Daniel Kehlmann: Tyll
Wenn man „Tyll“ als historischen Roman liest, liest man in die Irre. Man findet keine durchgehende chronologische Handlung, keine Personen, deren Leben man ständig begleitet, auch keinen Abriss der Zeit, des Fortgangs des Krieges, keine politischen oder soziologischen Studien. Man lernt wenig dazu und muss die wikipedia oder einschlägige Bücher oder Zeitschriften bemühen. „Tyll“ ist ein Stationenroman. An verschiedenen Schauplätzen stößt man auf Personen, die man schon kennt, die aber die Gewalt der Zeit in neue Kalamitäten geworfen hat. Und man erkennt Leitmotive, in denen sich die Lebensversuche der Personen abbilden. Die Methode der Bebilderung durchschaut man natürlich nicht gleich. Man weiß nicht, dass Athanasius Kircher ein symptomatischer Protagonist ist, dass man der englischen Königstochter Liz als Winterkönigin wieder begegnen wird, dass der Esel sich als treuer Begleiter erweist.
Kehlmann offenbart den erdverhafteten Mangel an Nahrung für Körper und Geist, er schreibt sich hinein in die schlammigen und eisigen Gräuel des Krieges. Er zeigt die ohnmächtigen Mühen, sich das Leben und die Machenschaften zu erklären, die zerschlagenen Versuche, sich von den Gewalten zu befreien. Doch die Freiheit ist knapp dosiert, man findet sie nur in den befristeten Luftsprüngen der Gaukler und in der Erleichterung des Todes. Und, vielleicht, in den Märchen. Die Märchen sind die Weltdeutungen für die Kinder und das einfache Volk, man kann in ihren Erzählungen schlummern.
«Wie geht es denn aus?», flüstert der Junge. «Kommen sie ins Schlaraffenland?»
«Nein», flüstert sie. «Sie finden ein Schloss, in dem ein böser König regiert, den töten sie, und das Mädchen wird Königin.»
Tyll Ulenspiegel ist die Symbolfigur der Erhebungen. Er ist der „Herr der Luft“ (Kapitel), er steigt aufs Seil über die Köpfe der Unterdrückten, er wirft die Bälle durch die Luft – und er darf sich als Narr auf Augenhöhe der Mächtigen begeben. Das alles ist kurzer Zauber, dafür „musst du üben. Das muss man immer. Üben und üben und üben. So, wie du den Tanz auf dem Seil üben musst oder das Gehen auf Händen, oder wie du noch lange üben musst, bevor du es schaffen wirst, sechs Bälle auf einmal in der Luft zu halten: Immer und immer musst du üben.“ Am Ende des Lebens schwebt die Seele in die Höhe und man kommt schneller voran. Ein schönes Bild:
Also setzte er von neuem an und wollte schreiben, doch es war zu spät, es ging nicht mehr. Seine Hand erschlaffte.
Er konnte nur hoffen, dass er alles, was wichtig war, schon aufgeschrieben hatte.
Ohne Mühe erhob er sich und ging. Als er sich noch einmal umsah, merkte er, dass sie wieder zu dritt waren: der Narr, kniend in seinem Fellmantel, der König auf dem Boden, halb war sein Körper schon bedeckt vom Weiß, und er. Der Narr sah auf. Ihre Blicke begegneten einander. Der Narr hob die Hand an die Stirn und verneigte sich.
Er senkte grüßend den Kopf, wandte sich ab und ging davon. Nun, da er nicht mehr einsank, kam er viel schneller voran.
Das Gelände ist unsicher und es gibt keinen, der einem den Weg weist. Schon nach Augsburg oder gar Prag ist kaum zu finden, in den Wäldern lauern die Geister und die Marodeure, wer nach Wissen sucht, gerät an Scharlatane oder wird als Hexe verbrannt oder gehängt. Der “Weltweise“ und Drakontologe Athanasius Kircher ist ein Schwindler, der den Leuten die Mär vom letzten Drachen aufbindet und sich schamlos im Namen der Kirche in den Prozess gegen die Vorverurteilten aus dem gemeinen Volk einmischt.
Alle Hexen fliegen, willst ausgerechnet du nicht geflogen sein, wirst du es bestreiten? Und der Sabbat? Hast du nicht den Satan geküsst, Hanna? Wenn du sprichst, wird dir vergeben, aber wenn du schweigen willst, dann schau, was Meister Tilman in der Hand hat, er wird es verwenden.
«Das ist geschehen», liest Doktor Kircher die letzten Zeilen vor, «auf solche Art habe ich, Hanna Krell, Tochter von Leopoldina und Franz Krell, dem Herrn widersagt, die Gemeinschaft der Christen verraten, meine Mitbürger mit Schaden belegt und die heilige Kirche und meine Obrigkeit auch. In tiefer Scham gestehe ich und nehme die gerechte Strafe an, so wahr mir Gott helfe.»
Er verstummt. Eine Fliege summt an seinem Ohr vorbei, fliegt einen Bogen, setzt sich auf seine Stirn. Soll er sie verjagen oder tun, als merkte er es nicht? Was ist der Gerichtswürde angemessener, was weniger lächerlich? Er schielt zu seinem Mentor, aber der gibt ihm keinen Hinweis.
Stattdessen beugt Doktor Tesimond sich vor, sieht Hanna Krell an und fragt: «Ist das dein Geständnis?»
Sie nickt. Ihre Ketten klirren.
Auch Tylls Vater, der Müller Claus Ulenspiegel, “muss das Wissen nun mal packen, wo es sich finden lässt, man ist doch nicht bestimmt dafür, ahnungslos zu vegetieren. Und wenn man niemanden hat, mit dem man sprechen kann, ist es nicht leicht. So viel beschäftigt dich, aber keiner will sie hören, deine Gedanken darüber, was der Himmel ist und wie die Steine entstehen und wie die Fliegen und das überall wimmelnde Leben und in welcher Sprache die Engel miteinander reden und wie Gott der Herr sich selbst geschaffen hat und sich immer noch schaffen muss, Tag für Tag, denn täte er es nicht, hörte alles von einem Moment zum nächsten auf – wer, wenn nicht Gott, sollte die Welt daran hindern, einfach nicht zu sein?”
Auch so einer muss vor die Peinliche Befragung. Der Renaissance hat man den Eintritt ins Deutsche verwehrt, zur Aufklärung brauchts noch Ewigkeiten.
«Hat der Müller es gelesen?»
«Ja, Herrgott, wie soll er es denn gelesen haben!»
Doktor van Haag lächelt. Er sieht Doktor Tesimond an, dann Doktor Kircher, dann den Müller, dann wieder Doktor Tesimond.
«Ja und?», fragt Doktor Tesimond.
«Wenn das Buch auf Lateinisch geschrieben ist!» «Ja?»
«Und wenn der Müller nun nicht Lateinisch spricht.»
«Ja?»
Doktor van Haag breitet die Arme aus und lächelt eder.
«Kann ich was fragen?», sagt der Müller.
«Ein Buch, das man nicht besitzen darf, verehrter Kollege, ist ein Buch, das man nicht besitzen, nicht eines, das man bloß nicht lesen darf. Mit Vorbedacht spricht das Heilige Offizium vom Haben, nicht vom Kennen. Doktor Kircher?»
Über sein Buch sagt Kehlmann, “es geht um Politik“. Das stimmt insofern, als er Machtverhältnisse aufzeigt, seien es die rabiaten Bevormundungen durch die kirchlichen und weltlichen Herrscher, seien es die Raubzüge der raubeinigen Könige, als deren Prototyp man den groben Schwedenkönig Gustav Adolf kennenlernt. Der Winterkönig
sah einen Kartentisch, er sah ein nicht gemachtes Bett, er sah abgenagte Knochen und angebissene Äpfel auf dem Boden. Er sah einen kleinen feisten Mann – runder Kopf mit runder Nase, runder Bauch, struppiger Bart, ausgedünntes Haar, schlaue, kleine Äuglein. Schon kam er auf den König zu, packte ihn mit der einen Hand am Arm und schlug ihm mit der anderen so kräftig gegen die Brust, dass er umgefallen wäre, hätte der Mann ihn nicht an sich gezogen und umarmt.
«Lieber Freund», sagte er. «Alter lieber guter Freund!»
«Bruder», keuchte der König.
Gustav Adolf roch streng, und seine Kraft war erstaunlich. Jetzt stieß er den König weg und betrachtete ihn.
Der Roman endet wie der dreißigjährige Krieg in “Westfalen” (Kapitel). Es geht der Winterkönigin, die ihren Mann und den Krieg überlebt hat, nicht um Politik, sondern um ihr privates Interesse. Sie will für ihren Sohn die Kurfürstenwürde bewahren, welche ihr Mann durch seine unüberlegten Winkelzüge verloren gab. Kehlmann schildert die Episode in Osnabrück am Rande des Friedensprozesses als eine Eulenspiegelei eigener Art. Gegen die “diplomatischen” Spitzfindigkeiten des Protokolls hat Liz, die Enkelin Maria Stuarts, keine Chance.
«Böhmen ist nicht Teil des Reichs», sagte Oxenstierna. «Wir können Prag nicht in die Verhandlungen einbeziehen. Darüber müssten wir zuvor verhandeln. Man muss immer erst aushandeln, worüber man eigentlich verhandeln wird, bevor man verhandelt.» (…)
«Eure Majestät erlauben mir nachzufragen», sagte Salvius. «Damit ich verstehe. Ihr kommt hierher, um etwas zu verlangen, das wir von selbst nie betrieben hätten. Und Eure Drohung ist: Wenn wir nicht tun, was Ihr wollt, dann zieht Ihr Eure Forderung zurück? Wie soll man solch ein Manöver nennen?»
Liz lächelte ihr geheimnisvollstes Lächeln. Nun tat es ihr wirklich leid, dass kein Bühnenrand vor ihr war und nicht das Halbdunkel eines Zuschauerraums mit gebannt lauschendem Publikum. Sie räusperte sich, und obwohl sie ihre Antwort schon wusste, tat sie wegen des größeren Effektes auf die Zuschauer, die nicht da waren, als müsste sie nachdenken.
«Ich schlage vor», sagte sie schließlich, «Ihr nennt es Politik.»
Sie legte den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund, so weit sie konnte. Das hatte sie lange nicht getan. Der Schnee war noch so süßlich und kalt wie einst, als sie ein Mädchen gewesen war. Und dann, um ihn besser zu schmecken, und nur weil sie wusste, dass in der Dunkelheit keiner sie sah, streckte sie die Zunge heraus. –
Die Freiheit im Dunklen, die Freiheit der Närrin.
Ein gutes Buch. Kein aktuelles oder aktualisierendes, ein poetisches. Tyll Ulenspiegel, aus dem Mittelalter in den Roman geholt, ist nur ein Leitmotiv. „Ein Knall, ein Zittern, noch ein Stein fällt und streift seine Schulter. «Ich geh jetzt. So hab ich’s immer gehalten. Wenn es eng wird, gehe ich. Ich sterbe hier nicht. Ich sterbe nicht heute. Ich sterbe nicht!»
2017 475 Seiten
Lese- und Hörprobe beim Rowohlt-Verlag
Daniel Kehlmann über den berühmten Schalk Till Eulenspiegel | Kulturjournal | NDR
Mit „Literatur ist Alles“ möchte Markus Gasser der Literatur, so wie er sie sieht, eine Plattform in der Welt der neuen Medien geben und sein enzyklopädisches Wissen mit einem neuen Publikum teilen.
Ulrich Noethen liest »Tyll« von Daniel Kehlmann (Romananfang)
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