Éric Vuillard: Die Tagesordnung
Éric Vuillard konfrontiert die Nazi-Regierung mit verschiedenen Gesprächspartnern – und er lässt sie sehr schlecht aussehen. Nein, nicht die Nazis. Da kommt es zu einer „Konferenz“ der Ankerleute der deutschen Wirtschaft mit Göring – und die Bosse zucken die Börsen, dass es sogar der Partei fast die Stimme verschlägt. Da empfängt Göring den englischen Lord President of the Council Halifax und dieser Lord aus altem Adel lässt sich von den Nazis vollstinken und denkt, er habe Hitler besänftigt (Appeasement). Da besucht der österreichische klerikalfaschistische Kanzler Kurt Schuschnigg Hitler auf dem Berghof und wird von diesem dermaßen als Witzfigur vorgeführt, dass der Berichterstatter Vuillard seine zornige Freude daran hat.
Éric Vuillard setzt sich bei den Treffen mit an den Tisch und erzählt so enragiert wie ironisch distanziert davon. Er hat den Vorteil, später zu leben, im Nachhinein vieles/alles besser einschätzen zu können. Und doch wird man als Leser darin bestätigt, dass man es auch schon vor 80 Jahren hätte spüren, sehen, wissen können, ja müssen, was da vor sich ging. Nicht, dass damit die Nazis entlastet würden, aber dass die Gegner (?) samt und sonders solche Hampelmänner waren, macht einen Éric Vuillard wütend. Und diese Wut überträgt sich auf den Leser.
Wir könnten uns nun reihum jedem der vierundzwanzig das Palais betretenden Herren nähern, ihre geweiteten Kragen, ihre Krawattenknoten streifen, uns für einen Augenblick in ihren knabbernden Schnurrbärten verlieren, zwischen den Tigerstreifen ihrer Jacketts die Gedanken schweifen lassen, uns in ihre traurigen Augen versenken, und dort, tief auf dem Grund der gelben und bitteren Arnikablüte fänden wir die gleiche kleine Tür; wir würden an der Klingelschnur ziehen und in die Zeit zurückreisen, wo uns die immergleiche Abfolge von Ränken, klugen Eheschließungen und dubiosen Geschäften geboten würde – der eintönige Bericht ihrer Großtaten. (…) Wir sind im Nirwana der Industrie und Finanz. Bisher sind alle still und manierlich, ein bisschen groggy nach der bald zwanzigminütigen Wartezeit; der Rauch ihrer Lötkolben brennt ihnen in den Augen. (…)
Endlich betritt der Reichstagspräsident den Raum: Hermann Göring. (…) Göring macht seine Hausherrenrunde, hat für jeden ein persönliches Wort und schüttelt wohlmeinend sämtliche Hände. Doch der Reichstagspräsident ist nicht nur zu ihrer Begrüßung gekommen, er nuschelt ein paar Willkommensworte und kommt umgehend auf die baldigen Wahlen am 5. März zu sprechen. Die vierundzwanzig Sphinxe lauschen aufmerksam. Der in Aussicht stehende Wahlkampf sei entscheidend, erklärt der Reichstagspräsident, mit der Instabilität des Regimes müsse nun endlich Schluss sein; die Wirtschaftstätigkeit verlange Umsicht und Entschlossenheit. Die vierundzwanzig Herren nicken andächtig mit dem Kopf.
„Die Tagesordnung“ ist kein Roman. Vuillard nutzt schriftstellerische Freiheiten, doch ist er überzeugend informiert, nennt Quellen, greift auf Protokolle oder „Wochenschauen“ zurück. Er gibt sich auch als gestaltender Erzähler zu erkennen. Im Französischen nennt man die Methode „recit“, im deutschsprachigen Raum kommt dem die Geschichtserzählung nahe. Ein subjektiver Faktor liegt schon in der Anordnung des Materials, auch die Begrifflichkeiten werden nicht neutral sein können, Schließlich mischt sich der Erzähler selbst ein, auch fragend.
Hätte der Reichsjägermeister ihn also tatsächlich in seinen Schal aus Nebel und Staub gewickelt? Dabei muss Lord Halifax doch genau wie die vierundzwanzig Hohepriester der deutschen Industrie hinlänglich über Göring Bescheid gewusst und die Grundzüge seiner Geschichte gekannt haben, sein Leben als Putschist, sein Faible für Fantasieuniformen, seine Morphiumsucht, seine Internierung in Schweden, die niederschmetternde Diagnose, die auf Gewaltbereitschaft, psychische Störung und Depression hinwies, seine Selbstmordneigungen. Er konnte doch nicht einfach am Bild des Jungfernflughelden, des Ersten-Weltkriegs-Piloten, des Fallschirmverkäufers und alten Soldaten festhalten. Halifax war weder naiv noch dilettantisch; er muss zu gut informiert gewesen sein, um diesen Ausflug, bei dem man die beiden in einem kleinen Film das Wisentgehege bewundern und einen übertrieben lässigen Göring über seine Lebensweisheiten dozieren sieht, nicht ein bisschen dubios zu finden. Unmöglich konnte er Görings bizarre kleine Hutfeder übersehen, den Pelzkragen, seine abstruse Krawatte.
Vuillards Haltung wird auch deutlich, wenn Vuillard vom „Anschluss“ Österreichs erzählt. Die Österreicher stehen an der Einmarschstrecke und wedeln mit den gekauften Hakenkreuzfähnchen, doch die Deutschen kommen nicht, sie stecken im Panzerstau, wie lächerlich, kein Fahrzeug kann alleine fahren. Wo ist dieses Wissen geblieben? Auch darum geht es Vuillard.
Wir werden es nie wissen. Man weiß nicht mehr, wer spricht. In einem bestürzenden Fluch haben sich die Filme von damals in unsere Erinnerungen verwandelt. Der Weltkrieg und sein Präludium werden in diesem unendlichen Film mitgerissen, in dem das Wahre nicht mehr vom Falschen zu unterscheiden ist. Und da das Reich mehr Regisseure, mehr Schnittmeister, Kameramänner, Tontechniker und Maschinisten rekrutiert hat als alle anderen Protagonisten dieser Tragödie, kann man sagen, dass bis zum Kriegseintritt der Russen und Amerikaner die Bilder, die uns vom Krieg überliefert sind, für die Ewigkeit von Joseph Goebbels inszeniert wurden. Die Geschichte entrollt sich vor unseren Augen wie ein Film von Joseph Goebbels. Einfach sagenhaft. Die Wochenschauen werden zum Vorbild der Fiktion. So erscheint der Anschluss als grandioser Erfolg. Doch die Bilder wurden natürlich erst nachträglich mit dem Jubel unterlegt; mithilfe der sogenannten Overdub-Technik. Und es ist gut möglich, dass keine jener unglaublichen Ovationen bei den Auftritten des Führers dem geglichen hat, was wir hören.
Ich habe mir diese Filme nochmal angeschaut. Natürlich darf man sich keine Illusionen machen, es wurden aus ganz Österreich Nazi-Militanten herbeigekarrt, Gegner und Juden inhaftiert: eine ausgewählte, bereinigte Menge; doch es sind echte Österreicher aus Fleisch und Blut, keine bloße Kinomenge. Es sind ausgelassene, blond bezopfte Backfische aus Fleisch und Blut, und das kleine Pärchen, das lächelnd mitbrüllt – ach, all diese lächelnden Gesichter! Diese Gesten! Die Wimpel, die im Zugwind der Wagenkolonne flattern! Kein einziger Schuss wurde abgefeuert. Wie traurig!
Vuillard erzählt dem Informierten wenig Neues, er erzählt es aber anders. Er erzählt es wertend, wie es einem Historiker nicht geziemt, und er erzählt es mit ungezähmtem Zorn, wie es einem Schriftsteller zukommt, wenn er seinen Job ernst nimmt. Iris Radisch erfreut sich an Pointen und Aperçus und einer kleinen Prise französischen Pathos‘ (ZEIT), Christina Lenz findet, der Autor entreiße das Bekannte dem gewohnten Blick und forme es zu einem „schaurigen“ Kammerspiel, virtuos montiert, spannend und hochpolitisch. (FR) Vuillards Dreh, historische Szenen knapp, genau bis zur Schweißperle der Figuren zu kondensieren, macht dem SZ-Kritiker Joseph Hanimann sichtlich Freude. Und lässt ihn Teil der Szene werden. Dass es sich dabei stets um schräge Momente handelt, Augenblicke, in denen die Geschichte kurz aus dem Ruder läuft,macht die Sache für den Rezensenten so reizvoll. Jochen Schimmang (FAZ) betont, Vuillard „zeigt keineswegs große Momente der Geschichte neu, sondern montiert seine Bilder brav so aneinander, dass eine bloße Nacherzählung dessen dabei herauskommt, was allgemein als historisch gesichert erscheint. (…)Guido Knopp hätte es besser gemacht.“ Liegt das „Missverstehen“ am Rezensenten oder an der Zeitung? Ist diese Art der Kritik nicht auch schon ideologisch? (Kritikermeinungen nach Perlentaucher)
Schauen wir, wie gesetzt und vernünftig sie an jenem 20. Februar warten, während der Teufel direkt hinter ihnen auf Zehenspitzen vorbeischleicht. Sie plaudern; ihr kleines Konsistorium gleicht auf ein Haar hundert anderen dieser Art. Wir sollten nicht glauben, dass all das einer fernen Vergangenheit angehört. Es sind keine vorsintflutlichen Monster, jene Geschöpfe, die in den Fünfzigerjahren kläglich verschwunden sind, unter dem von Rossellini dargestellten Elend, in den Trümmern Berlins. Ihre Namen gibt es noch immer. Ihre Vermögen sind unermesslich. Ihre Gesellschaften sind zum Teil zu allmächtigen Konglomeraten zusammengewachsen. (…) Krupp war jedoch nicht der einzige, der derlei Dienste in Anspruch nahm. Auch seine Kumpane des Geheimtreffens vom 20. Februar nutzten sie; hinter den verbrecherischen Leidenschaften und der politischen Gestik wurden dabei ihre Interessen bedient. Der Krieg war profitabel gewesen.
2017 120 Seiten
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