Claire-Louise Bennett: Teich
Auf dem Rückweg stellte ich die leere Schüssel auf die Bank am Teich und setzte mich daneben. Ich hätte sie besser festgehalten; nach einer Weile musste ich sie auf die Knie nehmen, weil es sich zu seltsam anfühlte, neben einer Schüssel zu sitzen. Fast hätte ich sie angesehen und mich nach ihrem Befinden erkundigt.
Das „zeigt, wie kleine Dinge mit einem Mal eine ungeahnte Tiefe gewinnen“, sagt der Klappentext. Andrew Gallix fügt im Guardian hinzu: Dieses witzige, wunderschön geschriebene Buch erinnere uns an das Leuchten alltäglicher Dinge. „Everyday objects take on a luminous, almost numinous, quality through the examination of what Emerson called “the low, the common, the near.” Für die Erzählerin kommt diese Art der Aneignung der Welt nicht unverhofft, die “Tiefe” erreichen die kleinen Dinge durchs Erzählen, durch die Auseinandersetzung mit ihnen. Und es sind keine „kleinen“ Dinge, weil für die junge Frau alle Dinge gleich groß, gleich bedeutend sind. Ein Zeichen von „Hochsensibilität“, für ein „Leben ohne Filter im Kopf“ (Jessica Kühn, SZ) Alle Dinge sind da, werfen Fragen auf, man stößt sich an ihnen. Man muss sie einfangen, damit sie aufhören, „Monster“ zu sein. Erst wenn man die Monströsität der Welt akzeptiert, geben die Monster Ruhe.
Warum sollte man mich nicht sehen? Ich habe keine Angst. Keine Angst vor dem Monster. Soll es doch auf der mondbeschienenen Straße stehen und mich beobachten. Es beobachtet mich immer schon, mein Leben lang, es kommt und geht – und ich weiß nicht, was es sieht, wenn es da draußen steht, ich kann nicht einmal ausschließen, dass es inzwischen ein bisschen Angst vor mir hat – ich glaube, ich muss doppelt vorsichtig sein, sonst verscheuche ich es noch. Denn unter uns gesagt kann ich überhaupt nicht sicher wissen, wo ich ohne das Monster wäre.
Die Erzählerin lebt in einem alten kleinen Haus an der Westküste Irlands, die weite Welt ist ausgeblendet, man kann anfangen, die Dinge und Ereignisse zu rubrizieren, sie zu befragen, sie zu begreifen. Ein Brief, eine Tasche, der Pullover und der Hut, Tinte und Leergut, die Suppe, die Kühe und das Gatter, Töne, Martin’s Hill.
Der See, der Fluss, die ruinierte Burg, das Gebüsch, die hohen Bäume, die elenden Wolken, das vollgepisste Schilf, die Ruderer in ihren Booten, das Monster, das Nachbarhaus, die Kinder, die Mutter, die Garage, die Gartengeräte, die trocknenden Erdklumpen, der Flur, die Treppe, die Türen, die Schlüssellöcher, das Bett, das Darunter, die Angst, der kalte Boden, die Fesselriemchen, der ewige Staub.
So viel Nahes, so fremd. So viel Berührendes, so viel zu berühren.
Ich komme die Treppe herunter oder trete aus einem der angrenzenden Zimmer, und immer halte ich etwas in der Hand, ein Handtuch beispielsweise. Ein Handtuch, eine ungelesene Zeitung, Wäsche, ein Glas. Als schleppte ich Gegenstände aus einer anderen Welt an. Und damit nicht genug: Ich gehe an ihm vorbei und verschwinde im nächsten Zimmer, als wäre der Gegenstand in meiner Hand heilig und müsste dringend woanders hin.
Manchmal lege ich beide Hände an den Eichenbalken, und dann erst drehe ich mich um, endlich.
Aber nein, so ist es nicht. Ich meine, dass ich mich umgedreht habe, in Wahrheit habe ich mich nur verdreht. Ein Teil von mir wendet sich ihm zu, ein anderer bleibt abgewandt. Doch die Geste ist angemessen, sie reicht aus, den Anschein eines vollständigen Umdrehens zu erwecken; ich schütze vor, interessiert zu sein, keinen Widerstand zu leisten, die Unterhaltung vielleicht sogar zu genießen. Zu mehr fehlt mir der Mut. Ich möchte nicht riskieren, mich ganz umzudrehen und möglicherweise etwas Banalem gegenüberzustehen. Das könnte ich nicht ertragen, da verdrehe ich mich lieber. Und dann greife ich zum Glas und trinke. Ich trinke, weil ich … was? Mich locker machen will? Wäre das nicht vollkommen normal? Handelt es sich dabei nicht um das sprichwörtliche Entspannen? Nein, nein, auch das ist es nicht. Es liegt am Ort, genau genommen am Gefühl, verortet zu sein; gegen diesen Eindruck muss ich mich wehren, ich muss ihn zerstreuen. Ich möchte die Mauern beiseiteschieben und den Steinboden zu Sand zerreiben. Drinnen sage ich die albernsten, rücksichtslosesten Sachen. Wände, Böden und Decken pressen mir den ätzendsten Unsinn ab. Ich werde defensiv, kritisch, renitent und kühl. Wirklich unmöglich! Nein, manchmal gehören Männer und Frauen einfach nur ins Freie.
Die Dinge sind natürlich auch Surrogat für die nicht eingelöste Beziehung zu Menschen. Die Erzählerin spricht immer wieder von Männern, vorüberziehenden Begleitern. Es geht hier ums Lebensglück. Erst ganz am Schluss redet sie die Person mit „Du“ an; der Leser ist sich mit ihr aber nicht sicher, ob das nicht bloße Vision ist. Im letzten Kapitel („Bekanntes Terrain“) wechselt die Ich-Erzählerin in die 3. Person. „Die Liebe kann überraschen. Sie konnte nicht sagen, woher der Satz gekommen war, doch er stammte nicht von ihr. Er gefiel ihr, sie stützte sich auf und drückte die Fäuste tiefer in den Boden. Die Liebe kann überraschen, sagte sie und fühlte eine ungeahnte Unbeschwertheit. Dann wandelte sie das Mantra leicht ab, beugte sich mit Haut, Augen und Lippen über ihre gekrümmten, verdreckten Finger und flüsterte: Die Liebe muss überraschen.” Erlebt sie hier die Überwindung der Selbst-Beschränkungen? Hat sie das “Monster” doch noch gebändigt? Oder sieht sie sich zumindest bereit, mit ihm zu koexistieren?
Das Erzählen ist durchgängig bestimmt durch die Unsicherheiten. Darf man dem trauen, an was man sich erinnert? Könnte es nicht auch anders gewesen sein, hat man die Erinnerung etwa zurechtgebogen?
Neige ich dazu, ungefragt in Erinnerungen zu schwelgen? Seit wann? Denn ehrlich gesagt glaube ich nicht, irgendwelche Details meiner Vergangenheit besonders interessant oder rührend gefunden, geschweige denn verlässlich erinnert zu haben. Aufgrund meiner radikalen Unreife und meines beharrlichen Mangels an Ehrgeiz bedeuten mir reale Ereignisse eher wenig. Ihr Einfluss auf mich ist entweder null oder niederschmetternd, aus dem Grund traue ich mir selbst kaum zu, Erinnerungen zu produzieren, die mit den tatsächlichen Begebenheiten übereinstimmen, nicht einmal in Bezug auf Ereignisse von nationaler Tragweite. In meinen Schwelgereien hingegen glänze ich mit beeindruckender Gedächtnisleistung. Ich schwelge nicht in der Vergangenheit, nicht in der äußerlichen zumindest, sondern viel öfter in jenen Tagträumen, denen ich als Kind nachhing – unter Bäumen, hinter Vorhängen, so in der Art. Ist das verständlich? Dennoch – und trotz meiner insgesamt eher unglaubwürdigen Erzählweise – schien ich fest entschlossen, etwas in den Martin’s Hill hineinzuinterpretieren.
Ein “kleines Ding” im alten Haus sind die “Kontrollknöpfe” des Herdes. Aber auch die sind brüchig. “Zehn Minuten lang bin ich ratlos, und das Gefühl unterscheidet sich, wie ich merke, nicht groß von der vertrauten Gleichgültigkeit. Folglich komme ich gut damit zurecht.“
Überraschend erinnert sich die Erzählerin an Marlen Haushofers Roman über die letzte Frau auf Erden, „Die Wand“. Die Erinnerungen sind auch hier trügerisch, doch „ich wollte meine Eindrücke von den Ereignissen beschreiben, nicht die Ereignisse selbst”. Subjektiv wie die Wahrnehmung eines Kindes in seiner völligen Konzentration auf das kleine Ding, auf den aktuellen Moment. Claire-Louise Bennett hat die passenden Wörter und die Bilder voller Phantasie. Man sollte das Buch noch mal lesen.
Auf einmal erschien der poröse Mond, schwach glimmend wie Kalkstaub, ein Ausgestoßener. Einen Augenblick lang geriet alles in ein schreckliches Stocken, meine aufgerissenen Augen klafften kalt und riesig – und dann glitt es zurück in eine ausufernde Beweglichkeit, und mir blieb nichts als ein bedrückendes, brennendes Gefühl der Entsagung.
2015 215 Seiten
Leseprobe beim Luchterhand-Verlag
Claire Louise Bennett Reads in Kennys Bookshop
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