Olivier Guez:
Das Verschwinden des Josef Mengele
Mengele ist der Fürst der europäischen Finsternis. Der stolze Arzt hat Kinder seziert, gefoltert und verbrannt. Der Sohn aus gutem Hause hat fröhlich pfeifend vierhunderttausend Menschen in die Gaskammer geschickt. Lange hatte er geglaubt, sich wieder aus der Affäre ziehen zu können, er, »die Spottgeburt von Dreck und Feuer«; er, der sich für einen Halbgott hielt, der Gesetze und Gebote mit Füßen getreten und anderen Menschen, seinen Brüdern, teilnahmslos so viel Leid und Kummer zugefügt hatte.
Ich weiß, dass dieser Schreckensmensch sich der Strafe durch die Flucht nach Südamerika entzogen hat und dass er dort 1979 gestorben ist. Ich habe mich wiederholt aufgeregt, dass er – wie viele andere – zig Jahre lang unbehelligt weiterleben konnte, aber muss ich auch wissen, wie es diesem Mengele im „Exil“ ergangen ist, wie er „gelitten“ hat? Muss ich gar Mitgefühl für sein Los aufbringen?
Olivier Guez begleitet Mengele durch Südamerika in der Art des „recit“ (link: Vuillard), einer nachempfindenden Geschichtserzählung, wie sie in Frankreich gerne gelesen wird. „Nur mit der Form des Romans konnte ich dem makabren Leben des Nazi-Arztes möglichst nahekommen.” (Guez) Da muss nicht alles genau so gewesen sein, aber das Geschehen ist gut recherchiert und wird für den Leser anschaulich, auch der Leser kommt nah an die Personen. Oft näher, als er will und als ihm guttut. In Frankreich wurde der Roman zum „Sensationsbestseller“ (Klappentext). Darf man davon ausgehen, dass das Buch in Deutschland mehr von Gruselfaszinierten oder wiederaufziehenden Nazis gelesen wird?
Mengele ist ein unangenehmer Mensch. Arrogant, überheblich, uneinsichtig, voll larmoyanten Selbstmitleids, manisch ichfixiert. Das heißt im Konglomerat auch: dumm. Einer, der das Wort „Herrenmensch“ in Anspruch nimmt wie auch unreflektiert die „Herrenrasse“. Ein Nazi.
»Papa, was hast Du in Auschwitz gemacht?«
Unwirsch hält Mengele inne, man unterbricht ihn selten. »Meine Pflicht«, sagt er rundheraus, »meine Pflicht als Soldat der deutschen Wissenschaft: die biologisch-organische Gemeinschaft schützen, das Blut reinigen und von seinen Fremdkörpern befreien«.
Guez zeigt das schon deutlich als hohle, substanzlose Ideologie. Aber er steht oder sitzt daneben, immer, überall, lange, zu lange und er feit sich nicht gegen das Melodram.
Mengele hat sich noch nie so einsam gefühlt wie in dieser Gewitternacht. Während er schnurrbartkauend Galle spuckt, streifen Blitze die Finsternis und der Himmel grollt, als beharkten Stalinorgeln die Hügel, auf denen die Farm Santa Luzia liegt. Hölle und Verdammnis, murmelt er, Gott, wie tief ist er gefallen, wie schnell ist er in den letzten drei Jahren von der Erdoberfläche gerutscht, verschwunden, unbedeutend, nur noch von zwei zarten Fädchen am Leben gehalten, dieser ungarischen Familie, die ihn früher oder später verraten wird, und dem penetranten Gerhard, diesem absoluten Versager und brasilianischen Pseudo-Nazi. Die feinen Schnüre drohen jeden Moment zu zerreißen. Fürchterlich! Im Morgengrauen sinkt Mengele schweißgebadet auf sein Bett.
Was soll das !?
Neben den Geschichten mit Mengele gibt Guez Einblicke in die Geschichte um Mengele. Auszüge aus seinem “Wirken” in Auschwitz, einen kleinen Abriss der peronistischen Faschistokratie im Argentinien der 50er-Jahre, Einblicke in die bundesrepublikanische Interesselosigkeit am Verfolgen der Nazi-Täter, Ausblicke auf Fritz Bauer und den Eichmann-Prozess, Exkurse nach Günzburg, wo Mengeles Sippschaft einen florierenden Landmaschinenhandel betrieb. Das ist informativ, das ist wichtig, auch in Deutschland, auch heute. Ohne Bedeutung ist Mengeles Gabardineanzug und damit letztlich auch der Roman von Olivier Guez.
Seit die Stammers seine Identität herausgefunden hatten, nagte die Angst an ihm, und die Nachrichten über den Eichmann-Prozess in Jerusalem, den er von Weitem mitverfolgte, sobald ihm eine Zeitung in die Hände fiel, setzten ihm nachhaltig zu. Er flehte Sedlmeier an, ihn aus dieser Falle zu befreien. Er war am Ende, erschöpft von der ewigen Flucht von Versteck zu Versteck, von seinem Leben als Einsiedler, ein gehetztes Tier zwischen Jaguaren und Ameisenbären. Und dann die Savanne mit ihrer vermaledeiten Hitze! Er war nicht mehr in der Lage, drei Seiten am Stück zu lesen: Bald würde er komplett verrückt. Sedlmeier half ihm auf und reichte ihm ein Taschentuch, nachdem er seinen Gabardineanzug abgeklopft hatte.
2017 220 Seiten
Gespräch mit Olivier Guez auf SWR1-Leute (40 Minuten)
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