Leïla Slimani: Dann schlaf auch du
»Verstehen Sie das, verstehen Sie das, sehr verehrter Herr,was das heißt, wenn man nirgends mehr hingehen kann?«»Denn jeder Mensch muss doch irgendwo hingehen können…«
FJODOR M. DOSTOJEWSKI Verbrechen und Strafe
Louise erobert sich neues Land, Feindesland. So klein sie ist, so breit macht sie sich in der arrivierten Familie, so perfekt organisert sie ihre geliehene Welt, dass sie nicht übersehen werden kann. Sie übernimmt Kinder, Küche, Haushalt: die Supernanny, Nounou, “eine Fee”.
In den Wochen nach ihrer Ankunft verwandelt Louise die unordentliche Wohnung in ein mustergültiges bürgerliches Zuhause. Ihre altmodische Art und ihr Perfektionismus setzen sich durch. (…) Sie bessert Rock- und Hosensäume aus, flickt Milas Kleider, die Myriam schon ohne Bedauern wegschmeißen wollte. Louise wäscht die von Tabak und Staub vergilbten Vorhänge. Jede Woche bezieht sie die Betten frisch. Paul und Myriam freuen sich. Paul sagt zu Louise mit einem Lächeln, sie erinnere ihn an Mary Poppins. Er ist sich nicht sicher, ob sie das Kompliment versteht.
Nachts, gemütlich zwischen die sauberen Laken gekuschelt, lacht das Paar ungläubig über dieses neue Leben, das jetzt ihres ist. Sie haben das Gefühl, einen seltenen Schatz gefunden zu haben, sie fühlen sich vom Glück begünstigt. (…) Wenn Myriam abends nach Hause kommt, steht das Essen fertig auf dem Tisch. Die Kinder sind friedlich und gekämmt. Louise weckt und erfüllt die Wunschträume der idealen Familie, die Myriam selbst sich nur ungern eingesteht. Sie bringt Mila bei, ihre Sachen wegzuräumen, und die Kleine hängt unter den verblüfften Blicken der Eltern ihren Mantel auf. (…) »Louises Abendessen« werden zu einer Tradition, einem bei allen Freunden von Paul und Myriam beliebten Anlass. (…) Sie hat die stille Wohnung ganz in ihrer Gewalt, wie einen Feind, der um Gnade bittet.
Wenn sie nicht immer wieder zurück müsste in ihre einsame Kümmerlichkeit. „Egal wie energisch sie die Scheiben alle paar Tage putzt, sie kommen ihr immer trüb vor, bedeckt von Staub und schwarzen Schlieren. Manchmal möchte sie sie blank reiben, bis sie zerbrechen.“ Das ist die Kälte in Louises eigener winziger Wohnung – eine auch soziale Kälte. Der Kontrast könnte nicht größer sein.
Am Abend, nachdem sie den Kindern die Pyjamas angezogen hat, hält Louise sich noch ein Weilchen in ihrem Zimmer auf. Myriam erwartet sie in der Diele, aufrecht. »Sie können jetzt gehen. Wir sehen uns morgen.« Louise würde so gern bleiben. Da schlafen, am Fuß von Milas Bett. Sie würde ganz leise sein, sie würde niemanden stören. Louise will nicht in ihre kleine Wohnung zurückkehren. Jeden Abend geht sie ein bisschen später nach Hause und läuft mit gesenktem Blick durch die Straße, den Schal bis zum Kinn hochgezogen. (…)Als sie in ihre Straße einbiegt, die völlig verlassen daliegt, fühlt sie sich dennoch beobachtet. Sie schaut sich um, aber da ist niemand. Dann bemerkt sie einen Mann, der im Halbdunkeln zwischen zwei Autos hockt. (…)Als sie im Bett liegt, kann sie nicht einschlafen. Sie hat immerzu diesen Mann im Halbdunkeln vor Augen. Sie wird den Gedanken nicht los, dass ihr das auch bald bevorsteht. Dass sie sich auf der Straße wiederfinden wird. Dass sie gezwungen sein wird, selbst noch diese abscheuliche Wohnung zu verlassen, und dass sie auf die Straße scheißen wird, wie ein Tier.
Da ist die Welt der mittelständischen Karrieremacher: Die „Bobos“ Paul und Myriam mit ihren zwei Kindern Mila und Adam, für die sie keine Zeit haben. Da ist die Welt der Kinderfrauen, die ihre Zeit mit den Kindern auf den Spielplätzen verbringen. Die Kinder hängen an ihnen mehr als an ihren Eltern, aber sie müssen sie wieder abliefern. Die Besitzverhältnisse sind festgeschrieben. Wenn die Kinder älter werden, werden die Kinderfrauen überflüssig. Louise will sich lange nicht eingestehen, dass sie ihr überkompensierender Perfektionismus nicht vor dem finalen Scheitern bewahren wird, dem Rückfall in ihr beschissenes Leben.
Die Besitzverhältnisse sind auch ethnisch kodiert. In Frankreich sind die Reichen Franzosen, die Armen auch, aber sie stammen oft aus Nordafrika. Nur ganz beiläufig erwähnt Leïla Slimani, dass hier Myriam Immigrantin ist, aber sie hat es geschafft. Sie grenzt sich nach unten ab: „Sie möchte keine Maghrebinerin als Kindermädchen einstellen. Diese Solidarität unter Immigranten, wie sie es nennt, war ihr schon immer suspekt.“
Die Eltern „ beschäftigen sich mit Trivialitäten, sind selbstgefällig, machen sich Sorgen darüber, ob sie gute Chefs sind. Sie sind darum bemüht, die soziale Kluft zwischen ihnen und ihren Angestellten zu überdecken, so sehr, dass Myriam sogar ihre neuen Kleider versteckt, weil sie fürchtet, sie könne die Nanny durch ihren eigenen (sehr relativen) Wohlstand demütigen. Wie es wohl für diese Frau ist, den Kindern so viel Liebe zu geben, alles mit ihnen zu teilen und dabei zu wissen, dass sie irgendwann, bald, gehen muss und dann schnell vergessen sein wird – darüber macht sich Myriam keine Gedanken“. (Annabelle Hirsch, FAZ)
Die Katastrophe steht im ersten Satz: „Das Baby ist tot. (…) Adam ist tot, Mila wird ihren Verletzungen erliegen.“ Der Roman steuert auf die Katastrophe zu. „Seit sie geboren sind, hat Myriam Angst vor allem. Am schlimmsten ist die Angst, dass sie sterben könnten. (…) Nachts träumt Myriam, dass die beiden plötzlich verschwinden, mitten in einer gleichgültigen Menschenmenge. Sie schreit »Wo sind meine Kinder?«, und die Leute lachen. Sie halten sie für verrückt.“ Das steht weit vorn im Buch, man könnte es überlesen. “Das Schicksal ist verschlagen wie ein Reptil, es sorgt immer dafür, dass wir auf der falschen Seite landen.« Lousie lässt das “Glück” platzen, weil sie weiß, das sie keine Chance hat. Als Woyzeck Marie – aus Liebe? – tötet, sagt er sich: „Wenn ich dich nicht haben kann, dann auch kein anderer.“ Andreas Marneros nennt die Tötung aus Liebe den “erweiterten Suizid“. „Der erweiterte Suizid geschieht im Grunde genommen aus reiner Liebe. Dabei meine ich (…) vor allem Mütter, die ihre Kinder und sich selbst töten.“ (Andreas Marneros, ZEIT) Chanson douce.
Louise hat keine Mitstreiter, ihre Bekannten sind alle Verlierer. Kinderfrauen haben Einzelschicksale, sie sind, bestenfalls, geduldet. Solidarität ist nicht zu erwarten, eine politische Lösung ist nicht zu sehen, das Ende muss psychologisch motiviert sein. Besser ein schreckliches Ende als ein endloser Angsttraum. Dass die Nanny “ihre” Kinder umbringt, kommt wohl vor, dennoch überzeugt mich die Entwicklung des Romans nicht. Das tragische Ende ist nur in der Romankonstruktion bemüht unausweichlich. Es kommt auch kein Mitleid mit Louise auf, das auf ähnliche ausweglose Situationen übertragen werden könnte. Es gibt viele andere prekäre Arbeitsverhältnisse, doch nur die Nounou lebt in der Welt des Wohlstands, gestaltet sich ihr Schlaraffenland selbst. In Frankreich führte die sozialpolitische Diskussion das Buch zum Prix Goncourt 2016, in Deutschland profitierte es vom Gastländerschwerpunkt der Buchmesse 2017. Leïla Slimani kam mit 18 Jahren von Marokko nach Paris. Der Roman ist mit seinen eingestreuten Vorausdeutungen geschickt angelegt, die Sprache holpert zuweilen, was aber auch an der Übersetzung liegen könnte. „War er endlich an der Reihe, von den abenteuerlichen Aufnahmen einer Hip-Hop-Band zu erzählen, stieß sie aus: »Du hast’s gut.« Er erwiderte: »Nein, du hast’s gut. Ich würde sie so gern heranwachsen sehen.« Bei diesem Spiel gab es niemals einen Gewinner. Nachts sank Paul neben ihr in den tiefen, wohlverdienten Schlaf eines Mannes, der den ganzen Tag gearbeitet hat. An ihr nagten Bitterkeit und Reue.” Hin und wieder stört mich der Umgang mit den Zeitformen.
Langsam bändigt Louise das Kind. Jeden Tag erzählt sie ihr Geschichten, in denen immer dieselben Figuren vorkommen. Waisenkinder, verirrte kleine Mädchen, gefangene Prinzessinnen und die verwahrlosten Schlösser schauriger Menschenfresser. (…) Woher hat Louise nur diese Geschichten? Sie strömen aus ihr heraus in einem unablässigen Fluss, ohne dass sie darüber nachdenkt, ohne die geringste Anstrengung ihres Gedächtnisses oder ihrer Phantasie. Aber aus welch schwarzem See in welch tiefem Wald schöpft sie diese grausamen Erzählungen, an deren Ende die Guten sterben, nachdem sie die Welt gerettet haben?
2016 222 Seiten
Video, Leseprobe, Links beim Luchterhand-Verlag
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