Nachrichten vom Höllenhund


Klüssendorf
25. März 2018, 16:39
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Angelika Klüssendorf: Jahre später

kluessendorfjahreAngelika Klüssendorf erzählt die Geschichte vom „Mädchen“ weiter. Aufgewachsen bei hilflos saufenden und prügelnden Eltern, kam sie in ein Heim und wurde, wie viele, die in der DDR nichts wurden, „Rinderzüchterin“. (Grüße an Gregor Gysi.) Übers Lesen suchte sie ihren miserablen Bedingungen zu entkommen. Jetzt, „Jahre später“, findet April zum Schreiben, aber was

ihr im Leben nicht gelingt, gelingt ihr auch im Schreiben nicht: die genauen Worte zu finden für das, was sie zu wissen glaubt. Wieder der Vorschlag des Verlegers, sie solle über ihr Leben schreiben. Doch sie hat Angst, die Räume zu betreten, in denen die Gespenster lauern. (…)
Sie träumt den Traum seit Jahren. Kinder, acht-, neun­jährig, Mädchen und Jungen, werden von Uniformier­ten aufgefordert, sich auf eine Bühne zu stellen, um dort eine Erschießung zu spielen. Die Kinder lassen sich von den Erwachsenen überzeugen und gehen frohgemut nach vorn. Sie summen und stellen sich ne­beneinander. Die Männer beginnen zu schießen – es sind echte Patronen, die Kinder werden getroffen, kni­cken ein, fallen zu Boden. Aber sie richten sich wieder auf, ungläubig, versuchen weiter gerade zu stehen: Es ist doch nur ein Spiel. Erst als die nächste Salve kommt, zeichnet sich das Begreifen langsam auf ihren Gesich­tern ab. Sie stürzen, noch immer ungläubig, und ster­ben.
April wünscht sich, der Traum wäre endlich ausge­träumt.”

April hat aus einer früheren Beziehung einen Jungen, Julius. Durchs Schreiben gerät sie an einen Mann, einen landesweit gerühmten Chirurgen, der sich im Verlauf des Romans als exzentrisches Arschloch erweist. Zunächst hofft sie in der Beziehung Geborgenheit zu finden, doch schon die „Heirat. Das ist Ludwigs nächster Plan“ wird zum Menetekel: “Als sie unterschreiben soll, hat April ihren neuen Namen vergessen und un­terschreibt mit einem kunstvollen Gekrakel. Danach frühstücken sie in einem Cafe, nicht weit vom Standes­amt. April fühlt sich wie eine Fremde. (…) Auf der Straße überkommt sie ein Glücksgefühl, sie ist eine verheiratete Frau und nichts hat sich verändert. Kurz denkt sie, ich kann abhauen, wenn es schiefläuft, ich kann immer noch abhauen.” Man wünscht ihr Beruhigung, weiß aber, anders als April selbst, dass es für sie nur den Falschen geben kann.

Sie ist in ihrer seelischen Depravation wenig für ein Zusammenleben präpariert, in der aufgeblasenen Lebens- und Berufswelt ihres Mannes Ludwig fühlt sie sich fremd. Ludwig kennt Rücksicht nur als Selbstgefälligkeit. “Beide erfinden sich Rollen, denen sie kaum noch entkommen.“ (Jens Bisky, SZ) Beide sind nicht autark. Keine tragfähige Basis für eine Familie, der gemeinsame Sohn Samuel darf als Betriebsunfall gelten. Zutraulicher sind die Hunde. Die Ehe scheitert, was sonst.

Vor zwei Monaten ist Ludwig ausgezogen. Er hat am Vorabend angerufen, um über die Aufteilung der Wohnung zu sprechen. April will ein Satz nicht aus dem Kopf gehen: Du wirst schon sehen, wie das ist, wenn mein Glanz nicht mehr auf dich abstrahlt. Nach einem kurzen Auflachen wurde ihr klar, dass er es ernst meint.

Im Zentrum des kurzen Romans steht die “Anatomie einer toxischen Partnerschaft” (Klappentext) Was danach kommt, sind Anhängsel. Angelika Klüssendorf nähert sich den Personen und ihren Aufeinandertreffen distanziert, doch aus der Perspektive der Frau. April ist eine schwierige, gehandicapte Person, ein “beschädigter Mensch”, doch kennt man sie besser als den Mann, erfährt über ihre Vergangenheit und ihre Heimsuchungen, man möchte sie verstehen. Ludwig bleibt der Fremde, seine Handlungen und Worte erscheinen sachgrundlos, beide, Mann und Frau,  sind hilflos.

Der Stil ist nüchtern, ernüchtert, lakonisch, fast unbeholfen und dabei doch unmittelbar präsent, sezierend. Ausschmückungen wären unangemessen. Das Grauen lauert in den Hauptsätzen.

Das sind bloß sie, zwei Menschen, Mann und Frau. Sein Gesicht schrumpft, wird kalt. April streckt die Hand aus, doch sie kann ihn nicht mehr erreichen. Nächte später sieht sie ein Mädchen vor sich, in einem Mietshaus am geöffneten Fenster, sie erkennt einen dünnen Kinderarm, der Arm holt aus, und dann fliegt Scheiße durch die Luft. Das Mädchen ist noch namen­los und ohne Schutz. Das wird mein erster Satz sein, denkt sie. Scheiße fliegt durch die Luft. (So beginnt der erste Roman über “Das Mädchen”.)

2018            160 Seiten

Leseprobe und Lesungsvideo beim Verlag Kiepenheuer & Witsch

2-3

 


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