Nachrichten vom Höllenhund


Der Fall Meursault
10. Oktober 2017, 15:37
Filed under: Theater

Der Fall Meursault
Nach dem Roman von Kamel Daoud
Inszenierung: Amir Reza Koohestani

Meursault ist ein indolenter Franzose, der in der französichen Kolonie Algerien lebt, Zeit: 1930er Jahre. Vielleicht aus Gleichgültigkeit, aus angenommenem Überdruss erschießt er am Strand einen jungen Algerier. Ein acte gratuit, eine „Gratistat“? Die Tat ist entscheidend, nicht die Person oder die Nationalität des Opfers. Albert Camus lässt Meursault erzählen, über den Mord und über die Gerichtsverhandlung. 1942 erschien sein Roman „Der Fremde“. Er wurde viel gelesen, als existenzialistisch kategorisert nach Camus’ „Versuch über das Absurde“ („Der Mythos von Sysyphos“). 1957 erhielt Camus für sein Werk den Nobelpreis für Literatur. Das Mord-Opfer spielte in alldem keine Rolle, in Camus’ Erzählung hatte er nur „der Araber“ geheißen.

2014 veröffentlichte der algerische Schriftsteller Kamel Daoud einen „Kontrapunkt“ zu Camus’ Erzählung, eine Gegendarstellung, diesmal von „rechts nach links“ erzählt.

Das Mordopfer sollte endlich einen Namen haben, er soll sein Schicksal, seine Würde, seine Existenz zurückerhalten – und er hat eine Familie, wichtig nicht nur in der Kultur des Islam. Durch Daoud wurde er zu Moussa, auch zum Algerier, wohl auch zum Bewohner des globalen Südens. Der Roman wurde wurde viel besprochen. Nicht wegen meurs1des Romans, sondern wegen des Bezugspunkts Camus. Kolonial-Mentalität, gestern und heute.

Daoud zeigt, dass die Familie nicht mit der Mordtat leben kann. Der Erzähler ist meist ein jüngerer Bruder Moussas, er tritt in verschiedenen Lebensaltern auf, steht als wortloser Junge, als enragierter junger Mann gleichzeitig auf der Bühne, am eindringlichsten als Alter, gesprochen von Walter Hess in direktem Kontakt mit dem Publikum. In den Kammerspielen steht am Anfang des Widerpruchs eine existenzialistische Abrechnung mit dem Glauben. Man hört nur die Stimme vonWalter Hess, allein sein Kopf schaut aus dem Boden, man ist in Algerien, wie in Camus’ Erzählung.

meurs3Moussas Leiche wurde beseitigt, in der Anfangsszene ziehen sie die schweren Säcke über die Teppiche der Bühne, man kann ihn nicht beerdigen, auch wenn man in den Sand, der aus den Säcken rieselt, später tiefe Löcher gräbt,. Solange man den Toten nicht im Grab weiß, findet man keinen Frieden in sich. Besonders die Mutter trauert exzessiv um ihren Sohn. Sie läuft mit dem Bild ihres toten Sohnes ziellos umher und beklagt das Schicksal: mehr aber ihres als das des Toten. In einer ulkigen Szene lädt sie die Klage bei einer irritierten Touristin ab, die aber kein Arabisch versteht und von der Aufdringlichkeit genervt ist und rassistische Sprüche ablässt. Als Zuschauer fühlt man sich ertappt, ähnlich zu reagieren, keinen Sinn für die Trauerkultur-Rituale des fremden Landes zu besitzen. Mahin Sadri – Koohestanis Frau – ist die Rächerin im schwarzen Tschador, ihre Anklagen (in Farsi!), überholen fast die Übersetzung.

Schließlich kommt es zur gespiegelten Situation: Haroun erschießt ohne tieferen Sinn meurs4einen Franzosen, seinen Mörder Meursault (Gun­dars Äbolins). Auch diese Tat ist absurd, die Kugel braucht ihre Zeit, um das Opfer zu treffen, man spielt damit, ihr noch ein Schnippchen zu schlagen. Der in Bulgarien geborene Österreicher Samouil Stoyanov (geb. 1989) liefert einen Algerier mit österreichisch-balkanischer Wurschtigkeit, irgendwie nett in seiner Verlorenheit. Das Stück wurzelt global, mit internationalen Darstellern und als „multiperspektivisches Sprachpanorama“. (Programm) Das ist inzwischen Programm an den Kammerspielen.

Daouds Buch (Leseprobe Perlentaucher Kritikenumschau) wurde recht unterschiedlich rezipiert. Es sei ein „Glücksfall“, eine „literarische Sensation“, „ein Meiserwerk“ (Lena Bopp, FAZ)jetzt schon „ein Klassiker“. Es erschöpfe sich in „ziellosem Monologisieren“ (Tobias Lehmkuhl, SZ), sei allenfalls „politisch korrekt“ (Tilman Krause, Welt – Iris Radisch, ZEIT)

Koohestani entwickelt aus den Gedanken des Romans eine Szenenfolge mit schönen Bildern, die auf der Bühne produziert und auf die Bühne projiziert werden. Die Palaver auf den ausgebreiteten Orientteppichen im Schein der großleuchtenden Sonnenscheibe, angeblich hat sie Meursault bei seiner Tat geblendet, – es kann auch der Mond sein – , die ruckeligen Laubwedel auf dem Gazevorhang, das in den Strand geschaufelte „Grab“, aus dem Meursault Sand in die Luft schleudert wie die Drescher Weizen und Spreu. Man hat Zeit zuzuschauen und seine Gedanken nach Gewissheiten suchen zu lassen.

„Koohestani sucht allgemeine Prinzipien von Unterdrückung, Wiederaneignung und Selbstbehauptung darzustellen.“ (Programm) „Um Schuld geht es Koohestani nicht, nur um das Begreifen.“ meurs5(Bernd Noack, SPIEGEL) – Beides halte ich für zu abstrakt. Koohestani erzählt die Geschichte einer Familie, die keine Geschichte hat. Er erzählt vom Trauern, das oft im Ritual erstarrt, das keine eigenen Antworten findet und nur zu weiterem Töten führt, er erzählt von der Absurdität der menschlichen Leiden und Leidenschaften, die den fixierenden Glauben abgelöst haben. Und er ist offen für nachdenklichen Humor. Und eine kleine, rührende, aussichtslose Liebesgeschichte. Ein angenehmer Theaterabend.

Die Publikumsbeteiligung war mit geschätzten 75% nicht gerade hoch, applaudiert wurde aber stark und mit Freude. Ich habe Kamel Daouds Roman nicht und Camus’ „Der Fremde“ vielleicht vor langer Zeit gelesen.

Münchner Kammerspiele – Aufführung am 6. Oktober 2017


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