Mariana Leky:
Was man von hier aus sehen kann
»Keiner ist alleine, solange er noch wir sagen kann«,
Selma ist die Großmutter von Luise und die Dörfler merken bald, dass sie irgendeinem Promi aus dem Fernsehen ähnlich sieht. Sie kommen aber erst spät auf Rudi Carrell. Ich habe bis Seite 190 gebraucht, bis mir einfiel, wem der Roman in seiner Struktur und Schreibweise ähnelt: Pu der Bär. „Was man von hier aus sehen kann“ ist ein Kind gebliebener Roman. Was durchaus ein Lob ist. Luise, die Erzählerin, ist anfangs zehn, altert im dritten Teil auf die dreißig und wird dabei nicht alt. Das kindlich Naive hängt auch zusammen mit der – im positiven Sinn – Naivität der Sicht auf die Welt. Ja, der Buddhismus durchweht Personen und Geschehen. Ein unverschämt altmodisches Lesevergnügen.
Wir sind nicht im Hundertsechzig-Morgen-Wald, sondern im Westerwald, der Handlungsraum ist ebenso überschaubar und das Personal eng beschränkt, auch in den Schrullen, die sie zu Menschen machen. Nach Art der Waldbewohner im Ashdown Forest bei Winnie-the-Pooh bilden die Figuren eine verschworene Gemeinschaft. Jede(r) ist ständig auf den Beinen, um sich gegenseitig zu besuchen. (Bis auf Marlies.)
Selma deutete aus dem Fenster, wo drei beschirmte Gestalten den Hang hochkamen, es waren Elsbeth, der Einzelhändler und Palm.
Selma öffnete die Tür.
»Hallo«, sagte Elsbeth und hielt ihr einen Küchenmixer entgegen. »Ich wollte dir endlich mal den Mixer zurückbringen. Ich war zufällig gerade in der Nähe.«
»Genau, und wir haben auch Eis mitgebracht«, sagte der Einzelhändler hinter Elsbeth, der ein riesiges eingewickeltes Tablett auf den Armen trug.
Selma trat zur Seite, und die drei kamen hintereinander in die Küche. Ich rutschte näher an den Optiker heran und war mir nicht mehr sicher, ob es tatsächlich gut war, die Welt hereinzulassen. Der Optiker lächelte mich an. »Es geht im Buddhismus ja auch darum, jedem Erleben bedingungslos zuzustimmen«, flüsterte er.
Was geschieht, fasst Luise für ihren neuen Freund Frederik zusammen:
Und dann blieb ich stehen. Ich hielt Frederik am Ärmel seiner Kutte fest.
»Es ist folgendermaßen«, sagte ich. »Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt. Mein bester Freund ist gestorben, weil er sich an eine nicht richtig geschlossene Regionalzugtür gelehnt hat. Das ist erst zwölf Jahre her. Immer, wenn meine Großmutter von einem Okapi träumt, stirbt hinterher jemand. Mein Vater findet, dass man nur in der Ferne wirklich wird, deshalb ist er auf Reisen. Meine Mutter hat einen Blumenladen und ein Verhältnis mit einem Eiscafebesitzer, der Alberto heißt. Diesen Hochsitz da«, ich zeigte auf die angrenzende Wiese, »hat der Optiker angesägt, weil er den Jäger umbringen wollte. Der Optiker liebt meine Großmutter und sagt es ihr nicht. Ich mache eine Ausbildung zur Buchhändlerin.«
All das hatte ich noch nie jemandem gesagt, weil es teilweise Dinge waren, die alle, die ich kannte, wussten, und teilweise Dinge, die keiner wissen durfte. All das sagte ich zu Frederik, damit er umstandslos einsteigen konnte.
Frederik schaute über die Felder und hörte mir zu wie jemand, der versucht, sich eine Wegbeschreibung genau einzuprägen.
»Und das ist eigentlich so weit alles«, sagte ich.
Frederik lebt als buddhistischer Mönch in einem Kloster in Japan. Er passt wunderbar in die kleine Welt von Luise und ihren Freunden, in der jeder am Leben des anderen Anteil nimmt. Auch der Tod wird nicht ausgespart, aber er lässt sich ertragen, wenn man sich gegenseitig stützt. (Der Tod kündigt sich dadurch an, dass Selma von einem Okapi träumt.) Hilfe findet man daneben in der buddhistischen Leichtigkeit, der auch keine Trennung widerstehen kann.
Viele Dinge ziehen sich als running gags durch den Roman, man freut sich, wenn sie wieder auftauchen oder erwähnt werden. Das Reh etwa, das immer wieder am Waldrand steht und durch lautes Türenzuschlagen vertrieben wird. Oder Marlies, die immer sagt, es sei niemand zuhause, wenn Besuch vor der Tür steht. Mariana Leky macht das sorgfältig und liebevoll und verspielt und „zauberhaft“ (Rüdiger Safranski) und vergisst nichts. „Das ist gelegentlich ein bisschen kitschig, macht aber nichts, weil es halt die Herzen wärmt und weil es schön erzählt und gut gemacht ist.“ Man kann den Kitsch aber auch als Ironie lesen. (Jörg Magenau, SZ) Als Leser ist man nicht Außenstehender, sondern fühlt sich von Anfang an daheim und geborgen. Auch, wenn es regnet.
Frederik klappte den entkräfteten Schirm zusammen und nahm meine Hand, als habe es eine Zeitverschiebung gegeben, als seien seit gestern Nacht, als er meine Hand zum ersten Mal genommen hatte, viele Jahre vergangen und als sei es ganz selbstverständlich, dass wir uns an den Händen hielten.
Wir rannten zurück, so wie ich nur als Kind, nur mit Martin gerannt war, wenn wir geglaubt hatten, ein Höllenhund oder sonst ein Tod, den es nicht gab, sei hinter uns her. Alaska rannte neben uns, das war anstrengend, denn durch all den Regen in seinem Fell war er viel schwerer als sonst.
Einmal im Jahr kann man etwas so Wohlfühliges schon lesen.
2017 315 Seiten
Leseprobe bei der Büchergilde Gutenberg
Besprechung im Literarurclub des SRF (Video 11 Minuten)
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