Nachrichten vom Höllenhund


Stamm
2. April 2018, 14:19
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Peter Stamm:
Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt

stammgleichgueltigkeitDas Thema ist ja nicht gerade selten behandelt worden. Bin ich, wenn ich älter bin, noch derselbe, der ich war vor Jahren? Wie greifen getroffene Entscheidungen in die Entwicklung der Person ein? Bin ich nicht immer schon befangen, wenn ich mich mit meinem jüngeren Ich befasse? Der Literatur steht die Phantasie zur Verfügung, sie kann die verschiedenen Selbst-Ichs in „Wiedergänger“ inkarnieren, kann die Personen aus sich heraustreten lasen und sie mit früheren Manifestationen konfrontieren. Ein intellektuelles Spiel, wenn man sich auf das Phantastische einlässt, die großen Fragen des Lebens, die Rollenspiele. (Magdalena und Lena sind Schauspielerinnen.)

Christoph war mit Magdalena liiert. Dann trifft er auf den jüngeren Chris, der ihn in vielem an sich selbst erinnert, und er lernt in Schweden (weshalb dort?) die jüngere Magdalena kennen: „Lena, sagte sie und streckte mir die Hand hin. Chris­toph, sagte ich und gab ihr etwas irritiert die Hand. Nicht Magdalena? Niemand nennt mich so, sagte sie mit einem Lächeln.” So war’s oder so ähnlich, denn Alt und Jung amalgamieren, dass einem beim Lesen bald der Kopf verschwirrt. Als weitere Ebene verfügt Stamm, dass beide Chris(tophs) ein Buch schreiben, das vielleicht schon geschrieben ist oder nicht geschrieben wird. Die Literatur als Vexierspiegel ihrer selbst.

Das ist viel, vielleicht zu viel, denn außer diesen Gedankenschwurbeln hat der Roman nichts, an das man sich halten könnte. Es fehlen die Erlebnisse, das Schreiben kreist um die Meta-Ebene und verflacht sich selbst. Das nahezu einzige, was die Personen bewegt neben dem Reden ist das Gehen, wandern zuweilen, wenn die Wege weiter werden. Sie verlaufen sich in hellere und dunklere Gassen, begehen belebtere und weniger heimgesuchte Regionen, finden sich im Inneren und den Rändern der Städte. Gerne führt der Weg vom geschlossenen Raum ins Freie, denn das ist, achtung!, ein Symbol. Allerdings ein wohlfeiles, weil frei verfügbar und gerne eingesetzt. Der Weg ist nicht das Ziel, sondern die ziellose Suche, die Verfehlung. Alles dreht sich im Kreis.

Wohin gehen wir?, fragte ich. (…) Sie sagte, sie gehe weiter, sie hasse es, Wege zurückzugehen. Ich auch, sagte ich, gehen wir zusam­men weiter. (…) Wir irrten auf den verschlungenen Wegen im Park herum, aber es spielte keine Rolle, wir hatten ja kein Ziel, nicht einmal eine Richtung, in die wir gehen woll­ten. (…) Ich mag Friedhöfe, sagte Lena. Ich weiß, sagte ich. Es ist kalt, sagte sie. Wollen wir uns ein wenig bewegen? (…) Ich ließ sie an mir vorüber­gehen, ohne sie anzusprechen, und folgte ihr in Rich­tung Friedhof.

Ich hielt es nicht mehr aus, auf sie zu warten. Das Hotelzimmer kam mir vor wie eine Gefängniszelle, ich musste an die frische Luft, musste mich bewegen, um nachdenken zu können. (…) Meine Erregung ließ langsam nach, zugleich wuchs meine Gewissheit, dass kein Weg zurückführte. Es war zu spät, zum Glück war es zu spät.
Ich hatte keine Ahnung, wohin ich ging, trotzdem fühlte ich mich befreit.

Wenn alles, was man macht, zweimal geschieht, wenn jede Ent­scheidung, die man fällt, nicht nur einen selbst betrifft, sondern auch einen anderen, der einem ausgeliefert ist, dann überlegt man besser zweimal, was man tut.
Das ist eine seltsame Vorstellung, sagte Lena, dass es irgendwo jemanden geben könnte wie mich. Nicht nur jemanden, der aussieht wie ich, der dasselbe Leben führt, sondern der auch so denkt und empfindet wie ich. Ich glaube, ich finde die Vorstellung schön. Es ist, als hätte man eine sehr, sehr gute Freundin, die alles von einem weiß und von der man alles weiß, ohne dass man darüber sprechen muss. Nein, sagte ich, es ist, als sei man kein ganzer Mensch mehr, als löse man sich auf. (…)

Meine Wut auf Chris wurde immer größer, mir war, als stehle er mir mein Leben, indem er es nachlebte, als lösche er meines aus und damit mich selbst. Und plötzlich war ich überzeugt, dass nur sein Tod mich erlösen und wieder in mein Recht setzen könnte.

Befreiung, Erlösung, Auflösung. Das sind Begriffe, über die man philosophisch debattieren könnte, auch religionsphilosophisch, wie es sich bei Stamm immer wieder einschleicht. Aber Stamm gibt vor, einen Roman zu schreiben, doch dieser Roman bleibt blutleer, unbelebt, gleitet ab ins esoterische Gewäsch. Auch der literarische Vorgänger, Thomas in “Weit über das Land”, geht, um nicht dableiben zu müssen, um das Leben nicht in seiner Gewöhnlichkeit an sich heranlassen zu müssen. Er wartet auf das „Hochgefühl des Unterwegsseins“. Auch dieser Roman verschlingt sich mit dem Ende. Stamms Debüt „Agnes“ spielt mit dem Gedanken, dass eine Geschichte schicksalhaft in das Leben eingreift. Stamm treibt dieses Spiel weiter, verdichtet und vertieft die Spekulationen und strebt nach – der Auflösung. Der nächste Schritt wäre: Schweigen.

Katharina Teutsch (FAZ) nennt den Text wohlmeinend “Gedankenspiele eines alternden Romanciers“, Björn Hayer (SPIEGEL) „ überzeugt die mühevoll zusammengezurrte und vorhersehbare Handlung“ zu wenig. „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt” sei “ein im höchsten Maße kunstvoller, aber auch künstlicher Roman (…), ein poetisch-philosophisches Sinnbild, das sich als längere Erzählung tarnt, ein komplexes Gebilde, das keine Hauptansicht bietet”. (Wolfgang Tischer, literaturcafe.de) “Die Unerklärbarkeiten führen nicht in ein geheimnisvolles Dunkel, sondern werden mit einer zuweilen arg banalen Schicksalsgläubigkeit der Protagonisten zugekleistert, die dann feststellen, dass am Ende doch alles so kommt „wie es kommen muß“. Mit diesen Plattheiten stürzt Stamm leider immer wieder in die Niederungen des Illustriertenromans ab. So breitet sich bei fortschreitender Lektüre beim Lesen eine sanfte Gleichgültigkeit gegenüber diesem sprachlich so hoch ambitionierten Roman aus. Aber die letzten vier Seiten lohnen sich dann doch.“ (Lothar Struck, literaturkritik.de)

Der Titel “Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt” stammt aus dem Epilog von Camus’ “Der Fremde”: (“La tendre indifférence du monde”).

2018                   155 Seiten

Leseprobe beim S.Fischer Verlag

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