T.C.Boyle: Good Home (Stories)
Früher, als sie noch Kurzgeschichten hießen, hatten sie es leichter. Da war komprimiertes Leben, zugespitzt auf eine Wende, die Katastrophe (in) der Person, das bestärkte Weiterleben oder die erdrückende Niederlage. Heute ist die Katastrophe das gewöhnliche Leben, der Absturz hieße: weiter so!, mehr ist nicht zu erwarten, etwas Besseres findest du nirgendwo. Man richtet sich ein, was allein schon zumindest Ausdauer erfordert, das Leben verspricht nichts mehr, ist allenfalls Zeit-Vertreib. Die Geschichte nennt sich, auch bei Boyle: story.
Stories sind eigentlich nurmehr denkbar im Plural, die Sammlung bildet das Mosaik, in dem sich der Zustand des Menschen in „seiner“ Welt spiegelt, die Person erkennbar abhebt von der Masse, mögliche Entwicklungen erhellt, wenn es denn solche überhaupt noch gibt. Boyles Stories versammeln sich unter dem Rubrum „Good Home“, gutes – ja, wie soll man das übersetzen? Da, wo man lebt ,mehr nicht, Pathos wäre vermessen. Es ist ein para-politisches Amerika, das in den 20-30-seitigen Stories vorgeführt wird. Was oft schrullig erscheint, ist wohl die Normalität. Das Leben am Rande der Norm(alität). Es ist schlimm: Nennen wir’s Good Home, wir haben kein (anderes) Zuhause.
Es sind (fast) nur Männer, die sich in Situationen geworfen finden, die sie kennen, die sie aber nicht als die ihnen gemäßen akzeptieren mögen. Oft geht ein Verlust voraus, dessen Kompensation keinen Weg sieht. Der angedachte Ausbruch ist so verfranst wie ihre Männlichkeit. Es gibt kein Vorn, Pläne vernebeln sich im Rausch. Ein Kurier, der Spender-Lebern zu den Empfängern bringen soll, wird durch einen Bergrutsch auf der Küstenstraße aufgehalten. (La Conchita) Ein Kind, das keinen Schmerz empfinden kann, wird für Geld in einer Schaubude ausgesellt. (Sin Dolor) Der Vater zwingt sich zum Elternabend und trifft auf eine Evolutionsleugnerin. Darf er sich mit ihr anfreunden? (Hieb- und Stichfest) Ein Nichtsnutz entschuldigt sich bei seinem Arbeitgeber für sein Fernbleiben mit der Lüge, sein Baby sei gestorben – und treibt sich in Bars rum. (Die Lüge)
Um zwei gab es einen Film, der mich interessierte, aber da es erst kurz nach zwölf war und ich nach meinem Holzfällerfrühstück an Essen nicht einmal denken konnte, fuhr ich nach Hause, parkte und ging die Straße hinunter zu einer Bar, die ich kannte, wobei ich immer nasser wurde und jeden Augenblick genoss. Die Tür öffnete sich zu einer Szene von verdichteter Zielgerichtetheit: Acht oder neun Versager waren auf ihren Barhockern an der Theke aufgereiht, ich roch geschnittene Limonen und die im Rum eingefangene Sonne, vermischt mit einem guten Schuss Lysol aus der Toilette an der Rückseite des Lokals. Es war warm. Dunkel. Auf dem Bildschirm über der Kasse lief ein Basketballspiel der College-Liga. »Ein Bier«, sagte ich und präzisierte meine Bestellung, indem ich den Markennamen nannte.
Der 13-jährige Dill „grillt“ eine Ratte und seine japanisch-stämmigen Nachbarn setzen die ganze Siedlung in Brand. (Aschermontag) Gerard Loui’s Frau stirbt, er verwahrlost, legt sich als Gefährtin eine Schlange zu und besorgt als Futter Ratten, die sich explosiv vermehren. (Dreizehnhundert Ratten) Normbürger auf einer kleinen Insel stellen einen neuen Arzt ein, der sich als sehr schrullig, unsauber und nachlässig erweist. So erzählt es zumindest die amerikanische Hausfrau. (Was uns von Tieren unterscheidet) Geshe, der Guru im Wüstencamp, verbietet jeden „Luxus“ und so stirbt die Frau des Erzählers an einem Schlangenbiss, weil es weder Medizin noch Auto noch Telefon gibt. (Das Schweigen)
Er durchstreifte die Wüste ohne Absicht und ohne Ziel. Er kam an dem Hügel vorbei, auf dem seine Frau die weggeworfene Wasserflasche gefunden hatte, an der Stelle, wo der grüne Lkw am Horizont aufgetaucht war, über den Berg, auf dem er das Eisenholz gesammelt hatte, und hinunter in die heiße, gebleichte Ebene jenseits davon. Er brauchte ein Mantra, aber er hatte keins. Das Mantra, das der Geshe ihm gegeben hatte, fiel ihm ein, aber er bekam es nicht zu fassen, sein Kopf war jetzt völlig leer. Die Sonne war das Auge Gottes, wach und glotzend. Nach einer Weile schienen seine Beine nachzugeben, und er ließ sich schwer in den Schatten eines zerklüfteten Felsens fallen.
Boyles Geschichten vernetzen sich nicht zum Mosaik, bilden eher ein Kaleidoskop, es gibt kein (end)gültiges Bild, zu viele Variationen sind denkbar. Es gibt nichts, die Leere zu füllen. Es bleibt wenig hängen, die Personen tauchen auf, nach wenigen Seiten folgt die nächste, man muss zurücklesen, spätestens nach der übernächsten Story hat man die vorausgehenden vergessen. Ja, so wird US-Land sein: penetrant bodenständig in seinen Normen, das Skurrile ist als Kontrast unausweichlich und naheliegend. Die Ironie scheint unter der Empathie mit den Figuren durch. Die Zivilisation ist rissig, das Heim eher Bude, auf die Natur ist nur in ihrer Widrigkeit Verlass. Oft spielen Tiere eine wichtige Rolle. Geschichten als Schreibübungen, wobei die stilistische Souveränität beeindruckt. Routiniert setzt Boyle mit seinen ersten Sätzen Themen und Personen, etwa in der Geschichte „Admiral“:
Im Grunde ihres Herzens wusste sie, dass es ein Fehler war, aber sie hatte ihren Job verloren, sie brauchte das Geld, und ihre Erinnerungen an die Strikers waren insgesamt eigentlich positiv, und darum hatte sie, als Mrs Striker angerufen hatte – Hallo, hier ist Gretchen … Mrs Striker-, gesagt, ja, sie werde gern vorbeikommen und sich ihren Vorschlag anhören. Vorher, auf dem Weg durch die Stadt, musste sie sich allerdings das Husten und Stottern ihres Wagens anhören (Benzinpumpe, lautete das Urteil ihres Vaters, gesprochen in jenem ausdruckslosen Ton, der sagte, das sei nicht sein Problem, jetzt nicht mehr, nicht, seit sie erwachsen sei und nach dem gescheiterten Versuch, auf eigenen Beinen zu stehen, wieder bei ihnen wohne), und als sie in die Straße einbog, in der die Strikers wohnten, hätte sie beinahe den Motor abgewürgt. Und dann würgte sie ihn tatsächlich ab, als sie, gegen jede vernünftige Aussicht auf Erfolg, versuchte, vor dem riesigen, festungsartig aufragenden Haus einzuparken.
Stories aus den Jahren 2005 bis 2011 – Deutsche Ausgabe 2018
430 Seiten
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