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Magnus Vattrodt: Ein großer Aufbruch
Inszenierung: Nicolai Sykosch
Keiner hat Lust, keine hat Zeit, denn eingeladen ist zu einem Familientreffen und da weiß man aus vielen Filmen, wohin das führt, wie das endet. Auch Autor Vattrodt kennt die Filme und so verschweigt er den Geladenen, weshalb der alte Holm sie sehen will. Adrian und seine Frau Katharina sind die ersten, Adrian, der Freund aus frühen Tagen, soll und will kochen. Es erscheinen die Töchter Charlotte und Marie – Marie bringt ihren Partner Heiko mit – und Holms Ex Ella, die Mutter der Töchter. Es ist angerichtet, es kann aufgemischt werden.
Wie üblich bei solchen Konstellationen ist niemand die, für die sie sich selbst hält, ist niemand der, für den er gehalten wird. Alles wurde unter den Teppich gekehrt, alles drängt an die Oberfläche. Es werden zelebriert: Selbstgerechtigkeit,Verzweiflung, Vertuschung, Egoismus, Lebenslügen, Enthüllungen, Betroffenheit, Ich-wollte-doch-nur, Das-glaubst-du-doch-selbst-nicht, Ich-habe-schon-immer-und-überhaupt, ++. Uns, dem Publikum, wird der Spiegel gezeigt, doch wir dürfen wir-selbst bleiben, weil die dort auf der Bühne noch viel schlimmer, ja, abgründig sind.
Gerhard Hermann ist Big Daddy, bloßfüßig spielt er den Anspruch, der benevolente Familienlenker zu sein, nicht ohne Fehler, aber fehlerverzeihend. Lebemann im abgetragenen Sakko mit Guevara-Button. Franziska Sörensen macht sich gut als gealterte Hippiemutter Ella, Medizinerin a.D., die Drogen mit Unabhängigkeit verwechselt und sich ihrer Familienrolle eher von außen nähert. Michael Haake und Silke Heise sind eine schrecklich nette Familie, die erst an diesem Abend merkt, dass es der Partner noch unverschämter treibt. (Silke Heise nervt in gewohnter Art, aber das soll wohl so sein.) Andine Pfrepper ist die erfolglos unglückliche Tochter Charlotte, in deren Leben alles Fassade ist und die in ihrer naiven Sinn- und Glücksuche zu jedem, der sie fragt, ja sagt. Man würde fast mit ihr heulen. Neu in Regensburg ist Louisa Stroux, die Tochter Marie, glaubhaft verspannte und verzickte Anwältin. Da Marie eigentlich auf dem Weg nach New York ist und gleich weiter will, hat sie ihren Partner Heiko mitgebracht, der als Außenstehender die Rolle des Verwunderten spielt und mit seiner realistischen Ironie versucht, Spannungen zu entschärfen. Sein bevorzugtes Anliegen ist die Rettung des Barolo vor dem Verrschütten. Gunnar Blume macht das gewohnt lakonisch und ist mit seiner Nerdbrille mein Liebling des Abends.
Der Bühne hat Beatrice von Bomhard als nach vorn abfallendem Wohnraum viel Symbolhaftes mitgegeben: Die Akteure haben Mühe sich zu halten, der Zuschauer hat einen besseren Blick. Der Boden ist mit Erde bedeckt und auch hier lauert das Sinnbild: kein Teppich mehr! In den Hintergrund der IKEA-Möbel sind allegorische Landschaften projiziert: Wald, Wasser, Wellen, Straßen, man denkt sich was.
Bevor ich es vergesse: Der alte Holm will die Seinen sehen, weil er unheilbar krank ist und sich in der Schweiz zum begleiteten Sterben angemeldet hat. Auch den Tod will er noch selbstbestimmt arrangieren. „Ich bin sehr krank, ich hab nicht mehr lang zu leben und heute ist der Tag, an dem wir voneinander Abschied nehmen werden.“ Ein großer Aufbruch, der aber im eigensüchtigen Streit zu scheitern droht. Zunächst glaubt ihm keiner, er sehe doch blendend aus, dann stellt sich heraus, dass die Erbschaft so verlottert ist wie Holms Klamotten und schließlich erweisen sich immer mehr von Holms Lebenswerten als Täuschungen. Das todernste Thema implodiert, bis die Fetzen fliegen, einzig der hedonistische Heiko bringt Ernst und Ruhe zurück ins Gemetzel, als er erzählt, wie seine Frau im Schweizer Sterbehospiz Qualen erlitten hat.
„Der große Aufbruch“ von Magnus Vattrodt lief im November 2015 als Fernsehfilm. Der Autor hat die Geschichte nur wenig geändert, lediglich den Schluss neu geschrieben. Weshalb man einen TV-Film nach nur zwei Jahren im Theater nachspielt, ist fragwürdig, vor allem, weil man sich dem Vergleich mit den prominenten Darstellern aussetzt (Matthias Habich, Ina Weisse, Hannelore Elsner, Edgar Selge, Ulrike Kriener, Matthias Brandt). Aber auch auf der großen Bühne gelingt das Kammerspiel als heiter-besinnliche Abrechnung mit den Lebenslügen, die vor dem Tod nicht haltmachen. Reichlich Applaus.
Theater Regensburg – Aufführung am 5. Januar 2018
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