Nachrichten vom Höllenhund


Fricke
20. November 2018, 17:48
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Lucy Fricke: Töchter

fricketoechterWenn man sich finden, zu sich kommen will, muss man möglichst weit weg. Die beiden Protagonistinnen sind als „Töchter“ schon um die Vierzig, haben aber, wir sind im 21. Jahrhundert, noch keinen Lebens- und Sinnmittelpunkt für sich gefunden. Vorgezeichnete Berufswege gibt’s nicht, die Herkunft verliert sich im Familien-Patchwork, was noch zu erwarten ist, bleibt eine Leerstelle. Das Wünschen hilft auch nicht mehr, man weiß ja nicht einmal, was man sich wünschen soll.

Die Töchter sind Martha und Betty. Betty erzählt und fährt den Golf, mit dem sie Marthas lange absenten Vater Kurt auf dessen Begehr zur finalen Entsorgung in die Schweiz bringen sollen. Das Motiv ist noch für einige Zeit relativ neu im deutschen Erzählen und liefert Lucy Fricke manch schnurrige Situation in dieser Road-Novel. In den saloppen Formulierungen stecken genaue Kenntnis der menschlichen Psyche und ihrer Macken und viele Reflexionen über das lamentable Leben von Vierzigern zwischen sehnlich erwünschter Verankerung und Hinübergleiten ins Jetzt-ist-es-schon-zu spät.

Martha hatte immer gedacht, das würde sie machen, wenn sie alt sei. Nach Italien kannst du auch als Krüppel noch fahren, habe sie sich gesagt. Jetzt waren wir also so weit.
Sie wischte wieder über ihr iPhone und entschied, dass wir zuallererst nach Genua fahren und dort übernachten würden, dann weiter über Florenz nach Bellegra.
«Ehrlich», sagte sie, «nach Genua wollte ich schon immer. Obwohl ich bis gestern nicht gewusst habe, dass mein Vater dort seinen ersten Liebeskummer ertränkt hat.»
Mir war nicht ganz klar, wer hier wen wohin fuhr. Zu wessen Abschieden und Erinnerungen wir auf dem Weg waren.«Was soll das eigentlich werden?», fragte ich. «Thelma und Louise?»
«Die waren jung, sexy und unterdrückt», sagte Martha. «Guck uns an, wir sind nicht mal unterdrückt.»
«Tschick?», probierte ich weiter.
«Das waren Jungs. Wir sind Frauen kurz vor den Wechsel­jahren. Ich hoffe, das willst du nicht vergleichen.»
Die Landschaft um uns herum wurde ruhiger, wir fuhren durch ein aufgeräumtes Norditalien, vorbei an Abzweigun­gen nach Mailand und Turin, dem Meer entgegen, und Mar­tha lehnte sich zurück.

Wie leicht man glauben konnte, seine Eltern zu kennen, und dabei vergaß, dass auch sie einmal jung und verzweifelt gewesen waren, selbst wenn sie damit viel früher hatten aufhören müssen, weil wir dann kamen, was nicht die Ver­zweiflung beendet hatte, wohl aber das, was wir unter jung­sein verstanden. Zwei Dinge waren es, die einen erwachsen werden ließen, die Geburt des ersten Kindes und der Tod der Eltern. Martha stand ganz kurz davor.

Die erste Wende: Der todgeweihte Kurt entscheidet sich um und lässt sich an den Lago Maggiore chauffieren zu Francesca, einer früheren Beziehung. So tragisch das alles ist, so stark sind die beiden Frauen mit den Unbilden des Weges und ihrer eigenen Zielunsicherheit beschäftigt – fahren heißt auch verdrängen.

«Ich weiß nicht», sagte Kurt, «es ist so lange her. Das ist ja das Schlimme. Ständig denkt man an die Zeit zurück, in der man jung war. An die Momente, in denen man die falsche Entscheidung getroffen hat, in denen das Leben eine andere Richtung nahm, während man selbst unfähig war, sich zu bewegen.»
Martha und ich nickten nur traurig, vielleicht nahmen wir uns in diesem Moment vor, am Ende unseres Lebens weniger zu bereuen. (…)Dass ihm erst spät klargeworden sei, dass man seiner Herkunft nicht entkommen könne, sagte Kurt, dass man nur die Fehler seiner Eltern variiere und im Grunde jede Gene­ration geschickter darin werde, Mist zu bauen und sich das Leben zu versauen. Man solle dabei so wenig Schaden wie möglich hinterlassen, das sei das Einzige, was er uns raten könne. «Macht euch nicht schuldig», sagte er und trank sein Bier aus. (…) Dass ihm erst spät klargeworden sei, dass man seiner Herkunft nicht entkommen könne, sagte Kurt, dass man nur die Fehler seiner Eltern variiere und im Grunde jede Gene­ration geschickter darin werde, Mist zu bauen und sich das Leben zu versauen. Man solle dabei so wenig Schaden wie möglich hinterlassen, das sei das Einzige, was er uns raten könne. «Macht euch nicht schuldig», sagte er und trank sein Bier aus.

Martha und Betty fahren weiter nach Bellagra, denn “der Name stand seit fast zehn Jahren in (Bettys) Kopf. Erst hatte (sie) von Adoption geträumt, später von Heirat.”: Ernesto Carletti, gestorben am 12.4.2007. “Vielleicht war es gut, dass du verschwunden bist, bevor ich erwachsen wurde. Was hätte aus uns werden sollen? Und doch: Was hätte aus uns werden können? Warum ich vierzig werden musste, um das zu begreifen, war unerklärlich. Ein anständiger Therapeut hätte mir das am Ende der ersten Sitzung sagen können.”

Jetzt ist Betty an der Reihe, ihre Vergangenheit zu finden. Trotz des Grabsteins in Bellagra spürt sie ihrem Ziehvater Ernesto nach und fährt, der Golf ist inzwischen geschrottet, in die Ägäis, auf eine kleine Insel; es gab eine “hypnotische” Spur. Das letzte, lange Kapitel der “Töchter” heißt “Abschied von den Vätern”. Betty sucht jetzt allein.

Ich zog meine Schuhe an und lief los, weg von der Bucht, die Hügel hinauf, wusste nicht, wo ich suchen sollte, wonach genau ich suchte, nur die diffuse Idee, dass es Spuren geben müsste, hatte ich im Kopf. (…)Ohne Ziel und Sinn war ich umhergestreift, war ausschließlich meinen eigenen Erinnerungen begegnet und einer gewissen Unheimlichkeit, die sich in mir festsetzte. Ich gehörte nicht zu jenen, die alles spürten. Ich war zutiefst gegen jeden Spürterror. Ich sah, was ich sah, hörte, was ich hörte, Geister, Übersinnliches, Vorahnungen, Wiedergänger gehörten definitiv nicht dazu. Schon die Astrologie wider­te mich an. Aber etwas war unheimlich auf der Insel.

Griechenland ist natürlich stark mythologisch belastet, auch wenn sich die Neugriechen als gegenwartsnah zeigen. Die Story wird zusehends mysteriös, an die Stelle des schnoddrigen Humors tritt eine Räuberpistole,Waffe eingeschlossen. Im letzten Drittel fehlt die Widerpartin, in der man sich spiegeln und wiederentdecken kann, „solidarischen Spott“ nent das Jan Brandt (taz). Es tropft zu viel Ernsthaftigkeit aus den Zeilen, das Pathos wird – trotz der virulenten Selbstironie – nicht mehr ausreichend unterlaufen. Lucy Frickes “Töchter” erhielt 2018 den Bayerischen Buchpreis. “In diesem Roman kreuzen sich Thelma & Luise mit der Tiefe eines Peter Weiss (‚Abschied von den Eltern‘): Ein grandios erzähltes Buch über die ganz großen Themen der Existenz“ (Svenja Flaßpöhler, Jurorin) Dennis Scheck trieb es Lachtränen in die Augen. Trotzdem lesenwert.

Vielleicht war es das Alter. Mit vierzig waren wir nicht mehr so heiß auf Überraschungen. Wir waren zu müde, das Abenteuer zu suchen. Wir hatten in der Vergangenheit Aben­teuer gehabt, die uns in Katastrophen, Armut, manchmal sogar für einen Moment ins Glück gestürzt hatten, nichts da­von bereuten wir, aber gar so vieles mussten wir nicht mehr tun, nur um es getan zu haben. Wir hatten uns an die kleine Trauer gewöhnt, die mit dieser Müdigkeit einherging. Wir fuhren einfach weiter und tankten zwischendurch. So war das Leben. Das Tanken war für die meisten ein Pauschalurlaub, eine Kreuzfahrt, ein Verlieben. Am Ende starb man vielleicht während einer Ayurvedakur an einem Schlangen­biss, in London durch einen Verkehrsunfall, bei einem Ter­roranschlag an einem paradiesischen Strand und hatte nichts im Leben so richtig falsch gemacht.

2018       240 Seiten

Leseprobe beim Rowohlt-Verlag

Dennis Scheck im Gespräch mit Lucy Fricke (ARD Druckfrisch)

Diskussion im SRF-Literaturclub

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