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Heinz Bude:
Adorno für Ruinenkinder.
Eine Geschichte von 1968
Heinz Budes „Geschichte von 1968“ ist 2018 interessant, auch wenn er sich zum Großteil auf Arbeiten der Jahre um 1988 stützt: auf Gespräche mit Personen, die als „Ruinenkinder“ in die 68er-Bewegung hineinwuchsen. Die Namen: Peter Märthesheimer, Adelheid Guttmann, Klaus Bregenz, Camilla Blisse, Peter Gente sind heute aus dem öffentlichen Diskurs gefallen oder tot, gemeinsam haben sie, dass sie in der Nazizeit geboren sind und in den 1968er Jahren Leitsysteme fanden, ihre Traumata der verlorenenVäter und verbogenen Mütter zu verarbeiten und Losungen für eine Selbstfindungen erhielten, auf denen sie ihr Leben in einem neuen „Wir“ aufbauen konnten.
Das Undankbare und Unfügsame der Ruinenkinder kam später. Aber nicht in der Familie, sondern in der Gesellschaft. Als mit dem Wirtschaftswunder die Ordnung wiederhergestellt werden sollte, die doch nie da war, machte man Schluss mit einer Wirklichkeit, worin alles von den Maschen der Gesellschaft eingefangen wurde. Der Augenblick der Befreiung sollte der Augenblick der Wahrheit sein. Nicht drinnen zu Hause, sondern draußen in der Eisdiele in Hildesheim, im Club Voltaire in Frankfurt am Main oder auf der Straße in Berlin, wo man im Einklang mit den Aufständischen von Paris und anderswo unter dem Pflaster den Strand sah.
Adorno war wie für so viele geistes- und sozialwissenschaftliche Studenten (dieser) Generation insofern ein intellektuelles Vorbild, als man mit ihm die unerfreuliche Mischung aus abendlandmäßiger Schwülstigkeit und positivistischer Fachidiotie, die einem normalerweise aut den Universitäten angeboten wurde, hinter sich lassen konnte. Außerdem war er für viele der Einzige, der die halbbewussten Wahrnehmungen des Völkermords, so wie sie in der Erinnerung der Kriegskinder versiegelt waren, zur Sprache bringen konnte.
Die traurige Wissenschaft, aus der ich meinem Freunde einiges darbiete, bezieht sich auf einen Bereich, der für undenkliche Zeiten als der eigentliche der Philosophie galt, seit deren Verwandlung in Methode aber der intellektuellen Nichtachtung, der sententiösen Willkür und am Ende der Vergessenheit verfiel: die Lehre vom richtigen Leben. (…)
So lautet der erste Satz von Adornos aphoristischen Reflexionen aus dem beschädigten Leben, wie der Untertitel seiner Minima Moralia lautet, die zwischen 1941 und 1944 entstanden und 1951 zuerst erschienen sind.
„Großartige Neuentdeckungen sind jedoch nicht zu erwarten“ in Budes„Remix“ seiner Untersuchung „Das Altern einer Generation“ aus dem Jahr 1995. „Es ist also eher ein Buch für nebenbei und aufs Jubiläum hin konzipiert.“ (Nikolai E. Bersarin, Aisthesis)
Gespräch mit Heinz Bude auf der Leipziger Buchmesse
(ARD ttt – titel, thesen, temperamente) – 27 Minuten
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Michael Butter:
»Nichts ist, wie es scheint« –
Über Verschwörungstheorien
Michael Butter geht das Thema streng systematisch an. Er grenzt Begriffe voneinander ab, sagt, was die Verschwörung von der Verschwörungstheorie unterscheidet und was diese von Verschwörungsgerüchten, weshalb Fake News noch keine Verschwörungstheorien sind. Er zeichnet Strukturen und Methoden von Verschwörungstheorien auf. Ein paar Seiten widmet er dem Zusammenhang von Verschwörungstheorien und Populismus. Ein Kapitel befasst sich mit den psychologischen Aspekten, das nächste mit der historischen Entwicklung, wobei er Schwerpunkte auf die „Entstehung und Entwicklung bis ins 20. Jahrhundert“ und auf die „Delegitimierung und Stigmatisierung nach 1945“ legt. Schließlich betrachtet er die Auswirkungen des Internets auf Verschwörungstheorien. Michael Butter legt auch den Aufbau seiner Darstellung und Argumentation dar.
Jedem Kapitel ist eine „Fallstudie“ eingefügt. Er beginnt mit massenwirksamen Verschwörungstheoretikern wie Daniele Ganser, David Icke (Reptiloide) oder Alex Jones, beleuchtet den „Mythos von der jüdischen Weltverschwörung“, um schließlich bei Donald Trump zu enden.
Am Beispiel eines Artikels von Eva Herman erläutert Butter zentrale Merkmale von Verschwörungstheorien:
Am 31. August 2015 sprach Angela Merkel angesichts Tausender Flüchtlinge, die täglich nach Deutschland kamen, ihren berühmten Satz »Wir schaffen das«. Just an diesem Tag veröffentlichte das Magazin Compact einen Text der ehemaligen Tagesschau-Sprecherin Eva Herman, der sich mit diesem Thema beschäftigte. Der etwa zehnseitige Aufsatz war bereits einige Tage zuvor unter dem Titel »Einwanderungs-Chaos: Was ist der Plan?« auf der Seite der Wissensmanufaktur erschienen, deren Medienbeirat Herman damals angehörte. Compact, das wie die Wissensmanufaktur zu den rechtspopulistischen Alternativmedien gehört, die in den letzten Jahren so viel Auftrieb erfahren haben, publizierte ihn unter dem Titel »Flüchtlings-Chaos: Ein merkwürdiger Plan«. Der Artikel ist in vielerlei Hinsicht das Gegenstück zu Merkels Aussage. Wo die Kanzlerin Optimismus verbreitete, sah Herman nichts weniger als den Untergang des Abendlandes unmittelbar bevorstehen. »Wir schaffen das nicht«, schreit es aus jedem ihrer Sätze.
»Europa«, so Herman, »wird geflutet mit Afrikanern und Orientalen. Unsere alte Kraft, unsere christliche Kultur, Glaube und Tradition, werden zerstört, die Identität der einzelnen Völker aufgeweicht und, Schritt für Schritt, abgeschafft.« Während sie hier für einen Moment das Bild einer Naturkatastrophe bemüht, dominiert insgesamt eine ganz andere Metaphorik: Für Herman ist die Flüchtlingskrise ein »Feldzug gegen Europa« und Deutschland entsprechend »ein Schlachtfeld«, ein »Kriegsgebiet […], welches nun von unzähligen Asylsuchenden, Stück für Stück, eingenommen wird«. Die Geflüchteten, angeblich »überwiegend junge, starke Männer«, sind für sie »der Sprengstoff«, der sich »zunehmend zur Waffe gegen die einheimische Bevölkerung« entwickelt.
Diese Bildlichkeit von Krieg und Invasion passt zum Argument, denn für Herman handelt es sich bei der Migrationskrise nicht nur um eine von Menschen gemachte, sondern um eine ganz bewusst herbeigeführte Katastrophe. Gleich im ersten Absatz betont sie, der eigentliche »Widersacher« sei »nicht in den Millionen fliehenden Migranten zu suchen«. Die Geflüchteten seien nur die sichtbaren Werkzeuge, denn: »[D]er Feind arbeitet in vielerlei subtiler Form an bislang für die meisten Leute unbekannten Nahtstellen.« Letztendlich verantwortlich, so Herman, sei »eine bestimmte Gruppe von Machtmenschen des globalen Finanzsystems […], die sich die Welt aus ihrem Kapitalsammelbecken heraus untertan machen will«. Sie erklärt allerdings an keiner Stelle, wie die Zerstörung des christlichen Europa, die sie prognostiziert, zur Agenda dieser »mächtigen Globalbestimmer« beitragen soll. Immer wieder betont sie jedoch, dass diese mysteriösen Strippenzieher die Politik und die Medien kontrollieren. Wiederholt kommt sie auf das »Brüsseler Marionettentheater«, die »eingesetzten Politikdarsteller« und »die gleichgeschalteten Massenmedien« zu sprechen, die, statt dem Volk zu dienen, »die Hirne der Menschen« verwirren, um »das Volk in den Untergang [zu] führen«.
Wer Michael Butter gelesen hat, könnte alles über Verschwörungstheorien wissen, wird aber unsicher bleiben, wie man mit diesem Wissen umgeht. Butter weiß es auch nicht, beruhigt aber mit persönlich gehaltenen Tipps. Die Widerlegung von Behauptungen scheint ihm wenig erfolgreich, weil die Gegenargumente gleich in die Verschwörungstheorie eingebaut werden. Wesentlich ist ihm die „Vermittlung von »Gesellschaftskompetenz« oder social literacy ergänzt durch zwei Aspekte, die ich als »Medienkompetenz« oder media literacy und »Geschichtskompetenz« oder historical literacy bezeichnen würde. (…) Wir alle mussten oder müssen lernen, seriöse Nachrichtenquellen von unseriösen zu unterscheiden, und zu verstehen, was den Youtube-Kanal einer Privatperson oder einen persönlichen Blog von der Website einer Qualitätszeitung unterscheidet.”
Die “Fragmentierung der Gesellschaft … scheint mir das eigentliche Problem zu sein, das sich uns derzeit stellt. Verschwörungstheorien sind ein Bereich, in dem diese Zersplitterung besonders auffällt. Insofern ist die derzeitige Diskussion – Verschwörungspanik in manchen Teilöffentlichkeiten,Verschwörungstheoriepanik in anderen – ein Symptom für eine tiefer liegende Krise demokratischer Gesellschaften. Denn wenn Gesellschaften sich nicht mehr darauf verständigen können, was wahr ist, können sie auch die drängenden Probleme des 21. Jahrhunderts nicht meistern.
Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag
Infos und Materialien bei „der Freitag: Buch der Woche“
Liste von Veschwörungstheorien
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François Jullien:
Es gibt keine kulturelle Identität
2016
“Kultur” als solche, feststehende, einem kollektiven Subjekt zuzuschreibende, gibt es nicht, sagt der Philosoph und Sinologe François Jullien. Er trennt Begriffe und sucht in definitorischen Schleifen um Zustimmung zu seinen Eingrenzungen. “Es gibt keine französische oder europäische kulturelle Identität, dafür aber (französische, europäische oder zu einer beliebigen anderen Kultur gehörende) Ressourcen. Identität wird definiert, Ressourcen werden inventarisiert. Man erkundet sie und beutet sie aus – das meine ich mit aktivieren.”
“Es ist schließlich leicht zu erkennen, dass das Kulturelle, auf welcher Ebene auch immer man es betrachtet, sich dadurch auszeichnet, dass es gleichzeitig vielfältig und einzigartig ist.” Aus dieser Vielfalt – lokal und historisch gesehen, aus den “Abständen” – ein wichtiger Begriff für Jullien – entwickelt sich permanent Neues. „Diese Abstände, welche die Kulturen in Gegenüberstellung und daher in Spannung zueinander aufrechterhalten, bringen das Gemeinsame zwischen ihnen zum Vorschein. Außerdem sollten wir nicht von »Identität« sprechen, da Kultur sich dadurch auszeichnet, dass sie mutiert, dass sie sich permanent verändert.” „Denn woraus könnte das »Kulturelle« entstehen, wenn nicht aus ebendieser Spannung des Vielfältigen, die von der Abweichung hervorgebracht wird, die es arbeiten und ununterbrochen mutieren lässt?”
Eine Kultur, die sich nicht länger verändert, ist tot (in diesem Sinne ist auch von toten Sprachen die Rede: da sie von niemandem gesprochen werden, können sie sich auch nicht mehr entwickeln). Die Transformation ist der Ursprung des Kulturellen, und deshalb ist es unmöglich, kulturelle Charakteristiken zu fixieren oder von der Identität einer Kultur zu sprechen.
Gerade aus den Abständen – zwischen Personen, Sprachen, Denktraditionen, was auch immer, eröffnen sich „Ressourcen“, die allein „fruchtbar“ sind um Neues, „anderes Mögliches entstehen” zu lassen, das “wir bislang nicht in Betracht gezogen, ja nicht einmal vermutet haben.” Der grassierenden und geschürten Angst vor dem “Verlust der kulturellen Identität” setzt Jullien eindringlich seine – auch aus seinen Erfahrungen als Sinologe gestützte Mahnung für eine Öffnung entgegen, auch und gerade in globalen Zeiten. Nicht ganz einfach zu lesen, aber lohnenswert.
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Gabriele Krone-Schmalz: Eiszeit.
Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist
2017
Gabriele Krone-Schmalz ist eine, die man nur mit spitzen Fingern anfasst. Wie sie schon aussieht: „die strenge Meinungsdomina mit der eisgrauen Micky-Maus-Frisur“ (Bild). Was sie sagt und wie sie das tut, weiß man eh schon, weil sie nur ein Thema hat: „Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist.“ „Ansonsten vertritt sie ihre Thesen, die sie seit Jahren bei öffentlichen Auftritten runterplaudert: (…) Bei Widerspruch aus der Runde fährt sie pöbelnd auf: „Wollen Sie Zoff oder wollen Sie Gedankenaustausch?“ (…) Die anderen Gäste nehmen die Fouls der Provokateurin gelassen. Ihr „klügster Konterpart: Udo Lielischkies, aktueller ARD-Studioleiter in Moskau. Er nennt die Sichtweisen von Krone-Schmalz höflich ausgedrückt ‚merkwürdig’. (…) „Völliger Unfug! Sie bauen Ihre Mythen so schnell auf, dass man kaum hinterherkommt!“ (FR)
Ich wollte mal nachlesen, was an der Frau so gefährlich ist – und ich bin nicht der einzige. Mein Buch ist schon die 3. Auflage 2017. Ihr Anliegen scheint ein moralisch einwandfreies: der Frieden. Die Wege zum Ziel können unterschiedlich sein, Krone-Schmalz bevorzugt das Miteinander, die Verständigung, den Konsens, den „Wandel durch Annäherung“. Sie hält die Politik Russlands nicht für per se harmlos, doch gesteht sie dem Land eigene Interessen zu, die „der Westen“ kennen und respektieren müsse, um zu einem Ausgeich und zu nachhaltigen, das heißt auch: allmählichen Veränderungen zu gelangen. Dem Westen spricht sie diesen Willen und diese Fähigkeiten ab.
Wenn die eigene Position die einzig moralisch berechtigte ist und jeder Wohlmeinende diese teilen müsste, was bleibt dann für diejenigen, die nicht zum westlichen «Club» gehören? Wie soll man mit jemandem verhandeln, der im Grunde nur erwartet, dass sein Gegenüber den Widerstand gegen das Richtige und Gute endlich aufgibt? Der Westen ist zu echten Kompromissen nicht mehr in der Lage, weil er die eigene Weltsicht für alternativlos hält. Das hat etwas von missionarischem Eifer, der schon immer das beste Rezept war, um große Katastrophen herbeizuführen.
Sie führt das an einigen zentralen Beispielen vor: Der Westen betrachtet die von Russland vorgebrachten Interessen von vornherein als illegitim, sei es im Fall der Raketenabwehr, sei es im Fall der NATO-Mitgliedschaft Georgiens und der Ukraine. Einen Blick wirft sie auch auf die unnere Verfasstheit von russischer Gesellschaft und Politik. In Russland fehle eine bürgerliche Zivilgesellschaft und diese lasse sich auch nicht von außen überstülpen.
In Russland hat die westliche Konfrontationspolitik eine paradoxe Wirkung. Sie soll bekanntlich dazu beitragen, die russische Zivilgesellschaft zu stärken, den autoritären Staat zu schwächen und das Land zu liberalisieren. De facto bewirkt sie jedoch exakt das Gegenteil. Sie schwächt die westlich orientierten Kreise, stärkt nationalistische Positionen und schließt die Reihen hinter dem Präsidenten Wladimir Putin, der dem Westen Paroli bietet. Der Druck von außen führt auch dazu, dass die Regierung der Opposition und westlichen Nichtregierungsorganisationen grundsätzlich misstrauisch gegenübersteht und glaubt, sich weniger Liberalität im Inneren leisten zu können.
Auch der
Putin-Gegner und Korruptionsjäger Nawalny ist nicht der westliche Liberale, den sich viele wünschen, sondern nach eigener Bezeichnung ein «nationalistischer Demokrat». Er irritiert einen Teil seiner Anhänger immer wieder dadurch, dass er auch auf rechtsextremen Veranstaltungen spricht und sich einer fremdenfeindlichen Sprache bedient – und dies ist keine Kremlpropaganda, die erfunden wurde, um ihn zu diskreditieren, sondern hinreichend belegt.
Die Wahrheit, wenn es denn die eine gibt, selbst herauszufinden, ist dem Leser nicht möglich, man kann aber mit den veröffentlichten Nachrichten vergleichen und Plausibilitäten abwägen. Und wenn man sich auf Krone-Schmalz’ Beobachtungen einlässt, wird man das Weltbild, das viele “unserer” Medien verbreiten, als vorurteilsbeladen und ebenfalls mehr interessen- als wertegeleitet einstufen. Gabriele Krone-Schmalz belegt ihre Ausführungen mit über 600 Anmerkungen, aber wer wird das prüfen. Dem Leser empfiehlt sie dennoch: “Selber denken.”
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Guillaume Paoli:
Die lange Nacht der Metamorphosen. Über die Gentrifizierung der Kultur
„Guillaume Paoli kommt aus der kulturellen Ecke des Denkens. Er tat sich hervor als Begründer (der „Glücklichen Arbeitslosen“) und Manifestator, er veranstaltete Diskussionsreihen an der Berliner Volksbühne und wirkte als „Hausphilosoph am Leipziger Theater“ (Klappentext) So jemand denkt viel rum, kennt sich nicht nur in der Kultur aus, sondern auch in der Welt und im Kapitalismus – und er ist kein verbeamteter Wissenschaftler. Das tut meist der Sprache und dem Stil des Schreibens gut, denn als Festangestellter muss man zwar viel wissen, aber nicht mit seinen Ein- und Ansichten brillieren.
Das Buch heißt im Untertitel „Über die Gentrifizierung der Kultur“ und auf dem sehr gelben Einband brüllt ein Pudellöwe, vorderhälftig wie im Leben, das Hinterteil wie von Jeff Koons paillettiert. Es geht um Mutanten.
Nehmen wir vorübergehend diese Behauptung für unbezweifelbar: Eine anthropologische Mutation ist in vollem Gange. In letzter Zeit fand eine brachiale Veränderung statt, die die geistige Verfasstheit der Individuen betrifft. Sitten und Denkweisen, die vormals als selbstverständlich galten, scheinen nicht mehr nachvollziehbar, dafür werden Zustände akzeptiert, gegen die vergangene Generationen sofort auf die Barrikaden gegangen wären. Ohne dass eine physische Veränderung sichtbar wäre, unterscheidet sich der Jetztzeitgenosse in seiner Subjektivität, in seinem Bezug auf die äußere Welt, in seiner Art, mit anderen zu kommunizieren, in seiner Intimität, in seiner Kultur im weitesten Sinne des Wortes vom herkömmlichen Menschentyp so substanziell wie der Hund vom Wolf Die Hypothese klingt erst einmal eher unseriös und wie aus einem schlechten Horrorstreifen, ich weiß. Einstweilen sei zur Begründung bloß ein subjektiver Eindruck erwähnt. Immer häufiger begegnen sich Menschen, die sich, obwohl sie in derselben Stadt leben, dieselbe Sprache teilen und mehr oder weniger demselben sozialen Milieu und derselben Altersgruppe angehören, auf eine ganz neuartige Art fremd sind. Die einen gerieren sich wie die letzten Mohikaner und halten an Dingen fest, die offenbar im Begriff sind zu entschwinden, während die anderen die ganze Positivität eines unaufhaltbaren Wandels auf ihrer Seite zu haben scheinen.
Paoli findet diese Mutationen, die Metamorphosen in allen möglichen Sphären von Kultur, Kommunkation, Lebenswelten. Am Anfang steht – natürlich – der Neoliberalismus. “Er ist (…) vergegenständlichte Ideologie, ja die Chiffre für eine ganze Epoche. Das verleiht ihm den Status eines deprimierenden Fatums, also von etwas, das sich nicht mehr stoppen lässt. Und da der Neoliberalismus permanent daran arbeitet, die Menschen nach seinem Bilde zu schaffen, wäre die Hypothese einer anthropologischen Mutation nicht fehl am Platz. Diese en detail zu beschreiben wäre eine enzyklopädische Aufgabe. Schon die Inhaltsangabe lebt von der Wortphantasie:
“Prolog: #theorierecycling 7 1. Mutantengedanken 2. Der unüberschreitbare Horizont 3. Konfusionismen 4. Strandgut 5. Am Pflock des Augenblicks 6. Selfiction 7. When the music’s over 8. Die Welt als Hotel 9. Weder Volk noch Raum 10. Schreckgespenster 11. Dissensfindung”.
Übersetzt: Liberalismus als kleineres Übel – Natur und Fiktion – Pasolini und Situationismus – Stadt und Postmoderne – Selbststilisierung und Authentizität – “Ausmerzung der Geschichtlichkeit” – Popmusik nach ihrem Ende – Essenzialismus und Kosmopolitismus – Experten-Meritokratie – Trump als Avatar – Nietzsche und das erodierte Vetrauen der Menschen in alles.
Mangels verfügbarer Erklärungen wird im Reich des Guten das Zeitgeschehen zunehmend einer mittelalterlichen Chronik ähnlich, ein unentwirrbares Durcheinander von zusammenhanglosen Ereignissen und irrationalen Gerüchten, Überfällen von Sarazenen und kollektiven Hysterien, schicksalhaften Unfällen und obskuren Verschwörungsvermutungen, apokalyptischen Prophezeiungen und frommen Erlösungswünschen. Es wird sogar erzählt, dass die Wölfe in die Stadt zurückgekehrt seien.
So leben wir fortan in einem ZombieZeitalter. Welch eine außerordentliche historische Situation: Ein System hat die praktische Widerlegung all seiner Grundsätze überstanden und lebt als Untoter weiter. Es verzichtet auf jeglichen Legitimationsgrund außer: Ich bin hier, und wo ich nicht bin, ist es noch schlimmer. Mehr wird nicht versprochen. Vergessen selbst der trickle down effect, dieses zynische Märchen, wonach die effektivste Weise, Arme zu ernähren, darin bestünde, die Reichen sich vollstopfen zu lassen, damit genug Brosamen vom Tisch fallen. Nicht einmal ein Gleichgewicht der Märkte wird noch behauptet. Wie die Japaner auf das kommende Erdbeben, warten alle gebannt, bis die nächste Blase platzt.
Guillaume Paoli findet in seinem und unserem Leben eine Fülle von Beispielen, die er mit Verve zu einem Netzwerk der Kulturmetamorphosen verknüpft. Die Muster zeigen subjektive Geschmäcker des Autors, zu lesen ist das Buch durchaus vergnüglich. „Paoli ist vielmehr der seltene Glücksfall eines konzentrierten Plauderers, temperamentvoll, aber nachdenklich. (…) Klüger und klarer wurde über die Kompliziertheit der Lage im Jahr 2017ff bislang selten geschrieben.“ (Jens-Christian Rabe, SZ)
Es wird nicht viel hängenbleiben, sind wir doch alle gezüchtete Mangelmutanten.
Leseprobe beim Verlag Matthes & Seitz
„Desatomisierung“ | Künstler*Innengespräch mit Guillaume Paoli
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Didier Eribon: Gesellschaft als Urteil
Didier Eribon treibt weiter die Frage um, wie sehr man von seiner Herkunft determniniert sit und wieweit es möglich ist, sich von seiner Familie, seiner Region, seiner Klasse zu distanzieren, sie gar zu verlassen.
Jede Begegnung zwischen zwei Personen enthält immer auch die gesamte Geschichte der sozialen Strukturen, der etablierten Hierarchien und der von diesen eingesetzten Herrschaftsweisen. Die Gegenwart jedes Einzelnen wird geprägt von seiner individuellen Vergangenheit, welche wiederum von der kollektiven, unpersönlichen Vergangenheit der sozialen Ordnung mit ihrer inhärenten Gewalt geprägt ist.
Eine bedeutsame Rolle spielen bei dieser „Prägung“ die Kultur und – wohl noch stärker als in Deutschland –das Bildungswesen.
Das Licht, das die Kultur für alle darstellt, die einen Zugang zu ihr und in ihr die Mittel zu einer Emanzipation finden, hat allerdings eine dunkle Kehrseite: die Gewalt einer Trennung, durch die so viele Menschen von dem ausgeschlossen werden, was die Gesellschaft in den allgemeinsten Diskursen über sich selbst – besonders in ihren institutionellen Dispositiven, aber auch in der Selbstdarstellung ihrer »Eliten« – als die edelsten Errungenschaften bezeichnet, als das Erstrebenswerte schlechthin. Erst viel später wurde es mir möglich, diese Funktion der Kultur zu begreifen, ihren durch das Schulsystem vermittelten Beitrag zur Legitimation und Verstetigung sozialer Ungleichheit. Mit Blick auf die vehementen Attacken aus dem Lager der französischen Rechtsextremen auf Andre Gide, der sich Anfang der dreißiger Jahre zum Kommunismus und zur Verteidigung der ausgebeuteten Massen bekehrte, spricht Walter Benjamin ohne große Umschweife von einer substanziellen Relation zwischen Kultur und Faschismus: »Die Ausbildung des Kulturbegriffs scheint einem Frühstadium des Faschismus anzugehören.«‘ Gesellschaftlicher Dünkel und die nacktesten Formen von Herrschaft werden mit dem Argument gerechtfertigt, dass zum Bereich der »geistigen Werke« nur ausgesuchte Menschen Zugang haben sollten. Dass dieser kulturelle Elitismus, dieser »Kulturfaschismus« heute bei bester Gesundheit ist, davon kann man sich fast täglich überzeugen (der Hass, der Bourdieu heute wie seinerzeit Gide entgegenschlägt, ist dafür ein sicheres Zeichen). Man ist immer versucht, solche ekelhaften Äußerungen als etwas Punktuelles und Isoliertes anzusehen, als die Aufwallungen von einigen verbitterten Ideologen, die es für einen Ausweis ihrer »Kultiviertheit« halten, wenn sie »die Kultur« gegen »das banausische Volk« verteidigen (und natürlich gegen die Immigranten, die noch nicht einmal die Sprache beherrschen!). Man vergisst dabei allzu leicht, dass solche pathologischen Extreme nur die politische Kehrseite der fast schon banalen, normalen, rituellen Feiergesänge auf die »Größe« und »Höhe« der Kultur sind.
Nachdem er in „Rückkehr nach Reims“ sich persönlichen Identitäten widmete, nach dem Klassenstandpunkt seiner als Arbeiter in Reims zurückgebliebenen Familie fragte, setzt er sich im Nachfolge- und Ergänzungsbuch nach vertiefenden Spekulationen mit Identitätsverlust und -suche anderer Autoren auseinander. Mit Annie Ernaux beschäftigt er sich kurz, den größeren Teil von „Gesellschaft als Urteil“ nehmen Veröffentlichungen von Raymond Williams, Richard Hoggart und Paul Nizan ein. Eribon wird dabei spezieller, die Leseerkenntnisse sind für mich weniger übertragbar auf eigene Gedanken.
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Volker Weidermann: Die Träumer
MITTENDRIN |
Es geht weiter von Kaserne zu Kaserne. Das Vorgehen ist immer gleich. Einige Männer gehen hinein, draußen warten Eisner und die anderen, irgendwann öffnet sich ein Fenster und eine rote Fahne weht heraus. Es war turbulent, schnell, in all der Erschöpfung der |
DER LESER FRAGT SICH |
Die Gruppen teilen sich, am Rande des Weges werden immer |
MIA SAN MIA |
Graf und Schorsch haben den Anschluss verloren. Sie gehen |
STIMMUNG |
Als die zwei Revolutionäre den Franziskaner verlassen und zurück Richtung Altstadt gehen, herrscht reges Treiben auf den Straßen. |
SCHWEINSHAXN & DIE ROTE WELT |
Währenddessen ist der große Trupp ins Mathäserbräu zwischen Hauptbahnhof und Stachus weitergezogen. Neun Uhr abends, auch hier Wurst und Bier und Schweinshaxn, aber keine Gemütlichkeit, sondern laute Emsigkeit, freudige Konzentration, Unglaube und Entschlossenheit. Ein Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrat wird gewählt, Organe der Selbstverwaltung nach Vorbild der russischen »Sowjets«. |
EISNER, MANN & OSKAR MARIA |
Kurt Eisner reißt sich selbst mit und den ganzen Saal. Er Doch wenn er ehrlich ist, hat Thomas Mann nur einen echten Wunsch in diesen turbulenten Tagen: »Ich wünsche, nicht zu verarmen, das ist der Wunsch, den ich anmelde.« In den Bierkellern der Vorrevolution ist er naturgemäß nicht dabei. Aber er hat seine Leute, er lässt sich berichten. Oskar Maria Graf läuft durch die Stadt, die Hauptstadt der Er geht nach Hause. Schreibt einen Brief an sein schwarzes Fräulein, beginnt immer und immer wieder von vorn. Weltschmerz, Sehnsucht, Bedrückung. Ein Mann taumelt in der Revolution, die er sich erträumt hatte und die nun irgendwie so unwirklich, so läppisch, so falsch war. »Ich weiß nicht, was ich bin und wohin ich gehöre«, schreibt er. »Aber es kommt mir doch manchmal vor, als wenn die anderen auch nicht recht viel anders wären als ich.« . |
Die Jahrestage sind zwar erst im November dieses und im Frühling des nächsten Jahres, doch Volker Weidermann wollte schnell am Markt sein. Er nimmt mich mit in dieÜberspanntheiten und Eskapaden der Münchner Räterepublik nach dem Ende von WK1. Bayern ist bei Norddeutschen für allerlei Exotik bekannt und das Treiben in München liefert viel Stoff dazu. (München steht hier für Bayern, obwohl das restliche Bayern an den politischen Luftsprüngen keinen Anteil hatte. Im Gegenteil.) „Träumer“ ist kein historisches oder politisches Sachbuch, es fehlen die Hintergründe und Zusammenhänge, es ist eine vielschichtige Erzählung über ein paar Literaten und andere Künstler, die durch einen Streich des Schicksals in eine Revolution geraten sind und sich überraschend als politische Gestalter wiederfinden. Weidermann erzählt mit erkennbarer Anteilnahme, er dichtet dazu, was nicht verbürgt ist, eine verhaltene Ironie lässt sich nicht vermeiden. Schön zu lesen wie auch sein Buch über einen „Sommer der Freundschaft unter Literaten, die es 1936 auf vorübergehendes Exil nach „Ostende“ T(itel) verschlagen hat.
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Terry Eagleton: Kultur
Terry Eagleton ist ein „distinguished“ englischer Literaturtheoretiker (geb. 1943), der sich „ebenso selbstverständlich zu seiner Prägung durch den Katholizismus“ bekennt, „ wie er sich im postkommunistischen Zeitalter als Marxist bezeichnet“ (Magnus Klaue, FAZ). Sein kleines Buch „Kultur“ von 2016 hat drei Teile. Im ersten grenzt er seinen Begriff von Kultur ab von der Zivilisation und der Kunst.
Vielleicht ist es nicht zu pedantisch, hier zwischen lappländischer Kultur und lappländischer Zivilisation zu unterscheiden. Malerei, Kochkunst und sexuelle Einstellungen in Lappland wären der Kultur zuzurechnen, während Nahverkehrssystem und Zentralheizungstechnik unter Zivilisation fallen würden. (…) Zur australischen Kultur gehört sicherlich nicht die Tatsache, dass es zahlreiche Autovermietungen in Alice Springs gibt, wohl aber beinhaltet sie Barbecues, Australian Football und Strandaufenthalte. Die britische Kultur reicht von der Liebe zu Ironie und Understatement bis zum Tragen roter Plastiknasen bei jeder sich bietenden Gelegenheit.
Ausführlich und politisch pointiert nimmt Eagleton Stellung zu „Postmodernen Vorurteilen“:
Das Interesse für Pluralismus, Differenz, Diversität und Marginalität hat einige wertvolle Erkenntnisse gebracht, hat aber auch dazu geführt, dass die Aufmerksamkeit von verschiedenen eher materiellen Fragen abgelenkt wurde. Mancherorts ist Kultur zu einer Möglichkeit geworden, nicht über Kapitalismus zu reden. Die kapitalistische Gesellschaft verbannt ganze Heerscharen ihrer Bürger auf die Müllhalde, achtet aber höchst feinsinnig darauf, deren Überzeugungen nicht zu verletzen. Kulturell betrachtet wird uns allen der gleiche Respekt zuteil, während ökonomisch betrachtet die Schere zwischen den Almosen- und den Dividendenbeziehern immer weiter aufgeht. Der Inklusivitätskult trägt zur Verschleierung der materiellen Unterschiede bei. Das Recht, sich zu kleiden, zu beten oder Sex zu haben, wie man möchte, wird in Ehren gehalten, aber keiner schert sich darum, wenn den Menschen das Recht auf einen angemessenen Lohn verweigert wird.
Der Mittelteil stammt aus Eagletons Archiv und befasst sich mit Kulturtheoretikern von Edmund Burke über Friedrich Schiller, den „romantischen Nationalisten“ Johann Gottfried Herder und Friedrich Nietzsche bis hin zum „Kulturapostel“ Oscar Wilde. Im Zentrum des dritten Teils stehen Bestimmungen und Auswirkungen der „Kulturindustrie“ innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Diese Abschnitte sind die interessantesten, weil sie fruchtbar sind auch für aktuelle Debatten bis hin zur gegenwärtigen Migration.Auch hier ist der Kulturdiskurs explizit politisch.
Kulturell betrachtet, geht es dem Kapitalismus weniger um Hierarchie als um Hybridität – um Mischung, Verschmelzung, Vielfalt -, während, materiell betrachtet, die Kluft zwischen den sozialen Klassen ultra-viktorianische Ausmaße annimmt. Es gibt viele Kulturwissenschaftler, die Ersteres zur Kenntnis nehmen, Letzteres aber nicht. (…)Die Kulturindustrie zeugt weniger von der zentralen Bedeutung der Kultur als vielmehr von den expansionistischen Ambitionen des spätkapitalistischen Systems, das nun Phantasie und Unterhaltung so umfassend kolonisieren kann, wie es einst Kenia und die Philippinen kolonisierte. Paradoxerweise büßt die Kultur ihre Autonomie umso stärker ein, je mehr Bedeutung sie als Massenkultur gewinnt und je mehr sie als eigenständiges Phänomen erscheint. Je größer der Einfluss dieser Art Kultur, desto mehr stärkt sie ein globales System, dessen Ziele der Kultur in der normativen Bedeutung des Wortes größtenteils feindselig gegenüberstehen.
Besonders kritisch bedeuert Eagleton den „weltweiten Niedergang der Universitäten„, speziell den „Tod der Geisteswissenschaften„. „Gegenwärtig werden die jahrhundertealten, traditionsreichen Universitäten als Zentren humaner Kritik zerschlagen, indem sie unter der Herrschaft einer philisterhaften Managerideologie in pseudokapitalistische Unternehmen umgewandelt werden. Die akademischen Institutionen, einst Schauplatz kritischen Denkens, werden wie Wettbüros und Imbissketten zu bloßen Marktorganen.“
Terry Eagleton schreibt im englischen Stil, konsequent in der Aussage, locker lakonisch im Ton, betont lustig in der Kombination der Beispiele.
Seite der englischen Wikipedia
Some articles by Eagleton in der London Review of Books
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