Nachrichten vom Höllenhund


Menasse
7. Mai 2018, 18:27
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Robert Menasse: Die Hauptstadt

menassehauptstadt60000 Menschen arbeiten in Brüssel für die EU. Viele, wenn auch im Vergleich mit einzelnen Ländern gar nicht so viele. Robert Menasse hat sich die Brüsseler Mannschaften und Machenschaften aus der Nähe angeschaut und dazu einen Roman mit dem Titel „Die Hauptstadt“ geschrieben. Doch ist dieser Zusammenhang vordergründig und zudem von der Rezeption in den Vordergrund geschrieben worden. Das führte – nicht zuletzt – zum Deutschen Buchpreis 2017.

Natürlich geht es auch um die Europäische Union, die sich in Brüsssel versammelt und aufstellt. „Hier in Brüssel? Da saßen stän­dig Menschen zusammen, mit verschiedenen Sprachen und verschiedenen kulturellen Prägungen, vor allem aus den Staa­ten im Osten kamen viele auch aus Arbeiter- oder Handwer­kerfamilien, sie hatten ganz unterschiedliche Erfahrungen, und alles, was Grace Atkinson in zwanzig Minuten zu klären gewohnt war, dauerte hier Stunden, Tage, Wochen.” Die Entscheidungsprozesse sind bürokratisch verklausuliert, die Interessen prallen national und lobbymäßig gefiltert aufeinander. Die jeweiligen Vertreter sind zudem durch Privatismen (ab)gelenkt. Viel Stoff. Wie soll ihn der Autor bändigen?

Zuerst durch das Symbol, dann durch den roten Faden. Die EU als Koben, Brüssel der Trog, das Schwein irrt durch die Haupstadt, wird da und dort gesehen (oft gleichzeitig), lässt sich weder orten noch einfangen. Schließlich startet man einen Wettbewerb, um dem Schwein mit einem Namen habhaft zu werden und es medien-kommerziell einzuhegen. Das Schwein stellt Menasse in das Zentrum seiner Erklärung Brüsseler Marktmechanismen. Die Pläne für den Export von Schweinen (bevorzugt nach China, dort gelten selbst die Ohren als Schmankerl) werden von nationalen Interessen hintertrieben.

Der Streitpunkt, der zur Eskalation geführt hatte, waren ausgerechnet die Schweine. Das war es, was Frigge »die Schweinerei« nannte, andere in der Kommission sprachen in Hinblick auf den Konflikt zwischen TRADE und AGRI gar vom »Krieg der Schweine«. AGRI wollte durch Kürzung von Subventionen einen Rückgang der Schweineproduktion erreichen, um den Preisverfall von Schweinefleisch auf dem europäischen Markt zu stoppen, TRADE aber wollte die Schweineproduktion verstärkt fördern, weil sie im Außenhandel, vor allem mit China, große Wachstumschancen sah. Deshalb wollte TRADE ein Mandat, um den Export von Schweinefleischprodukten in Drittländer für ganz Europa zu verhandeln, und durchsetzen, die Schweineproduktion in Europa entsprechend der Nachfrage auf den Weltmärkten auszurichten, AGRI aber wollte bloß den Binnenmarkt regulieren, gemeinsame Standards durchsetzen, wobei die Veterinär-Standards wiederum in die Verantwortung der DG SANCO fielen. Und beide wollten sie die Außenhandelsverträge in der Souveränität der einzelnen Staaten belassen. (…)
Der Kompetenzstreit beruhte darauf, dass das Schwein eine Querschnittmaterie war: das lebende Schwein im Stall »gehörte« der DG AGRI, nach der Schlachtung, als Schinken, Eisbein, Schnitzel, Wurst oder was auch immer, jedenfalls als »processed agricultural good« war die DG GROW zuständig, und erst wenn es Europa verließ, sozusagen als Schwein im Frachtschiff oder im LKW, gehörte es der DG TRADE. Das Problem war, dass man über das Schwein im Container nicht verhandeln konnte, wenn man über das Schwein im Heimatstall nicht bestimmen durfte. Die GROW war in dieser Frage inoffensiv. Dort beschäftigte man sich mit Regeln für die Auflistung von Inhaltsstoffen, Definitionen von Höchstgrenzen beim Einsatz von Pharmazeutika und Chemikalien, Qualitätskriterien. Ihnen war das Schwein buchstäblich Wurst, es sollte nur richtig etikettiert sein. Das Match musste zwischen AGRI und TRADE entschieden wer­den.

Der Faden, den Menasse durch den Roman legt, ist die Vorbereitung der Feier zum 50. Jubiläum der Europäischen Kommission, dem Jubilee-Project. Angesiedelt ist es im Alibi-Ressort Kultur, denn alle gehen davon aus, dass das Projekt an den nationalen Zwistigkeiten scheitern wird. „Nach au­ßen war das Projekt völlig mit dieser Xenopoulou verbunden, die sich da enorm wichtiggemacht hatte. Xeno wiederum war sich nicht so sicher, sie fand, wenn es noch Diskussions­bedarf gab, dann sollte sich Martin darum kümmern. Das Projekt war doch Martin Susmans Idee gewesen.” Menasse legt die Vorbereitung in die Hände von Randfiguren. Er nimmt die Überlegungen damit heraus aus den harten Entscheidungszirkeln, er kann eingehend von den privaten Interessen, Problemen und Umgebungen der damit betrauten Personen erzählen und er kann persönliche Illusionen spinnen. Der Autor versetzt sie in die Romanfigur Professor Erhart. Erhart definiert die politisch-wirtschaftlichen Motive der Gründung der Gemeinschaft um in moralisch-humane. Erharts Vision:

Obwohl ich ja Brüssel als EU-Hauptstadt zunächst für sinnig hielt: die Hauptstadt eines gescheiterten National­staats, die Hauptstadt eines Landes mit drei Amtssprachen. Aber nein, ich meinte: Europa muss eine neue Hauptstadt bauen. Eine neue Stadt, deren Errichtung die Leistung der Union ist, und nicht eine alte Reichs- oder Nations-Haupt­stadt, in der die Union nur Untermieterin ist.
Und wo wollen Sie diese Stadt bauen? In welchem Nie­mandsland? In der geographischen Mitte des Kontinents? (…)
Deshalb muss die europäische Hauptstadt natür­lich an einem Ort gebaut werden, dessen Geschichte maß­geblich für die Einigungsidee Europas war, eine Geschichte, die unser Europa überwinden will, zugleich aber niemals ver­gessen werden darf. Es muss ein Ort sein, wo die Geschichte spürbar und erlebbar bleibt, auch wenn der letzte gestorben ist, der sie erlebt oder überlebt hat. Ein Ort als ewiges Fanal für die künftige Politik in Europa. (…)
Er sagte: Und deshalb muss die Union ihre Hauptstadt in Auschwitz bauen. In Auschwitz muss die neue europäische Hauptstadt entstehen, geplant und errichtet als Stadt der Zu­kunft, zugleich die Stadt, die nie vergessen kann. »Nie wie­der Auschwitz« ist das Fundament, auf dem das Europäische Einigungswerk errichtet wurde. Zugleich ist es ein verspre­chen für alle Zukunft. Diese Zukunft müssen wir errichten, als erlebbares und funktionierendes Zentrum. Haben Sie den Mut, über diese Idee nachzudenken? Das wäre doch ein Er­gebnis unserer Reflection Group: eine Empfehlung an den Präsidenten der Kommission, einen Architekturwettbewer auszuschreiben, für die Planung und Errichtung einer euro­päischen Hauptstadt in Auschwitz.

Der Titel des Romans leitet sich primär von dieser Vision ab. Menasse setzt viele Teile zu einem plastischen Panorama zusammen. Es gibt eine Menge Handlungsträger, die man leicht vergessen und verwechseln kann, wenn man beim Lesen nicht aufpasst oder längere Pausen macht. Alle sind ihrer Heimat und Herkunft verbunden, vor allem Österreicher genießen dieses Privileg. Andere, wie der Engländer Morland eignen sich besser zu leisem Spott.

Es ist verrückt, völlig irrational, aber diese Schweinegeschichte war ein wesentlicher Grund dafür, dass George Morland nun zur radikalen Obstruktion überging. Wenn England schon den Schaden hatte, dann sollte es wenigstens die Schädiger verspotten können. Und alles, was der Kommission nun miss­lang, stärkte die britische Position bei den kommenden Ver­handlungen. Und wenn die Kommission, angeblich unter Schirmherrschaft des Präsidenten, eine Image-Kampagne vor­bereitete, dann soll sie scheitern. Ein schlechtes Image der Kommission war gut. Für England.

Sehr oft geht das Personal durch die Straßen und kehrt in diversen Lieblingskneipen ein. Menasse kennt alle Wege und Speisekarten. Auch bei den Strukturen des “Hauptstadt”-Betriebs zeigt sich Menasse als Insider:

Das Kabinett zieht die Fäden. Jedes Wort, das der Präsident sagt, sagen seine Bauchredner. Alles, was er entscheidet, ist längst entschieden, und wenn er etwas unterschreibt, wird seine Hand geführt. Hast du im Fernsehen gesehen, wie der Präsident bei einem Treffen mit Staatschefs den einen plötzlich an der Krawatte zieht und dem anderen einen kleinen Schubs gibt? Das ist das einzig Unvorbereitete und Eigenständige, was er sich erlauben kann, sozusagen seine persönliche Note in dieser Mechanik der Macht, das ist sein ironisches Spiel: Er, der an so vielen Fäden hängt, macht sich pantomimisch darüber lustig, indem er zieht und schubst, als wäre er selbst der Strippenzieher.

Es geschieht auch ein Mord, dessen Funktion ich aber schon wieder vergessen habe. DerRoman ist eine intrikate Melange, gut abgerundet, wohlwollend ironisch, immer wieder amüsierend. Klug und gelehrt, philosophisch und anthropologisch, sprachmächtig. Menschlich. Wer harte Fakten über die EU und Metropole und Moloch Brüssel lesen will, sollte zum Sachbuch greifen.

Die Wahrheit ist, dass es bis in die Köpfe hinein so unglaublich still ist unter dem gottlosen Firmament. Unser Geschwätz ist nur das Echo dieser Stille. Kalt zog sich sein Herz zusammen, dehnte sich aus. Zog sich zusammen, dehnte sich aus. Er atmete ein, er atmete aus.

2017            460 Seiten

2-

 


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