Colm Tóibín: Nora Webster
Ende der 1960er Jahre, Irland, Kleinstadt. Nora Webster, Mitte 40, zwei erwachsene Töchter, zwei minderjährige Söhne, ihr Mann Maurice ist gestorben. Sie trauert, über Jahre, ist unfähig, Maurices Kleider wegzugeben, sie steht allein im Leben, muss und will üben, sich selbst zu definieren, erwartet Hilfe und heißt sie nicht willkommen.
»Sie meinen es gut. Die Leute meinen es gut«, sagte sie.
»Abend fürAbend«, erwiderte er. »Ich weiß nicht, wie Sie das aushalten.«
Sie fragte sich, ob sie wohl ins Haus zurückgehen konnte, ohne ihm noch einmal antworten zu müssen. Er sprach in einem neuen Ton zu ihr, einem Ton, den er sich vorher nie herausgenommen hätte. Er sprach so, als sei sie ihm irgendwie Rechenschaft schuldig.
»Die Leute meinen es gut«, wiederholte sie, aber diesmal machte es sie traurig, das zu sagen, sie musste sich auf die Lippe beißen, um die Tränen zurückzuhalten. Als sie Tom O’Connors Blick sah, begriff sie, dass sie niedergeschlagen, ja besiegt gewirkt haben musste. Sieging ins Haus.
Es war schon beinahe acht Uhr abends, als es klopfte. Im Hinter zimmer brannte der Ofen, und die zwei Jungs machten am Tisch ihre Hausaufgaben.
»Du gehst aufmachen«, sagte Donal zu Conor. »Nein, du.«
»Einer von euch geht«, sagte sie.
Nora war immer schon querköpfig.
»Sie war ein richtiger Teufel«, sagte Catherine. »Mehr habe ich über sie nicht zu sagen.«
»Tatsächlich?«, fragte Phyllis.
»Und dann hat sie Maurice kennengelernt. Vom ersten Mal an, wo sie mit ihm ausging, war sie ein anderer Mensch. Ich meine, direkt lammfromm wurde sie nicht. Aber sie änderte sich.«
»Ich nehme an, sie war glücklich«, sagte Una.
»Maurice war die Liebe ihres Lebens«, sagte Catherine. »Ah, das ist allerdings wahr«, warf Josie ein.
»Sie konnte aber nach wie vor ein Teufel sein«, sagte Una.
Nun ist es nicht schwer, im tiefkatholischen Irland als teuflisch zu gelten. Da reicht es schon, ein Recht auf sich selbst zu beanspruchen, auf eine Privatsphäre, auf selbst zu treffende Entscheidungen. Als Maurice tot ist, will sie für ihn und in seinem Sinn weiterleben, ohne sich von Verwandten und Bekannten bevormunden zu lassen. Maurice war geachteter Lehrer, Nora muss etwas (aus sich) machen. Colm Tóibín begleitet sie – fast – abstandslos auf ihrem Weg.
Da sind die beiden Töchter Aine und Fiona, die dabei sind, sich „abzunabeln“, von Kindern zu Partnern zu werden, Ratschläge nicht mehr zu nehmen, sondern zu geben. Die beiden Kleinen leiden unter dem Verlust des Vaters. Donal beginnt zu stottern, Connor wird überkorrekt, stellt alles in Frage. Beide sind noch zu jung, um die vakante Rolle in der Familie zu übernehmen, beide suchen ihre Rolle, werden unleidlich, ziehen sich in ihre Hobbies zurück. Nora will sie verstehen, sie behüten, sie nicht vor den Kopf stoßen, auf ihre Bedürfnisse eingehen, die sie selbst nicht formulieren können. Allein das ist schon ein Zeichen gegen die oft aufdringlichen Normen der Irishness. Jeder Schritt verlangt eine Überlegung, der Alltag von Nora setzt sich aus solchen Szenen zusammen: der Umgang mit den Kindern, die Besuche von Schwestern, Tanten und Nachbarn, Einkäufe, kleine Ausflüge. Nichts davon ist banal. Immer wieder ragen Ereignisse heraus. Soll man das Ferienhaus verkaufen, lohnt sich die Renovierung eines Zimmers im eigenen Haus, hat man genug Geld für einen Urlaub an der See? Ist die neue Frisur nicht zu jugendlich? Nora entschließt sich, eine ungeliebte Arbeit bei missgünstigen Vorgesetzten und Kollegen anzunehmen, es besteht schließlich Bedarf an Geld, Nora nimmt Gesangsunterricht, um in einen Chor eintreten zu können, sie tritt in die Gewerkschaft ein. Als Leser erlebe ich alles sehr nahe mit, Nora Webster ist das Zentrum des Romans. In Irland schwebt die Konfessionalität als „Überwachungskatholizismus“ (Ijoma Mangold) stets mit, in der Strukturierung des Alltags wie in der Schule. Dass alle sofort von Noras Handlungen und Problemen unterrichtet sind, macht es nicht leichter, die Erwartungen sind nicht zu erfüllen.
Wir haben ältere Verwandte auf dem Land, die Sippschaft drüben in Kiltealy, und die Ryans in Cork, und die würden das einfach merkwürdig finden, Nora. Sie hätten alle gern einen schlichten Totenzettel in Erinnerung an Maurice.«
»Würden sie denn nicht glauben, wir hätten uns zerstritten, wenn wir getrennte Totenzettel drucken?«
»Sie wissen, wie nahe wir uns alle stehen, Nora, ganz besonders in dieser Zeit.«
»Das ist vielleicht die beste Lösung«, sagte Jim.
Da war für Nora klar, dass er und Margaret die Angelegenheit bereits ausführlich durchgesprochen hatten. Sie war mit dem Kompromiss zufrieden und froh darüber, dass sie nicht vor ihnen eingeknickt war, als sie schlichte Totenzettel mit den ewig selben alten Gebeten gefordert hatten.
Der Nordirlandkonflikt („The Troubles“) ist Thema der Fernsehnachrichten und – mit deutlichem, aber verhalten vorgetragenem Standpunkt – Inhalt der Familiengespräche. Schon die Frage, ob man Derry (irisch) oder Londonderry (GB-Unionisten) sagen soll, führt zu Auseinandersetzungen. Also meidet man das Thema in der Öffentlichkeit, allein Noras Tochter Aine politisiert sich.
Ein leiser, behutsamer, autobiographisch grundierter Roman mit viel Verständnis für die Hauptperson. Kein Urteil, subtile Aufmerksamkeit. „Mehr noch als aus dem, was gesagt wird, entfaltet der Roman seine Wirkung aus dem, was verschwiegen wird. Das Innehalten tritt an die Stelle des Dramas, die katastrophischen Emotionen laufen verdeckt ab.“ (Sandra Kegel, FAZ) „Individualgeschichte als Chronik einer Region, meisterhaft umgesetzt“, findet Christopher Schmidt (SZ). Man sollte die erwartete Geduld beim Lesen mitbringen.
2014 385 Seiten
dtv-Material für Lesekreise (pdf)
Das Lesenswert-Quartett vom vom 13.10.2016 („Ein Meisterwerk“)
Literarischer Feminismus – Rezension von Regina Roßbach (literaturkritik.de)
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