Nachrichten vom Höllenhund


Gundar-Goshen
13. Juni 2018, 18:40
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter:

Ayelet Gundar-Goshen: Lügnerin

gundargoshenluegnerinNuphar ist noch nicht volljährig und um sich etwas Geld zu verdienen, arbeitet sie in den Ferien in einer Eisdiele. Eines Tages beschimpft sie ein Kunde in vulgärer Weise. Sie läuft weg in den Hinterhof, der eingebildete junge Mann hinterher. Er fühlt sich um sein Wechselgeld betrogen und hält sie an den Armen fest. Sie schreit.

Das ist das unerhörte Ereignis und daraus ließe sich trefflich eine Novelle erzählen. Es geschieht zweierlei: Die Schreie des Mädchens werden als Abwehr einer versuchten Vergewaltigung ausgelegt – und die verunsicherte Nuphar (Seerose) wird vom Mauerblümchen zur Blume. Sie erblüht. Das vermeintliche Opfer wird zur Heldin stilisiert, sie wird ins Fernsehen eingeladen, in der Schule endlich als potenzielle Freundin wahrgenommen; sie lernt einen Jungen kennen.

Ayelet Gundar-Goshen interessiert sich weniger für die Mechanismen der Öffentlichkeitsökonomie, die Quotengier der Medien, die Sensationslust der Gesellschaft, als für die Psycholgie der Personen. Die Haptperson Nuphar stand in Famlie und Peer-Group im Schatten ihrer jüngeren Schwester Maya. Erst das öffentliche Interesse wertet sie auf, macht sie wortwörtlich hübscher, anziehender, kompensiert ihre (vermeintliche) Pummeligkeit. Auch die Schwester hat an der Rollenumkehr zu arbeiten. Der junge Lavie (Löwe), der unter der dominanten Männlichkeit und den Erwartungen seines Vaters leidet, hat den Vorfall in der Eisdiele beobachtet. Er versucht Nuphar zunächst zu erpressen, freundet sich aber dann mit ihr an, weil er in dem Mädchen ihm bekannte Unterlegenheitsgefühle entdeckt. Der verkannte Schlagersänger Avischai Milner wird der versuchten Vergewaltigung angeklagt, er sieht angesichts der öffentlichen Vorverurteilung keine Möglichkeit für Rehabilitation. (Ein sehr aktuelles Thema, das aber nur am Rande aufgegriffen wird.) Nuphar könnte ihn durch ihr Geständnis retten, was ihr aber nicht nur den Makel einer „Lügnerin“ einbrächte, sondern die wieder zurück in die „Unsichtbarkeit“ stieße.

In der Maske schaute Nuphar inmitten von Pudern und Tuben in den Spiegel und verlor allen Mut. Sofort senkte sie den Blick. Die Maskenbildnerin, deren Herz so weit wie ihr Becken breit war, wusste gleich Bescheid. Es gab Leute, deren Brust anschwoll, wenn sie sich vor einen Spiegel setzten, auf andere wirkte ein Blick auf ihr Ebenbild wie die Berührung einer Qualle. Diese armen Wesen hatte die Maskenbildnerin besonders ins Herz geschlossen.
»Guck mal, du hast wunderbare Wangenknochen. Und die Lippen!«
Nuphar murmelte etwas von Pickeln.
»Die kleinen hier? Die sieht man doch gar nicht. Komm, die zaubere ich dir weg.«
Nuphar vermied es, noch einmal in den Spiegel zu blicken, und so sah sie nicht, wie die Maskenbildnerin die rötliche Schmach mit zwei Pinselstrichen verschwinden ließ. Dann zog sie aus einer Schublade einen Lippenstift und schminkte Nuphars Lippen korallenfarben. Beim Rouge schwankte sie kurz zwischen Apricot und Apfelrosa, beschloss aber, es bei der natürlichen Frische, die die Haut des jungen Mädchens ausstrahlte, zu belassen.

Ayelet Gundar-Goshen moralisiert nicht, sondern schaut genau in ihre Figuren hinein. Das ist die Stärke des Romans. Gleichzeitig stagniert dadurch die Handlung, kommt nicht zum Punkt, verzettelt sich und wiederholt, was man schon gelesen zu haben meint. Wäre die Novelle nicht doch überzeugender gewesen? Es gibt immer wieder Cliffhanger: mögliche Wendepunkte, Stuationen, die zur Aufklärung genutzt werden könnten. (Wenn dem nicht stärkere Motivationen entgegenstünden.)

Der Roman heißt „Lügnerin“, im Singular, doch lügen eigentlich alle Figuren. Nuphars Mutter sucht unter falschem Namen einen Anwalt, Lavies Mutter betrügt ihren Mann, sein Großvater sonnt sich im unverdienten Ruhm eines Kriegshelden. Als Nuphar mit ihrer Klasse Konzentrationslager in Polen besucht, erschleicht sich die unbeteiligte Seniorin Raymonde die Identität der verstorbenen Überlebenden Rivga. Vieles davon kann als Schummelei durchgehen, Nuphars Weigerung, sich der Wahrheit zu stellen, ist schlimmer, weil sie die Existenz eines anderen zerstört, des nicht unbedingt sympathischen Avischai Milner.

Der Roman ist konventionell erzählt. Ayelet Gundar-Goshen schlüpft in ihre Figuren, woran man sich etwas stören könnte, weil sie ihnen auch Analysen in die Gedanken legt.

Sucht dich das Schuldgefühl heim, hat es verschiedene Möglichkeiten. Es kann dich von hinten anspringen, dir die Klauen ins Fleisch hauen. Es kann einen Frontalangriff starten. Doch es kann dir auch wie eine Perserkatze um die Beine streichen, sich ein Weilchen auf deinen Schoß setzen tind dann weiterhuschen, weil es nicht länger bleiben will. So zermarterte Nuphar sich zwanzig Minuten lang das Hirn und litt nach Strich und Faden. Sie war drauf und dran, zum Telefon zu eilen und der Kommissarin mit den zarten Fingern alles zu beichten. Aber sie entschied sich dagegen. Diesem ekelhaften Kerl mit dem dreckigen Mundwerk war sie rein gar nichts schuldig.

Wie bei ihrem Vorgänger-Roman „Löwen wecken“, wird die intelligente Ausgangsidee etwas zu breitgetreten und braucht Füllsel, um das Buch auszufüllen. Israel als Handlungsraum wird nur insofern auffällig, als Krieg und Militär in jeder Familie als erlebte Erfahrung präsent ist. Schön geschrieben, viel Einfühlung und Verständnis für die jungen Leute und immer den Blick auf den Zauber der Dinge gerichtet.

Der Wind tanzte in den Zweigen des Orangen­baums, und die Zweige antwor­teten ihm mit anmutigen Verneigun­gen.

2017          355 Seiten

Besprechung im SRF-Literaturclub (Video – 12 Minuten)

+3

 


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