Nachrichten vom Höllenhund


Wunnicke
13. Dezember 2018, 16:39
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter: ,

Christine Wunnicke:
Die Dame mit der bemalten Hand

1759 hält Prof. Michaelis in Göttingen Vorträge über die Bibel und ihre historischen Wahrheiten.wunnickedame

»Der Gelehrte, ich, wir, hier, daheim in unseren Stuben«, fuhr Michaelis fort, »wir lesen aus unseren Büchern und Gedanken ab, was in den Ländern des Orients zu finden sein wird und wie es uns hilft, die heilige Schrift zu begreifen. Wir stellen nach richtigem Studium die richtigen Fragen. Wir lesen die Bibel und den Koran, sie mit dem rechten, ihn mit dem linken Auge, und stellen im Gehirn die Verbindung her. Es ist nämlich Hebräisch und Arabisch nur ein verschiedener Dialekt ein und derselben Sprache, nicht mal völlig so weit entfernt als Obersächsisch und Niedersächsisch, und ich leiere das her wie eine Repetieruhr, bis mir das Schlagwerk erlahmt, und Sie halten immer noch Maulaffen feil. Arabien ist unsere Wiege! Dort spielt sie, die heilige Schrift! (…) Der Reisende, den wir in den Orient schicken, ist unser Rennpferd. Der Springer auf unserem Schachbrett. Unser Werkzeug, unsere Angel, unsere Linse. Unser Fernrohr ist er!«

In der Vorlesung sitzt auch Carsten Niebuhr, eigentlich Mathematiker, aber vom Theologen Michaelis so inspiriert, dass er sich einer dänischen Expedition anschließt, die sich in biblischen Landen mit Überlieferungen, Menschen und Sprachen befassen soll. Carsten Niebuhr ist eine historische Person.

Christine Wunnicke lässt allein Niebuhr die Reise überleben, allerdings findet er nicht sofort wieder nach Hause, sondern strandet auf der Flussinsel Elephanta bei Bombay – bekannt für ihre hinduistischen Höhlen. Auf Elephanta leben nur wenige Leute, aber viele Affen. Auf Elephanta wartet auch der persisch-indische Gelehrte Musa ibn Zayn ad-Din Qasim ibn Qasim ibn Lutfullah al-Munaggim al-Lahuri, kurz Musa, bekannt für seine selbstgefertigten Astrolabien. Niebuhr und Musa verstehen sich nicht, interessieren sich aber wegen ihrer „wissenschaftlichen“ Beobachtungen füreinander. Das Schiff, mit dem sie weiterreisen wollen, lässt auf sich warten und so ergeben sich Gelegenheiten für Kommunikationsversuche und für Insel-Erkundungen.

»Ich kann dir nicht folgen«, sagte Musa.
   »Mein Arabisch  …«
   »Dein Arabisch ist gut und ich rate, wovon du sprichst. Und dann?«
   »Am   tiefsten ist es bei Bahr al-Qulzum. Das schrieb ich auf, und die Maße. Dem Beduinen   war der Faden der Ruhe zerrissen und er schmiss mir die Lanze um. Beduinen sind furchtbare Leute. Fragt man sie etwas, sagen sie immer >ja, ja<. >Hat Israel hier das Meer durchquert?< — >Ja, ja.< >Geschah es nicht eher dort?< — >Ja, ja<. Dann ging’s ins Gebirge. Viel Gebirge gibt es bei Sues. Staubige Wüste mit Aussicht. Doch an den Prospekten des Landes mich zu erfreuen, wurde ich nicht bezahlt. >Hat Gott hier die Leute mit dem Tod gestraft, die zu viel Salwa-Selav-Vögel verspeisten?< — >Ja, ja<. >Fängst du mir einen Vogel, guter Scheich, zwischen den vielen Bergen, die vielleicht Sinai sind, aber vielleicht auch nicht, auf dass ich ihn braten und essen kann und der Herr mich tötet?«<
   »Ha, ha«, sagte Musa.
   »Was?«
   »Da sagte der Beduine >ha, ha<, nehme ich an. Hast du Fieber?«
   »Es steht in meinem Auftrag geschrieben!«
   »Samt Gott dem Allmächtigen?«
   »Samt Gott dem Allmächtigen und seinem heiligen Wort!«
   Musa steckte Holz ins Feuer. Als es aufflammte, rückte er näher und blickte Niebuhr mit gerunzelter Stirn ins Gesicht. Wiederum konnte Niebuhr seine Miene nicht deuten. Allerlei war dort in Bewegung, Lachlust, Mitleid, ein wenig Ekel vielleicht — Niebuhr wusste es nicht.

wunnickedame2Christine Wunnicke nimmt sich sehr viel Zeit für dieses verständniswillige Aufeinandertreffen der Zivilisationen, viel Zeit fürs Beobachten der Affen-Population, viel Zeit für sprachliche und kulturelle Missverständnisse, für Einblicke in divergente Beziehungen zu Wissenschaft und kulturelle Traditionen, auch zu Grenzbereichen der Esoterik. „All das wird in einer spielerisch anmutenden Weise erzählt, die lebhaft fabulierend vieles in der Schwebe hält und eine schillernde, pittoreske Welt erschafft.“ (Bories vom Berg) All das plänkelt vor sich hin, verplänkelt sich, es kommt lange kein Schiff, das die Protagonisten von ihrer Insel holt und damit auch den Leser erlöst.

P.S. „Die Dame mit der bemalten Hand“ ist der arabische Name eines Sternzeichens, das im Westen weniger pittoresk benannt ist.

2020 – 165 Seiten

4

Niebuhrs Bericht übet seine Reise nach Arabien

Christine Wunnicke: Katie

wunnickekatieDa ist William Crookes. Wissenschaftler, soweit man das Ende des 19. Jahrhunderts sagen kann, er entdeckt das Element Thallium, befasst sich mit Radioaktivität, experimentiert mit Kathodenstrahlung, ist Mitglied der Royal Society und „Ich habe gestern den vierten Aggregatzustand entdeckt”, sagte William Crookes zu seiner Frau. In Alltagsdingen wie Familie oder Haushalt eher irrlichternd, zunehmend verunsichert, weshalb er sich auch dem Spiritismus zuwandte. William Crookes gab es wirklich.

Da ist Florence Cook, ein kränkelndes Mädchen von 17 Jahren mit eigenartigen Fähigkeiten.

Im Winter 1869, in ihrem dreizehnten Jahr, stellte Florence Cook fest, dass sie ihre Hände hinter dem Rücken mit derselben Eleganz und Inbrunst zum Gebet falten konnte wie vorne vor der Brust.
Es kostete wenig Anstrengung. Einmal überm Gesäß verschränkt, glitten sie mühelos immer weiter nach oben, bis zwischen die Schulterblätter, und die Schultern blieben bei alledem schön gesenkt, der Hals lang, der Rücken gerade wie ein Besenstiel; und wenn Miss Cook wollte, konnte sie auch die Unterarme bis zu den Ellenbogen zusammenlegen, ohne dass ihr Nachthemd aus der Fasson geriet.

Diese Gaben gestatteten ihr, sich in Schränken zu verkriechen und sich aus angelegten Fesseln zu befreien. Sie wurde zum Medium, denn in ihrer Zeit war es von der Begabung zur Magie noch nicht weit, das „Sitzen“ (die Séance) war beliebtes Spektakel und ließ sich auch recht profitabel vermarkten. Auch Dr. Crookes versuchte sich darin. Florence Cook gab es wirklich.

Wer bezahlte, wollte nicht betrogen sein, nicht hinters Licht geführt werden. Und so kam es, dass William Crookes einen Auftrag annnahm, das Medium Florence zu begutachten. Als Strahlenexperte war er der Mann, sich auf die Luminiszenzen des Mädchens katie2einzulassen, auch konnte man solche Expertisen profitabel verwerten. Wissenschaft und Hirngespinst manifestierten sich in Geld. Es gibt Fotos davon.

Christine Wunnicke macht aus den Erscheinungen einen kleinen Roman. Das ist nichts aktuell Weltbewegendes, aber doch reizend, denn sie erzählt mit ersichtlicher Freude von den Beschwörungen der Aggregate und der Geister. Die spintisierenden Schlüsselfiguren kämpfen sich durch ihre physischen und psychischen Defizite, aufrecht gehalten durch wenige Pragmatiker wie Nelly Crookes, die real durch die Wohnung wandert. Oder der schüchtern-biedere Gehilfe Pratt, der sich an seinem Radiometer erfreut. „Jeremiah Pratt (…) hatte keine dezidierte Meinung über die Phänomene der Welt. Was half es einem? Was half es einem wie Pratt?” Faktenfetischismus meets Okkultismus. Damit „ist Christine Wunnicke ein Roman gelungen, der Wissen und Wünschen in ein hinreißend schummriges Verhältnis zueinander setzt (…) Kawumm!” (Jutta Person, SZ) Christine Wunnickes “Bücher kommen unscheinbar daher, entfalten beim Lesen aber größten Zauber“. (Ulrich Rüdenauer, SWR)

Und dann kommt Katie.Katie war ein Kind der Sünde, gezeugt im Schatten des dreigegipfelten Cadair Idris” in Wales. “Katie wurde stark und schön. Wenn der Mond über dem Cadair Idris hing, schrie sie nach Elfen und Trollen. Man fürchtete sie. Männer wollten sie. Auch Frauen wollten sie; denn der Geist des Vaters war so stark in Katie, dass sie manchmal, vor allem bei Vollmond, halberlei ein Knabe war.” Das trug sich zu im 17. Jahrhundert, zur Zeit der Bukanier, und jetzt leuchtete Katie im Victorianischen Zeitalter als Geist wieder auf.

Sie trug ein weißes Kleid oder Hemd und über dem Kopf, über anscheinend offenem blondem Haar, ein weißes Tuch, das auf ihre Schultern herabfiel. Das zage Licht umspielte ihre Gestalt und ihre Konturen verschwammen darin. Sie ging lang­sam, lautlos, mit sicherem Schritt. Ihr Gesicht blieb im Schatten. Ihr Kleid oder Hemd war zart und beweglich, es wehte ein wenig und ein Mieder befand sich darunter nicht. In großem Abstand von Crookes, der regungslos sitzen geblieben war, hielt sie inne. Jetzt drehte sie ein wenig den Kopf. Ein weiches, schönes Profil. Sie nickte. Crookes machte ein Geräusch, eine Art Schnappen. Da lächelte die Fremde. Ihre Lippen waren schwarz im niedrigen Gaslicht, die Augen blass. Keine Farben waren in dieser Frau. Sie sah aus wie ein Lichtbild. Der Ton changierte, vom matten Sepia einer Albuminkopie bis hin zum Blauschwarz und Reinweiß eines kostbaren Chlorgoldabzugs.

»Ja oh, Pratt«, sagte der Geist.
Er sah Miss Cook ein wenig ähnlich, und dann auch wieder nicht. Er sah aus wie ein Bursche, der wie ein Mädchen aussah; zu seinen Lebzeiten, vermutete Pratt, war solches noch an der Ord­nung gewesen.
»Sechzehnhundertdreiundfünfzig.« Der Geist las Gedanken. Das war das geringste Problem. Er hatte unter Pratts Decke ge­griffen, unter der sich dieser weitgehend versteckt hatte, und sei­ne Hand genommen und herausgeholt, und nun hielt er sie in der seinen. »Oh Pratt«, sagte der Geist noch einmal. Seine Hand war weich und griff fest zu.
Dies war eine Menschenhand. Ob sie verstorben und vergeistigt war? Pratt bezweifelte es. Ob sie aus soliden Atomen bestand, wie Demokrit und Boyle und Bernoulli sagten? Das bezweifelte er eben­falls. Jeremiah Pratt hatte keine dezidierte Meinung zur Stofflich­keit des Geistes in seinem Bett. Denn dort befand er sich nun. Und lächelte. Und diskutierte nicht. Er verwirrte Pratt. Doch dann er­freute er ihn, seine Stofflichkeit, seine Atome und Nichtatome, seine newtonisch beharrliche Kraft und Masse. Er erfreute ihn, wie sich Pratt bislang nur selbst erfreut hatte – meist über Formeln gebeugt und ganz in ihnen verloren; wie ein Bursche erfreute er ihn, wie ein zweiter Pratt, der wusste, was dem ersten Pratt notwendig war, wie Pratts Geist, der Pratts Körper erfreute, wie Pratts Körper, der Pratts Geist erfreute, wie alle Zwischenstufen zwischen Energie und Ma­terie, die einander erfreuten, in einer komplizierten, unkomplizier­ten, letztendlich pragmatischen Weise. So schlicht. So schön. Dun­kel war es in Jeremiah Pratts schmalem, jungfräulichem Bett, und fort war das Glühen im Haar des Geistes, und Pratt dachte, oder flüsterte gar, »p-strich gleich p plus df durch dt«, und all das Schö­ne explodierte langsam und lautlos und lange, nach dem Gesetz der elektrischen Elastizität und oh, dem Durchflutungsgesetz.

Ob es Katie wirklich gab? Egal, solange Christine Wunnicke so viel Esprit in Geister und Körper zaubert. Eine amüsante, geistreich funkelnde  Geschichte. Wird man, wenn abermals 200 Jahre vergangen sein werden, auch auf unsere Zeit als gutgläubiges graues Gestern zurückblicken? Wenn es noch Menschen mit Rückblicken gibt.

2017       175 Seiten

3SAT – Büchertip vonKatrin Schumacher

Zum Thema Prof. Crookes

2

Christine Wunnicke: Serenity

wunniserenityIn eine reichlich exotische Welt führt auch Christine Wunnikes „Serenity“: ins Internet. Für Dr. Rüdiger Varendorf, 53, liegt hier absolutes Neuland. Der leicht verschrobene Leiter der Schopenhauer-Bibliothek habilitiert seit Jahren über die „Ideengeschichte des Nichts im abendländischen Denken“.

Zur Zeit erforschte er den Begriff der Anni­hilatio in Luthers Frühwerk Dictata super Psalterium. Wenn sich im Kollegenkreis oder anderswo die Mög­lichkeit bot, verspottete sich Varendorf gerne ausgie­big selbst, als einen gutartig weltfernen Nihilisten, der nach vielen Jahren mit Meister Eckhart nun bei Luther gelandet sei und dort auch noch eine gute Weile blei­ben wolle, da ihn jeder Schritt nach vorn unweiger­lich näher zu dem selbsternannten Alleinpächter aller modernen Nichtstheorie, Martin Heidegger, führen würde, den Varendorf aus dem Stegreif viertelstunden­lang parodieren konnte und nicht zu seinen Idolen zählte.

Dr. Varendorf ist nicht weltfremd, er ist nur nicht mit allen technischen Neuerungen der letzten Jahrzehnte vertraut. Er hat eine Freundin, Marion, einen Sohn, einen Balkon, der von allerlei Düften und Geräuschen umweht wird und auf dem er entspannt und arbeitet, und er hat den Asistenten Urs, der ihm Zu Hause einen Anschluss ans Internet einrichtet.

Dr. Varendorf, 53, ist hin- und her- und ins Netz hineingerissen. Er will da rein, weil da drin eine Chatgruppe haust, die er bei seinen eher ziellosen Besuchen entdeckt hat, eine Gruppe quakender Teenies: Aprilchan,LauraAutomatic, Salli04, Prozacduckie, CaliNeko. Dr. Varendorf verliert sich is abendländische NICHTS.

Er öffnete megablogg.com. Er klickte create Journal an. Ein Formular erschien. Name? Varendorf gab seinen Na­men ein. Passwort? Varendorf gab »Varendorf« ein. Wie würde Urs mit ihm schimpfen, wenn Urs das wüsste, Varendorf zündete sich grinsend eine Zigarette an.
Username?Varendorf gab »Varendorf« ein.
Hey Varendorf, rad! I buddied you! Nein. Varendorf löschte »Varendorf«. Er bezweifelte, das Aprilchan einen Varendorf auf ihrer Kumpelliste haben wollte. Er brauchte einen anderen Namen.
Ruediger?
Rudy?Marchchan?
Varendorf schüttelte den Kopf über diese idiotischste aller Aufgaben. Er tippte wieder »Varendorf«. Er lösch­te es erneut. Am linken Bildrand trabte das Pärchen durch Manhattan, mein Date ist so süß, und wenns nun HERPES ist?
Schopenhauer?
Gauloise?
Serenity Herpes Balm. Become one of our thousands of satisfied customers today!
Nothing?

Nihil?
Nichts? Nullo? Rien?
Varendorf stöhnte. Dann tippte er »Serenity«.

Dr. Varendorf beginnt als Serenity zu leben und zu leiden, aus heiterem Gleichmut wird zehrende Sucht. Von Assistent Urs geworfen verbeißt er sich , alters- und geschlechtsblind, in die Tiefen der Chatrooms in der ersponnenen Meinung, als Wissenschaftler sei er Herr des Versuchs. Das Aufeinandertreffen des leicht verschrobenen Bibliothekars mit Aprilchan & Co. gestaltet Christine Wunnicke zu einigen schönen Episoden in parallelen Neuländern. Erzählt ist das mit Feinsinn und wohlwollender Ironie. Das Netz ist ähnlich skurril wie „Katie“s Lumineszenzen im 19. Jahrhundert, doch war die Welt damals nicht nur räumlich, sondern vor allem zeitlich weiter entfernt und mir deshalb noch fremder und ergötzlicher.

2008            230 Seiten


Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar



Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..



%d Bloggern gefällt das: