Nachrichten vom Höllenhund


Ng
14. November 2018, 12:50
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Celeste Ng: Kleine Feuer überall

ngkleinefeuerDas Leben in ihrem schönen, absolut ordentlichen, verschwenderisch ausgestatteten Haus, wo der Rasen immer gemäht und das Laub immer gerecht war, wo nie, wirklich nie ein Fitzel Müll herumlag; in ihrem schönen, absolut ordentlichen Viertel, wo auf jedem Rasen ein Baum stand und die Straßen in Kurven verliefen, damit niemand zu schnell fuhr, wo jedes Haus mit dem nächsten harmonierte; in ihrer schönen, absolut ordentlichen Stadt, wo jeder sich anpasste und jeder die Regeln befolgte und nach außen hin alles schön und perfekt sein musste.

Shaker Heights, streetcar suburb von Cleveland/Ohio. Der Name leitet sich ab von der christlichen Freikirche der Shaker, Shaker Heights ist Synonym für Planung, Regelmäßigkeit, Gottgefälligkeit, Wohlhabenheit. Das ist die Welt von Mrs Richardson.

Mrs Richardsons Leben war stets in geordneten Bahnen ver­laufen. Sie wog sich einmal pro Woche, und obwohl ihr Gewicht nie mehr als drei Pfund schwankte, was ihrem Arzt zufolge nor­mal war, bemühte sie sich sehr um Zurückhaltung. Jeden Morgen maß sie, wie auf der Packung angegeben, genau eine halbe Tasse Cheerios ab, und benutzte dazu die geblümte Plastik-Messtasse, ein Geschenk von Higbee’s für sie als junge Braut. Zum Abend­essen erlaubte sie sich ein Glas Wein – roten, der angeblich für das Herz am bekömmlichsten war -, ein feiner Kratzer im Wein­glas markierte die richtige Menge. Dreimal in der Woche besuch­te sie einen Aerobic-Kurs und achtete mithilfe ihrer Uhr darauf, dass ihr Puls auf über einhundertzwanzig stieg. Sie war mit Re­geln aufgewachsen und überzeugt, dass die Welt nur richtig funk­tionierte, wenn man diese Regeln befolgte. Seit ihrer Jugend hat­te sie einen Plan gehabt und ihn minutiös eingehalten: Schule, Studium, Freund, Heirat, Job, Hypothek, Kinder. Eine Limousi­ne mit Airbags und automatischen Sicherheitsgurten. Ein Rasen­mäher und eine Schneefräse. Waschmaschine und Trockner. Sie hatte, kurz gefasst, alles richtig gemacht und sich ein gutes Leben aufgebaut, ein Leben, wie sie es sich wünschte, wie alle es sich wünschten.

In diese Welt bricht Mia ein. Mia wird immer beim Vornamen genannt, Mrs Richardson führt ihr Leben unter dem Namen ihres Mannes, sie bleibt distanziert, Mia hat sich ihre Biografie selbst erworben, sie lebt nach ihren eigenen Regeln, ist Fotografin, chaotisch, sie war ständig unterwegs und will in Shaker Heights ihren ersten stetigen Wohnsitz finden. Mrs Richardson hat zwei Söhne und zwei Töchter in erwachsenwerdendem Alter, alle entsprechen der ortsüblichen Norm, nur die Jünste, Isabelle-Marie aka Izzy, hat ihre Flausen. Ihr erster Gewaltakt besteht darin, mittels Zahnstochern die Schultüren zu versperren und ist noch eher ein Scherz. Auch Mias Tochter ist gerade am Flügge-Werden. Sie heißt – nicht umsonst – Pearl, denn sie wurde ihrer Mutter wie eine Perle eingepflanzt. Die Richardsons haben zwei Häuser. Im stattlichen lebt die Familie selbst, in das kleinere mietet sich Mia mit Pearl ein.

Diesmal jedoch sollte es anders sein. »Wir bleiben hier«, sagte Pearl zu Moody, und er fühlte sich plötzlich überaus beschwingt, wie ein übervoller Ballon. »Das hat meine Mom mir versprochen. Diesmal bleiben wir für immer.«
Ihr vagabundierender, unkonventioneller Lebensstil gefiel ihm, denn im Inneren war Moody ein Romantiker. Er schaffte es jedes Jahr auf die Liste der besten Schüler, träumte aber davon, von der Schule abzugehen und durchs Land zu ziehen wie Jack Kerouac – nur wollte er Songs schreiben und keine Gedichte. Macs Backs versorgte ihn mit gebrauchten Exemplaren von Unterwegs und Gammler, Zen und hohe Berge, den Gedichten von Frank O’Hara, Rainer Maria Rilke und Pablo Neruda, und zu seiner übergroßen Freude fand er in Pearl eine verwandte poetische Seele.

Das erste Viertel des Romans kent man aus US-Vorstadt-Romanen/-Filmen/-Serien zur Genüge: Die extrovertierte Mom mit Charity-Appeal, der erfolgreiche Anwaltsmann, die stereotypen Kinder: Trip, das gutaussehende Sport-As, Moody, der verunsicherte Boyfriend, die angezickte Lexie, die nervend-subversiv-unzufriedene Isabelle Marie (Izzy). Doch dann – auch das natürlich Klischee – kracht die pha­ri­sä­isch aufrechterhaltene Ordnung zusammen. Alle wohlgesittete Normalität ist – was sonst – hohl. Lügen überall. Mia ist der Katalysator.

Pearl freundet sich mit Moody an wird im Richardson-Haus aufgenommen, Izzy findet in Mia einen „echten“ Menschen. Pearl hintergeht Moody, Lexie nutzt Pearl aus, Mias windungsreicher Weg durchs Leben nahm seinen Anfang in einem Vertragsbruch. Der Plan, auf dem Shaker Heights aufgebaut ist, wird durch die Zufälle des Lebens unterminiert und zeigt immer mehr seine löchrige Fragwürdigkeit.

DAS Thema der Celeste NG ist die Abstammung, die Mutterschaft, die Suche nach Eindeutigkeit in sozialen Antagonismen. Und da geht alles drunter und drüber. Kleine Feuer überall. Lexie wird schwanger und beschließt, das Kind nicht zu kriegen. Mrs Richardsons Freundin Mrs Culloughs kann keine Kinder kriegen und adoptiert die kleine Mirabelle (!), erfährt aber, dass deren Bio-Mutter das Kind (May Ling) wieder zurückhaben will. Mia hatte sich als Leihmutter verkauft und spürte dann zu viel Zuneigung zu dem Kind. – Bei den Interessen an der kleinen May Ling/Mirabelle kommt es zum Prozess, der eine zentrale Stellung im Roman einnimmt. Celeste Ng lässt beide Seiten mit fragwürdigen Argumenten streiten.

»Aber Mirabelle war die meiste Zeit ihres Lebens bei uns, sie erinnert sich an gar nichts anderes. Ich habe das Gefühl, dass Mirabelle wirklich mein Kind ist und dass sie nicht grundlos auf diese Weise zu mir gekommen ist.«
»Niemand kann ernsthaft abstreiten«, fügte Mr McCullough hinzu, »dass Mirabelle in einem geordneten Umfeld mit zwei Elternteilen besser aufgehoben ist.«
»Es gibt Stimmen, die befürchten, Mirabelle könnte den Kontakt zu ihrer ursprünglichen Kultur verlieren«, sagte der Produzent. »Wie begegnen Sie solchen Befürchtungen?«
Mrs McCullough nickte. »Wir bemühen uns, sensibel mit diesem Thema umzugehen«, sagte sie. »Ihnen fällt sicher auf, dass wir asiatische Kunst bei uns aufgehängt haben.« Sie zeigte zum Kamin, wo Papierrollen mit Tuschezeichnungen von Bergmotiven hingen und auf dem Sims ein glasiertes Tonpferd stand. »Wir sind verpflichtet, ihr von ihrer ursprünglichen Kultur zu erzählen, wenn sie älter wird. Und sie liebt natürlich Reis. Das war sogar ihre erste feste Mahlzeit.«
»Gleichzeitig möchten wir«, sagte Mr McCullough, »dass Mirabelle wie ein typisches amerikanisches Mädchen aufwächst. Sie soll wissen, dass sie genau wie alle anderen ist.« Der Bericht endete mit einer Aufnahme der McCulloughs, die sich über die Wiege beugten, in der Mirabelle ihr Mobile ankrähte.
Auch die Richardson-Kinder waren bei diesem heiklen Thema gespalten. Mrs Richardson stand natürlich, ebenso wie Lexie, fest auf der Seite der McCulloughs. »Schaut euch an, wie Mira­belle jetzt lebt«, rief Lexie eines Abends Mitte Februar beim Es­sen. »Ein großes Haus, in dem sie spielen kann. Ein Garten. Zwei Zimmer voller Spielsachen. So ein Leben kann ihr ihre Mutter nicht bieten.« Mrs Richardson stimmte ihr zu: »Sie lieben sie so sehr. Haben so lange gewartet. Und sie aufgezogen, seit sie ein Säugling ist. Inzwischen erinnert sie sich gar nicht mehr an ihre Mutter. Mark und Linda sind die einzigen Eltern, die sie kennt. Es wäre für alle Beteiligten grausam, sie jetzt wegzunehmen, wo sie doch wirklich ideale Eltern sind.«
Moody und Izzy wiederum ergriffen eher Partei für Bebe. »Sie hat einen Fehler gemacht«, sagte Moody. Pearl hatte ihm Bebes Geschichte erzählt, und Moody stand, wie immer, auf Pearls Sei­te. »Sie dachte, sie könnte sich nicht um das Baby kümmern, und dann hat sich ihre Lage geändert, und sie konnte es doch. Des­wegen sollte man ihr das Kind nicht für immer wegnehmen.« Izzy war entschiedener: »Sie ist die Mutter. Die McCulloughs sind nicht die echten Eltern.« Etwas an dem Fall hatte einen Fun­ken in ihr gezündet, vage und noch nicht in Worte zu fassen.

Ng berichtet ausführlich und überlässt dem Leser die Frage, ob Kultur denn angeboren sein könne. Viele Themen werden in Gesprächen abgehandelt. Wo die Personen nicht genug wissen, schaltet sich oft die Autorin ein. “Von alledem konnte Mrs Richardson natürlich nichts wissen.” Immer wieder erklären längere Rückblenden die Vorgeschichte von Personen oder Situationen, etwa Mias Leben, bevor sie nach Shaker Heights kam. Celeste Ng erzählt konventionell, im Stil oft bemüht (was aber auch an der Übersetzung liegen kann.)

Mia war eigentlich tolerant, aber als Pearl schließlich nach oben kam – nach Rauch, Alkohol und noch etwas riechend, das Mia ziemlich eindeutig als Gras identifizierte -, wusste sie vor Ärger nicht, was sie sagen sollte. »Geh ins Bett«, brachte sie schließlich hervor. »Wir reden morgen früh darüber.« Es wurde Morgen, Pearl schlief lange, und als sie schließlich gegen Mittag auftauchte, zerzaust und mit Schlaf in den Augen, wusste Mia immer noch nicht, was sie sagen sollte. Du wolltest, dass Pearl ein normales Leben führt, ermahnte sie sich – tja, so sind Teenager nun mal. Ein Teil von ihr hatte das Gefühl, dass sie sich stärker einbringen sollte – dass sie wissen musste, was Pearl machte, was Lexie machte, was sie alle machten -, aber wie? Zu ihren Partys und Hockeyspielen mitkommen? Pearl grundsätzlich verbieten auszugehen? Am Ende sagte sie nichts, und Pearl aß schweigend eine Schale Müsli und legte sich wieder ins Bett.

Das Ende wird schon am Anfang erzählt. “Was folgt, ist eine Spurensuche in Zeitlupe. So symmetrisch, wie in Shaker Heights alle Straßenzüge auf dem Reißbrett entworfen sind, bringt Celeste Ng ihre Figuren und Handlungsstränge in Position.“ (Sofia Glasl, SZ) Wer hat den unausweichlichen Brand gelegt? „Mit ihrem Porträt ihrer Heimatstadt Shaker Heights gelingt Celeste Ng im Kleinen das Psychogramm einer von Klasse und Privilegien besessenen Gesellschaft, die Assimilation als einzig legitime Lebensweise anerkennt.“ (Glasl)

2017      385 Seiten

Leseprobe bei dtv

2-3

 


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