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Max Czollek: Desintegriert Euch!
Max Czollek ist knapp über 30 und es ist schön, dass er wütend ist. Er empört sich über etwas, das er „Gedächtnistheater“ nennt. Über die Rolle/Funktion, welche die „Deutschen“ den Juden in ihrer Gedenkens- und Integrations-„Kultur“ zuweisen.. Ddie Juden sollen die Deutschen entlasten für ihr(e) Verbrechen, sollen die Täter- in eine Mitleidensrolle integrieren, sollen sie „läutern“. Czollek will dabei nicht – mehr – mitmachen. Angeregt ist Czollek auch vom aktuellen völkisch artikulierten Rechtsruck in Deutschland, er setzt den Versuch der funktionellen Integration neuer Menschengruppen in Bezug zur Funktion der Juden in den „frühen Jahren“ nach WK II.
Politik bedeutet nicht die Konfrontation von Volk gegen Volk, Kultur gegen Kultur. Politik ist die Kunst, Vielfalt in einer Gesellschaft zu organisieren. Ein solches Konzept der Gesellschaft als eines Ortes der radikalen Vielfalt ist mit dem Phantasma einer deutschen Leitkultur, die auf einer vermeintlich jüdisch-christlichen Tradition beruht, schwer vereinbar. Das Propagieren dieser Leitkultur hat einen doppelten Effekt: Indem sie Muslim innen aus dem Bereich deutscher Geschichte ausschließt, wird deren Status als Zugehörige zur Kultur in Deutschland infrage gestellt. Indem sie Juden und Jüdinnen in die Geschichte einschließt, wird die eigene moralische Überlegenheit zementiert. Juden und Jüdinnen haben die Wahl, wie sie auf diesen Eingemeindungsversuch reagieren wollen. Diejenigen, die sich davon geschmeichelt fühlen oder die Angst vor dem Islam teilen, werden meiner Kritik nicht zustimmen. Für alle anderen gilt: Desintegriert Euch vom Gedächtnistheater.
Czollek versteht “die Desintegration als einen jüdischen Beitrag zum postmigrantischen Projekt, dessen Ziel es ist, radikale Diversität als Grundlage der deutschen Gesellschaft ernst zu nehmen und ästhetisch durchzusetzen. (…) Das Versprechen der Desintegration ist nicht die Gutwerdung der Juden, sondern ein größeres Maß an Selbstbestimmung.“ Dazu müssten die zugewiesenen Kollektividentitäten aufgelöst werden. „Wenn wir neue Allianzen schließen wollen, dann müssen wir wegkommen von der Idee der identitären Zugehörigkeit zu einer einzigen Gruppe, von der Idee, wir seien ganz und müssten unsere Ganzheit verteidigen. Jeder Mensch besteht aus vielen Teilen, die sich immer wieder verschieben. Die ungebrochene Identität ist eine gefährliche Illusion.”
Max Czolleks Aufruf enthält viel Denkwürdiges, er kann jedoch das Dilemma nicht auflösen, das zwischen getrennten und nicht trennbaren Bezugsgruppen liegt. Der Konflikt ist nicht eingehegt, wenn man Juden zu Deutschen erklären will, Juden aber eine gleichgestellte Identitätsgruppe bleiben sollen/wollen. Deutschland ist ein Land, Jüdischkeit eine Religion mit zum Teil davon abgeleiteten Traditionen, Lebensweisen, Kulturen. Czollek müsste die Begrifflichkeiten präziser fassen. Der Gedankengang ist oft vom Zorn getragen,sprunghaft, ichzentriert.
Interview mit Max Czollek in der SZ
Profil von Max Czollek auf Literaturport
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Michael Lüders: Armageddon im Orient
Niemand unterschätze zudem die wirtschaftliche Dimension von Raketendeals. Die Vereinigten Arabischen Emirate kauften im Dezember 2008 als erster Golfstaat 172 Patriot PAC-3 Raketen mit allem, was dazugehört, von der Abschussrampe über die Software bis hin zur technischen Einweisung und der Wartung. Die beiden beteiligten US-Rüstungsfirmen, Lockheed und Raytheon, erzielten mit dem Auftrag einen Umsatz von 5,1 Milliarden US-Dollar. Größter Einkäufer allerdings war erneut Saudi-Arabien, das im Oktober 2017 einen Rüstungsdeal über die allerneueste Raketenabwehrtechnologie, THAAD genannt (Terminal High-Altitude Area Defense), abschließen konnte. Mit ausdrücklicher Genehmigung, wie bei allen Hightech-Rüstungsexporten üblich, des US-Außenministeriums, und zwar in Höhe von 15 Milliarden US-Dollar.23 2011 bereits hatten die Emirate eine erste Lieferung von THAAD-Raketen erhalten, im Wert von 3,48 Milliarden US-Dollar.24 Solche phantastischen Bilanzen sind ohne griffiges Feindbild und das entsprechende Bedrohungsszenario kaum zu erzielen.
Laut des schwedischen Rüstungskontrollinstituts SIPRI sind zwischen 2011 und 2015 fast zehn Prozent der amerikanischen Waffenexporte auf Saudi-Arabien entfallen. Dieses beträchtliche Volumen beleuchtet einmal mehr den «Urgrund» des amerikanisch-saudischen Verhältnisses. Alles andere wird dem untergeordnet.
Man kann die Informationen nicht selbst validieren, aber Michael Lüders liefert viele Belege. Das reicht dem Historiker René Wildangel nicht. In der SZ hält er Lüders vor: „Bei einem „Blick hinter die Kulissen“ sollte man Recherchen vor Ort und Gespräche mit beteiligten Akteuren erwarten dürfen. Schließlich wird die Kernfrage nach dem Risiko eines Krieges, der den „Weltfrieden ernsthaft bedroht“, unzureichend analysiert: Hier wäre ein Blick auf die militärischen und strategischen Hintergründe notwendig und auch eine nüchterne Abschätzung, welche Faktoren möglicherweise gegen eine militärische Konfrontation sprechen. Vorsichtshalber rudert der Autor selbst zurück: Statt des beschworenen Armageddons sei auch ein Stellvertreterkonflikt möglich. „Gewissheiten git es allerdings keine“, lautet das wenig überzeugende Fazit.“ Wildangel macht sich’s zu leicht: Wenn es keine „Gewissheiten“ gibt, gibt es halt keine. Es stünde den Medien gut an, das auch zu konstatieren und begrifflich sauberer zu arbeiten. („Rebellen“ etwa ist so ein Begriff, der nichts als schwammig und damit vernebelnd ist.)
In seinem neuen Buch“ Armageddon im Orient“ behandelt Michael Lüders die US-Saudi-Connection, die enge Verflechtung von Militär und Politik, und die Folgen, die diese für den Nahen Osten und die Welt hat. Hauptakteure sind der US-Präsident und der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman (MBS), die das enge Verhältnis der beiden Staaten zum beiderseitigen Nutzen auf reaktionäre Weise vertieft haben. Die Kooperation geht zu Lasten des Iran, der von der Trump-Administration zum Schurkenstaat erklärt wurde, der ausgelöscht gehöre. Lüders beschönigt nicht, beleuchtet auch die negativen Aspekte der Regierungen im Iran oder in Syrien, er versucht aber, hinter die meist öberflächlichen und einseitigen Darstellungen in den (westlichen) Medien zu blicken.
Die Zukunft – im Zweifel Krieg gegen den Iran. Warum nicht als Weltkrieg? Immerhin leidet die gesamte Menschheit unter iranischer Aggression – mit Ausnahme vielleicht der Afghanen, Iraker, Syrer, Libanesen, Palästinenser, Libyer, Jemeniten, um nur einige zu nennen, die möglicherweise auch Erfahrungen haben mit anderen Aggressoren. Am bittersten ist wohl die Einsicht, dass solche Inszenierungen keinerlei Folgen haben für ihre Urheber. Die Medien könnten dergleichen Machenschaften entlarven, ziehen es aber meist vor, die offizielle Sicht wiederzugeben. Unterm Strich setzt sich in der westlichen Öffentlichkeit nach einem Auftritt wie dem von Haley einmal mehr der Eindruck fest: irgendwie gefährlich und böse, diese fanatischen Mullahs. Wer einen Krieg zu führen gedenkt, tut gut daran, als Erstes das Feindbild in den Köpfen zu festigen.
Mohammed Bin Salman hat fragwürdige, politisch nicht durchdachte Manöver gegen Katar und den Libanon eingefädelt, teils in Kooperation mit Abu Dhabi, und ist damit gescheitert. Er ist verantwortlich für die Hungerblockade und mitverantwortlich für die Zerstörung Jemens, ohne Aussicht auf einen politischen Gewinn. Die langfristigen Folgen seines Aktionismus sind noch gar nicht abzusehen. Die Golfstaaten hat er gespalten, die sunnitischen ebenso, seine Allianzen sind brüchig. Vor allem Trump wird ihm beistehen, solange er als Geschäftspartner interessant bleibt, weiterhin amerikanische Waffen kauft und auf Konfrontation mit dem Iran setzt.
Michael Lüders schildert die Ursachen des Konflikts seit dem 18. Jahrhundert und erklärt, warum der Westen einseitig Partei ergreift. Unter Obama wurde 2015 das Atomabkommen mit dem Iran geschlossen. Doch obwohl Teheran sich erwiesenermaßen an alle Verpflichtungen hält, bricht der Konflikt jetzt erneut auf. Warum ist das so? Ist der Iran wirklich ein „Schurkenstaat“? Welche Rolle spielen die engen wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen den USA und Saudi-Arabien, die sogenannte „Saudi-Connection“? Und gibt es tatsächlich eine religiöse Feindschaft zwischen Sunniten und Schiiten? (Klappentext) Als Antidot gegen die vereinheitlichte Sprechmeinung sind Lüders’ Bücher wichtig und aufklärerisch.
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Philipp Blom: Böse Philosophen.
Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung
Die „bösen Philosophen“, das sind die Radikalaufklärer, die sich in den 1770er-Jahren im Pariser Salon des Barons Paul Henri Thiry d’Holbach trafen. Der Gastgeber reichte gutes Essen und bot den Raum für offene Gespräche, er hielt sich in der Öffentlichkeit und mit Publikationen eher im Hintergrund, veröffentlichte oft unter Pseudonym, denn seine Werke wie „Das entschleierte Christentum“ agitierten gegen Kirche und Religion. Auch aufgrund des Atheismus der philosophes, vermutet Philipp Blom, sei d’Holbach heute weitgehend vergesssen.
Warum glauben Menschen an Gott?, fragte der Baron sich selbst und schloss, dass die einzigen Gründe Unwissen und Furcht sein konnten. Zu lange haben die Menschen bezüglich der wahren Gründe von natürlichen Phänomenen im Dunkeln getappt. Die Wissenschaft wird eines Tages die Ignoranz ersetzen, auch wenn es für viele Menschen schwieriger sein mag, die blinde Notwendigkeit zu akzeptieren als den verborgenen Sinn einer göttlich inspirierten Schöpfung. Nur weil das Spiel der natürlichen Kräfte uns verblüfft, suchen wir hinter den Dingen eine Bedeutung, einen Willen wie unseren. Schließlich leben wir in einem sozialen Gefüge, in dem jede Handlung interpretiert, als gut oder böse gedeutet wird. Diese Deutung übertragen wir auf eine Welt, die von sich aus sinnlos ist.
Der andere Denker, der die Konversationen im Salon wesentlich mitbestimmte, war Denis Diderot, der Herausgeber der Encyclopédie. Doch auch andere „böse“ Philosophen trafen sich bei d’Holbach: David Hume, Friedrich Melchior Grimm (geb. 1723 in Regensburg), Guillaume Paynal, Claude-Adrien Helvétius und ihrer mehr, die heute kaum noch jemand kennt.
Philipp Blom grenzt die Holbach-Clique (coterie) in der materialistischen und hedonistischen Radikalität ihres Denkens und ihres Disputs ab gegen die „gemäßigten“ Aufklärer:
Etwas mehr als zwei Jahrhunderte nachdem Holbachs Salon seine Türen zum letzten Mal schloss, stehen wir noch immer vor der Wahl zwischen Rousseaus Kult des Sentiments und des säkularisierten Selbsthasses, Voltaires weltgewandtem Zynismus und der Ethik des aufgeklärten Hedonismus, die in Holbachs »Boulangerie« vertreten und weiterentwickelt wurde. An den Rand gedrängt von einer Gesellschaft, die keine Bereitschaft zeigte, diese Botschaft zu hören und zu erforschen, wurde sie von anderen, lauteren Stimmen übertönt, ihre Werke wurden zuerst vom Henker öffentlich verbrannt, dann in verstümmelten und verfälschten Ausgaben verbreitet und schließlich nur von wenigen Lesern wahrgenommen. Sieger sehen anders aus.
Blom setzt sich zu den “vergesssenen Erben der Aufklärung” in den Salons, verbreitet ihre Gedankenwelt, die auf Epikur und Lukrez, Bayle und Spinoza zurückgeht, er erzählt aber auch ausgiebig von ihren Marotten, Händeln, Eifersüchteleien. Die Frauen wie Louise d’Épinay oder Sophie Volland sind nicht unwichtig, bleiben aber meist randständige Gesprächs-, Brief- und Liebespartner.
Die Sympathie des Autors ist stets bei den “Bösen”, ohne diese in ihrer Menschlichkeit zu verklären. Oft nennt er sie beim Vornamen. Wer sich über die “Philosophie” der Zeit informieren will, kann sich an der “Personalityshow” stören, andererseits liegt die Dokusoap im Trend. (Man denke etwa an Sarah Bakewells “Café der Existenzialisten”.) Eine angenehme Lektüre, bei der ich doch des öfteren bereits Gesagtes überblättern wollte.
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Jürgen Kaube: Die Anfänge von allem
2017
„Jürgen Kaube erzählt, wie die menschliche Kultur entstand – und entwirft ein überraschendes Panorama.“ – So stehts auf der Klappe und so stimmts nicht. Kaube erzählt nicht, er bedient sich einer wissenschaftlichen Sprache, die häufig umständlich und auch dröge wirkt. Er entwirft kein überraschendes Panorama, denn das meiste ist bekannt oder man könnte darüber gelesen haben. Panorama ist insofern treffend, weil er sich wichtigen Entwicklungen widmet, „von allem“ ist recht viel versprochen. Nicht die Erfindungen sinds, die Kaube interessieren – obwohl auf dem Cover ein Rad abgebildet ist -, sondern „Übergänge“ in etwas Neues, deren „Mechanismen“ und Ursachen.
Schließlich ist an den Anfängen zu lernen, dass immer Mehreres nötig war, um sie hervorzubringen. Keine einzige zivilisatorische Errungenschaft verdankt sich einem einzigen Mechanismus, einer einzigen Ursache. Um zu Höhlenbildern mit Pferden, Bisons, Löwen und Bären zu kommen, bedurfte es nicht nur technischer Voraussetzungen – wie der Farbpigmente und der Kontrolle von Feuer, um Höhlen zu beleuchten -, sondern auch einer kognitiven Fähigkeit, Objekte zur Mitteilung einzusetzen. Es bedurfte der Jagd als Motivvorrat, aber auch des Bewusstseins, dass es sich bei Tieren, die nicht gejagt werden, sondern selber Jäger sind, ebenfalls um Tiere handelt. Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: Um zum Staat im Sinne flächendeckender Herrschaftsausübung durch eine besondere Schicht zu kommen, bedurfte es, je nach Theorie, der Vertrautheit mit zentralisiertem Entscheiden, des Charismas erfolgreicher Jäger und Krieger, mangelnder Fluchtmöglichkeiten von Unterworfenen und einer Wirtschaft, die Überschüsse ermöglichte.
Kaube behandelt: den aufrechten Gang, das Kochen, das sprechen, die Kunst, die Religion, die Stadt und den Staat, die Zahlen und das Erzählen, die Monogamie und einiges mehr. Lauter interessante und deshalb auch schon oft abgehandelte Themen. Je älter die Anfänge, desto unsicherer die Erkenntnisse, je jünger, desto gründlicher kann sich Kaube auf Vorhandenes stützen: Gilgamesch-Epos, Mesopotamien, politische Organisation auf dem archaischen Hawaii, Codex Hammurapi, uvm. Kaube trägt sehr viel zusammen, hätte er sein Wissen erzählt, statt darüber zu berichten, wäre ein spannendes Buch entstanden. Die Kapitelüberschriften täuschen größere Lockerheit vor: “Die Göttin hat unten am Meer das letzte Bordell vor dem jenseits: Der Anfang des Erzählens”. Dennoch hilfreich, wenn man sich in einen der “Anfänge” einlesen will.
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Karl Schlögel: Planet der Nomaden
2006
Karl Schlögel hat sein spezielles wissenschaftliches Interesse Osteuropa zugewandt. Auf dieser Folie untersuchte er u.a. die Zwangsmigrationen zwischen Deutschland und dem Osten im 20. Jahrhundert. Das Thema der globalen Migration steht etwas vereinzelt in der reihe von Schlögels Publikationen. Wenn er sich gegenüber der aktuellen russischen Politik sehr kritisch zeigt, so betont er als konservativ (gewordener) Historiker auch beim Thema Migration die Konstanten der gesellschaftlichen Entwicklungen. Als eine der Grundlagen der Gesellschaftlichkeit überhaupt sieht er aber die Wanderungen, die seit Anbeginn der menschlichen Geschichte deren konstituierendes Moment waren. Migration gab es und gibt es immer und überall.
Fast immer zeigt sich: Migranten sind die Avantgarde der Innovation und Modernisierung. »Refugee mentality« ist oft ein mentales Plus, nicht zwingend ein Defekt. Oft sind es Migranten, die Neues wagen und risikoreiche Unternehmen initiieren. Auf sie ist die Rolle übergegangen, die Max Weber dem »Geist des Protestantismus« bei der Entstehung des modernen Kapitalismus zugeschrieben hat.
In ihnen mischt sich die Situation des neu und ganz von unten Anfangenmüssens, des Traditionsbruchs mit dem Improvisierenkönnen, mit der Fähigkeit, eine Zeitlang in Provisorien zu leben. Die frühe Bundesrepublik, aber auch Korea mit seinen Millionen von Kriegsflüchtlingen sind Beispiele für gelungene Modernisierung, die auf Entwurzelung basiert. Es wäre ein Glücksfall für das nachsowjetische Rußland, wenn seine nach Millionen zählenden Remigranten zum Motor der fälligen Modernisierung werden würden.
Improvisationsfähigkeit, ethnisch und kulturell bedingte Kohäsion der jeweiligen Diaspora, Elastizität, Anpassungsfähigkeit und Durchsetzungskraft und nicht zuletzt Vielsprachigkeit – all das macht die Nomaden zu Agenten sozialer und kultureller Veränderung.
Das sind beileibe keine neuen Erkenntnisse, doch sticht der Blick des Historikers heraus aus dem aufgeregten Gehabe der Poltiker und Medien, die aus wahl- oder quotentaktischen Überlegungen oder aus ideologischen Verblendungen Gedanken hintanstellen. Schlögels “Planet der Nomaden” zu lesen, lohnt 2018, auch wenn das buch von 2006 stammt. Es hat sich nichts Grundlegendes verändert! Wie sollte es auch, wenn Migration als überhistorisches Phänomen beschrieben wird. Was sich ändert, sind Geschwindigkeiten, etwa in der Kommunikation oder im Verkehr, wodurch sich auch die Entfernungen relativieren.
Überall finden wir die Spuren einer einmaligen Kultur, die deshalb so reich war, weil sie eine Kultur der Schattierungen, der Vermischungen, der Vieldeutigkeit und Vielsprachigkeit war. (…) Die alten Städte bilden sich neu – und das ist das Werk der Nomaden, der Beduinen, der alten Städtegründer. Es geht nicht um multikulturellen Kitsch, sondern um die Frage, ob wir in Europa und anderswo an die schon einmal erreichte Komplexität und Konfliktfähigkeit der großen multiethnischen und kosmopolitischen Zentren der Vorkriegswelt anknüpfen können. Was heute als multikulturell diskutiert wird, hat es schon einmal gegeben –
Oder, im Kapitel WANDERUNG UND VERBRECHEN:
Niemand verläßt seine Heimat ohne Not. Es bedarf einer starken Zuversicht, daß mit der Ankunft in der neuen Heimat alles anders werde. Beim Aufbruch in die unbekannte Zukunft werden Brücken abgebrochen. Es steht fast immer viel auf dem Spiel. Es geht um den bisherigen Lebensplan, um den Abbruch von Beziehungen, in denen man bisher aufgehoben war. Die Entscheidung zum Aufbruch setzt alles auf eine Karte: es geht um Lebensentscheidungen und daher auch um die Bereitschaft zu höchstem Risiko und fast immer um viel Geld. Wer in Not ist, ist hilfsbedürftig und leicht erpreßbar. Die Not der vielen wird zur Quelle des Reichtums von wenigen, wenn man es nur versteht, jene Stellen zu besetzen, die all jene Mühseligen und Beladenen passieren müssen auf ihrem Weg ins »Gelobte Land«.
Migranten sind leicht erpreßbar. Sie wollen weg, sie müssen weg. Daher ist ihnen fast alles recht, was ihnen weiterhilft. (…)
Das alles hat dazu geführt, daß Migration und Kriminalität in einen fast unauflösbaren Zusammenhang gerückt sind. Jeder harmlose Migrant – ob Gastarbeiter, politischer Flüchtling oder Asylbedürftiger – läuft von nun an Gefahr, mit dem Dealer in einen Topf geworfen und als Krimineller abgestempelt zu werden. Fast aussichtslos erscheint es, die Konjunktion von Verbrechen und Migration auflösen und dem uralten Feindbild vom Fremden als dem Dubios-Gefährlichen entgegentreten zu können. Und doch hängt daran weit mehr als nur die Einhaltung des Toleranzgebotes gegenüber Fremden. Die bürgerliche Gesellschaft, die Fremde unter Verdacht stellt, nur weil sie Fremde sind, untergräbt letztlich auch das Fundament, auf dem sie selber ruht.
Es würde den aktuellen “Debatten” guttun, die Probleme der Wanderungen nicht zu verselbständigen, sondern im Kontext zu betrachten. Schlögel könnte da helfen.
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Edward Brooke-Hitching:
Atlas der erfundenen Orte.
Die größten Irrtümer und Lügen auf Landkarten
2016
Unglaublich, wie viel falsch war auf alten Karten. Man könnte das auch positiv formulieren, denn viele der „Irrtümer“ verdanktem sich ungenügender technischer Möglichkeiten der globalen Lokalisation oder der Kartographie. Die Welt wurde größer, die Entdecker forcierten die Darstellbarkeit und waren zugleich oft Urheber der „Lügen“: der ungenauen Koordinaten und der erdachten Beshchreibungen. Vielfach wollten sie ihre Auftraggebern und Financiers ihre Fähigkeiten durch übertriebene, vielfach auch einfach erfundene Ortsangaben davon zu überzeugen, mehr Geld rauszurücken oder die Erforscher mit Titeln und Ruhm zu versehen. Schon in früheren Jahrhunderten gingen fake news und Sensationsgier Hand in Hand.
Unser Land fließt über von Milch und Honig. In einem unserer Länder schadet kein Gift und quakt kein lärmender Frosch, es gibt dort keinen Skorpion, und es kriecht keine Schlange durchs Gras. Keine giftigen Tiere können dort wohnen und ihre tödliche Macht einsetzen …
Nur wenn du die Sterne am Himmel und die Körner im Sand zählen kannst, wirst du in der Lage sein, die Größe unseres Reiches und unsere Macht zu ermessen.
Edward Brooke-Hitching hat 60 solcher „erfundenen Orte“ versammelt und die Motive und Methoden ihrer „Lügen“ beschrieben – und meist auch deren langwierige Korrekturen und Entlarvungen. Das Alphabet geht von Atlantis über die Dämoneninsel, El Dorado, Fonseca, die Kong-Berge und die Mondberge bis zu Thule, Vineta und Wak-Wak. Häufig sind es Inseln, die es gar nicht gibt und die dennoch blumig samt ihrer Bewohner, der Tierwelt und sonstigen Ressourcen dargestellt werden. Inseln waren schwerer zu errreichen und zu verifizieren, oft ließ man sich gerne von Wolkenformationen täuschen. Das Buch ist opulent bebildert, eher zum Stöbern und Staunen als zum Durchlesen, da sich viele der „Erfindungen“ doch in ihren Strukturen ähneln.
P.S. Die exakten Namen und Koordinaten machen mich glauben, dass Brooke-Hitching ein extrem fieseliger Aufklärer ist. Aber was ist, wenn auch er mich Leichtgläubigen täuscht wie seine Heroen die Welt?
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