David Constantine: Wie es ist und war
Nach der Einäscherung luden die beiden Töchter von Mr Carlton die Leute zum Tee in seinem Haus ein. Es kamen nicht viele, und es lag nichts von der Heiterkeit – oder Erleichterung – in der Luft, wie man sie bei solchen Gelegenheiten manchmal spürt. Nach etwa einer Stunde waren nur noch die Töchter und ihre Familien da. Sie spülten das Geschirr, räumten auf, stellten Tisch und Stühle wieder dorthin, wo sie vorher gestanden hatten. Dann sagte Mr Carlton: Geht nur. Mir geht’s gut. Seine Töchter waren sich nicht so sicher. Doch, doch, sagte er. Ich muss jetzt allein zurechtkommen. Und am besten fange ich gleich damit an.
Sobald sie weg waren, ging Mr Carlton nach oben. Im Schlafzimmer blieb er kurz stehen. Dann nahm er die Tasche, die er zwei Tage zuvor gepackt hatte, verschloss das Haus und fuhr nach Norden. Es war Mittsommer, die Abende waren lang. An der ersten Raststätte schrieb er, im Wagen sitzend, eine SMS an seine Töchter: Ich bin für ein paar Tage weg. Mach Dir keine Sorgen – alles wird gut. Alles Liebe, Dad. Da er nicht wusste und auch gar nicht wissen wollte, wie man eine SMS gleichzeitig an zwei Empfänger schickt, schrieb er sie zweimal und schickte die eine nach Westen, die andere nach Süden. Danach stieg er aus, legte das Handy vor das rechte Vorderrad, fuhr langsam darüber hinweg, legte den Rückwärtsgang ein und überfuhr es erneut.
So einschneidend das Ereignis, so hektisch der Aufbruch, so bald der Bruch. Kurz hinter Manchester gerät Mr Carlton in einen großen “Stillstand”, eine Betonung auf “Stille”. „Der milde Nachmittag neigte sich dem Sonnenuntergang und dem fernen Abend entgegen.”
Mr Carlton blickt um sich und stellt fest, dass das Stück Straße auf Pfeilern steht und ihm einen weiten Blick erlaubt, den
Eindruck eines Sichöffnens, Sichweitens, einer Fluchtmöglichkeit gehabt; aber von dort, wo Mr Carlton stand, sah man eine zunehmende Verengung und den Verschluss. Doch die seltsame Stille und das milde Licht der untergehenden Sonne lagen wie ein Segen oder eine Erinnerung oder ein Spuk über diesem übrigen Stück Land.
In David Constantines Geschichten ist die Landschaft, ist das Licht, ist der Klang immer ein Spiegel der Seele. Der Blick wird begrenzt, geht in die Weite, nach oben und unten, all das ist bedeutsam, so sehr, dass man es gern überliest, dass man es als Marotte verflucht. Die Landschaft ist stets allegorisch, die Insel, die Höhle, die Küste, die Mauer, das Wasser. Hier findet man auch des eigentliche Geschehen. Wo sich die Personen bewegen, bewegen sie sich in diesen Sinnbildern.
Er spürte, wie Gwens Herzschlag mit dem seinen verschmolz, wie sie einander durchdrangen, ein Zusammenfluss von pulsierendem Blut. Der Tag hatte etwas Grandioses wie eine heldenhafte Expedition, ein Mythos. Dann gingen sie im Sonnenlicht, beschienen von der tief stehenden Sonne eines Vorfrühlingsmorgens, die sie wärmte und die Grün- und Goldtöne aufleuchten ließ, sie spürten beim Aufstieg die sanfte Wärme auf dem Rücken, sie tasteten mit den Gesichtern danach, wenn sie innehielten und sich umdrehten, sie war wie ein Wispern des unvergänglichen irdischen Lebens, wie ein Atemhauch, eine Andeutung, unendlich zart und rührend vor den unermesslichen Wassermassen hinter der Mauer, an der entlang sie aufstiegen.” (Unter der Mauer)
Mystisch, schwebend, fast möchte man das Religiöse darin aufspüren. Enigmatisch, mythisch, nicht zeitgemäß. Mühsam, sich von den komprimierten Verästelungen der Psyche einfangen zu lassen. Aber doch lohnend.
Mr Carlton nahm sich wahr im Verhältnis zu den verstummten Straßen und dem Moor, spürte die Seltsamkeit von Ort und Augenblick und sah dann erst hinunter. Dort unten, kaum dreißig Meter vom nächsten Pfeiler entfernt, stand ein Haus, ein bewohntes Haus.
Ein Idyll, im harten Kontrast zum Stillstand der rasenden Welt. Liebevoll und voller Sehnsucht beschreibt er das “echte” Leben der beiden Alten:
Der Mann im Küchengarten goss seine Bohnen. Im Licht der untergehenden Sonne schimmerte das Wasser wie reines Silber. Offensichtlich befriedigte ihn diese Arbeit, denn er ließ sich Zeit, sehr viel Zeit. Mr Carlton hatte das Gefühl, noch nie zuvor bei einer so bedächtigen, befriedigenden Arbeit zugesehen zu haben. Drei Mal ging der Mann und füllte die Gießkanne. Der Klang, der sich verändernde Klang des in die blecherne Kanne strömenden Wassers, drang wie eine Erinnerung an sich selbst bis hinauf zu Mr Carlton. Und der Mann im Garten stand da, die Hände in die Seiten gestemmt, und sah zu, wie das Wasser aus der grünen Tonne durch den schwarzen Schlauch in die grüne Gießkanne floss.
Auf der Autobahn gesellen sich ein dicker Mann und eine junge Frau zu Mr Carlton. Der Mann pinkelt über die Leitplanke und erzählt Mr Carlton, dass sich seine Frau “verpisst” habe, die junge Frau ist schwanger und will sich Mr Carltons Handy ausleihen. Sie “nahm Mr Carltons Arm. Darf ich?, sagte sie. Ich habe Angst.” (…)
Sie weinen, sagte die junge Frau, die Mr Carltons Arm hielt. Was ist denn? Weinen Sie? Was ist denn los? Nein, nein, sagte Mr Carlton. Ich habe zwei erwachsene Töchter, älter als Sie, und sie haben Kinder, das ist eine große Freude, die Sie auch bald erleben werden. Nein, nein, alles ist gut. Das Licht im Schlafzimmer erlosch. Sie gehen schlafen, sagte die junge Frau. Ist es das? Ist das der Grund, warum Sie weinen? – Ja, sagte Mr Carlton. Das ist der Grund.
Es war nur ein Zwischenspiel, er würde bald weiterfahren müssen und nie zurückkehren, und was er von diesem Ort wusste, war so wenig und so hastig aufgenommen – wie sollte es da etwas anhaltend Gutes bewirken?
Constantines Geschichte „In einem anderen Land“ wurde 2015 verfilmt. („45 Years“) Der Körper einer Frau, seit Jahrzehnten im Gletscher-Eis konserviert, bricht aus der Vergangenheit in die schon fünfzig Jahre währende Ehe der Mercers ein und bringt sie ins Wanken. (Klappentext) Hauptdarstellerin Charlotte Rampling „schweigt sich vielsagend durch diesen Film, und gerade weil sie so wenig sagt, spürt man, wie sehr das alles in ihr brennt, wie unaufhaltsam ihre Welt aus den Fugen gerät. Mit wenigen Gesten und mit subtilen Bewegungen verdeutlicht sie, dass die fürsorgliche Routine dieses alten Ehepaares hohl geworden ist, dass sie erkannt hat: Ihre gemeinsame Basis hat womöglich nie existiert.“ (Holger Zettinger, Deutschlandfunk) Sie „zeigt mit perfekt gesetzten Gesten und kleinsten mimischen Regungen Kates Stolz und ihre Angst vor dem emotionalen Abgrund, der sich plötzlich auftut“ (Fabian Wallmeier, RBB).
2015 330 Seiten
Leseprobe (40 Seiten) beim Kunstmann-Verlag
David Constantine reads ‚In Another Country‘ (englisch)
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