte einen Ort auf der Welt gefunden, wo niemand war außer mir.
Als Erwachsener ist Dovele Grinstein Komödiant geworden, comedian, Witz-Erzähler. „Kommt ein Pferd in die Bar …“ David Grossman erzählt akribisch einen Auftritt Doveles, der an diesem Abend seinen 57. Geburtstag hat. Er hat einen Jugendfreund gebeten, speziell aus diesem Anlass die Vorstellung zu besuchen. Grossman setzt den pensionierten Richter als Erzähler ein, der an aber nicht nur Beobachter ist, sondern zum Beteiligten an Doveles Lebensgeschichte wird.
Er ist pausenlos in Bewegung. Alle paar Minuten stößt er beim Reden eine geballte Faust in die Luft, täuscht an wie ein Boxer, der seinem Gegner auszuweichen versucht, das Publikum amüsiert sich blendend, und er hält sich eine Hand über die Augen und sucht den Saal ab, der schon fast im Dunkel liegt.
Er sucht mich. (…) Der Lärm und das Geschrei werden lauter. Inzwischen macht fast der ganze Saal mit. Die Lust, sich zu prügeln, ist beinah mit Händen greifbar. Und er steht noch immer reglos da und schaut mich an. Er braucht mich.
Im Publikum sitzt auch „eine sehr kleine Frau, die früher Doveles Nachbarin war. Auch an ihr arbeitet er sich ab, beleidigt sie, weil er das Bloßstellen gewohnt ist, auch weil es Lacher einbringt. Dovele gibt auf der Bühne alles, denn es geht um sein Leben. Er kämpft mit sich, auch physisch, er ist stets in ruheloser Bewegung. Er muss sein Leben erzählen, sein Leben, das ohne Shoah nicht denkbar ist, und er muss das Publikum binden, das nur Witze hören will und nicht weiß, in welche Situation es da geraten ist. Dovele fordert sich eine Kraftleistung ab, holt alles aus sich heraus, verausgabt sich total. „Für ihn ist das hier kein Spiel.” Der Richter zeichnet alles im Detail auf, hineingezogen in diese verzeifelte Bühnen-Schau.
Dovele selbst geht ab wie eine Rakete, er sieht aus wie komplett durchgedreht, wedelt mit Händen und Füßen, und das ganze Publikum wird gepackt von den Wogen des Gelächters und geht in ihnen unter. Diesem Ausbruch von Wahnsinn kann man sich nicht entziehen, um mich herum sind sechzig oder siebzig Menschen, Männer, Frauen, junge, alte, und sie alle haben knisternde Giftbonbons im Mund. Es beginnt mit verlegenem Brummen, mit Blicken zur Seite, doch nach und nach springt der Funke über, vom Schreien schwillt ihnen der Hals, und einen Moment später hängen sie schon in der Luft, Ballons einer dumpfen Freiheit; der Schwerkraft entledigt, haben sie einen Weg gefunden, sich dem einzigen Lager anzuschließen, das garantiert immer die Oberhand behält: Applaus für den Tod! Jetzt schreien fast alle Anwesenden im Saal, klatschen rhythmisch, und auch ich mache mit, zumindest im Stillen, heimlich. Warum nicht offen? Warum kann ich nicht offen mitmachen? Warum nicht einen Moment lang Urlaub nehmen von mir, von dem Zyanidgesicht, das ich in den letzten Jahren entwickelt habe, Urlaub von den ständig entzündeten Augen wegen der vielen ungeweinten Tränen? Warum nicht auch auf einen Stuhl springen, ganz außer mir, und mitschreien: App-laus-für-den-Tod!
Als Leser merke ich erst nach und nach,was gespielt wird, was auf dem Spiel steht. Vieles hab ich da schon überlesen, nicht verstanden, nicht richtig eingeordnet. Lange hab ich Dovele für einen Schauspieler gehalten, einen Hampelmann, der einerseits virtuos mit den Gefühlen der Zuschauer spielt, der zum anderen aber nach und nach sein Publikum verliert, die Vorstellung entgleist, bis nur noch der Richter und die sehr kleine Frau bleiben – und der Leser. Die Atmosphäre ist bedrückend.
Was den Roman besonders macht, ist die Konfrontation der Perspektiven. Die brüllende Not Doveles spiegelt sich in den Gedanken des Richters, der sich gefragt fühlt, wieweit er in das Schicksal Doveles hineingezogen ist. Gleichzeitig wird sich der Leserfragen, ob der Erzähler ein objektiver Beobachter sein kann, auch wenn er sich bemüht, Doveles Kapriolen nicht zu werten. Dovele erscheint nicht als sympathischer Mensch, man lässt ihn gewähren, weil man ihn als “Behinderten” empfindet, als Opfer, auch der Geschichte, auch der Shoah. Weshalb mutet er seinem auf Unterhaltung eingestellten Publikum die menschliche Katastrophe zu?
“Kommt ein Pferd in die Bar” ist auch und nicht zuletzt ein Roman aus Israel. Manche, viele der Anspielungen und Hintergründe gehen an mir als deutschem Leser aber vorbei. Ich empfinde die lange und detailliert geschilderte Autofahrt vom Jugendlager in der Wüste zur Beerdigung seiner Mutter als recht lang, die Enthüllung der gestorbenen Person wird zerdehnt, auch wenn die Qualen für den jungen Dovele real waren. Auch wenn der Richter sich angesichts seines Verhaltens Vorwürfe macht. Der Roman mutet dem Leser als Publikum zu, sich vom derben Klamauk in das Grauen des Überlebens ziehen zu lassen. Dovele ist hebräisch und heißt “kleiner Bär”.
Ich hatte mir den Teller vollgepackt und konzentrierte den Blick darauf. Trotzdem bekam ich mit, wie seine Klassenkameraden einen ganzen Streuer Salz in seine Suppe kippten, doch er schlürfte fröhlich weiter, und sie kugelten sich vor Lachen. Dann riss ihm jemand die Schirmmütze vom Kopf, sie flog vom einen Ende des Tisches zum andern, immer wieder, hin und her, ab und zu fiel sie in einen Teller, schließlich landete sie wieder auf seinem Kopf, tropfnass. Er streckte die Zunge raus und fing die Tropfen auf. Er johlte und schnitt Fratzen, aber zwischendurch glitt sein Blick leer und ausdruckslos über mein Gesicht.
Nach dem Essen stopften sie ihm eine halbe Banane in den Mund, und sofort kratzte er sich die Rippen und stieß Affenschreie aus, bis unser Abteilungskommandeur ihn anherrschte, den Mund zu halten und ruhig dazusitzen.
Abends nach dem Lichterlöschen, als wir in den Betten lagen, drängten ihn die anderen Jungen aus seiner Klasse zu erzählen, was er so von einer schon ziemlich gut entwickelten Klassenkameradin träumte. Er tat es, und nahm Wörter in den Mund, von denen ich nicht gedacht hätte, dass er sie kannte. Doch es war seine Stimme, sein Erzählfluss, seine reiche und wilde Phantasie. Ich lag reglos da, fast ohne zu atmen, ich war mir sicher, wenn er nicht hier im Zelt wäre, würden sie über mich herfallen.
Irgendwann lief ein Junge aus seiner Klasse zwischen den Bettenreihen hin und her und ahmte die Stimme von Doveles Vater nach, und ein anderer kam ihm entgegen, der vermutlich Doveles Mutter imitierte. Ich zog mir die Militärdecke über den Kopf. Die Jungen lachten, und Dovele lachte mit ihnen.
David Grossman erhielt für den Roman den Internationalen Man Booker Preis 2017.
2014 250 Seiten
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