Nachrichten vom Höllenhund


Tiefer Schweb
25. Dezember 2018, 17:21
Filed under: Theater

Tiefer Schweb. Ein Auffangbecken
von Christoph Marthaler

Inszenierung: Christoph Marthaler

Klausurdruckkammer 55b. Anmutung: Zwirbelstube – nein: eher –halle -, holzgetäfelt, ein Tisch mit Stühlen, links hinten ein grün gekachelter Ofen. (Bühne: Duri Bischoff) Abgeteufte Provinz. Exakt 243 Meter, die tieftste Stelle des Bodensees. Tiefer Schweb. Drei Länder: Deutschland, Schweiz, etwas Österreich. Der See aber leidet. Ungeschützte Pflanzen, mit resistenten Keimen verseuchtes Wasser, marine Metaphern, über der Druckkammer dümpeln tisch2Boote mit Flüchtlingen, „fluide Lebensweisen auf H2O basiertem Untergrund“, es werden immer mehr. Das ist die verantwortungsvolle Aufgabe für den Ausschuss des «Amtes für Passdokumente und Ansässigkeitsbescheinigungen».

Der Staat stellt sich tot. Der Ausschuss beschäftigt sich – zunächst einmal (?) – mit sich selbst. Ein Ausschuss eben. Die Regeln der Arbeit wollen aufgestellt sein, die Ausschussmitglieder müssen sich ihre Qualifikation bescheinigen (Annette Paulmann im Slam), die Anwesenden sind zu begrüßen, der Druck in 55b muss abgelassen werden. Ausschüsse haben es so in sich, dass ihnen ihr Thema aus dem Blick gerät. Der Theaterzuschauer folgt ihnen dabei und findet es lustig. Christoph Marthaler schiebt die absurden Situationen vor jegliche ernste Thematik, das Publikum goutiert die Groteske und gluckst. Die Gags kommen überraschend, aber doch so, wie man sie erwarten durfte. Zitate aus der Mottenkiste des Humors, etwas anders arrangiert, gut getimet und gespielt. Ja, diese subtile Derbheit. Eine Auswahl aus dem Nachgeglucks des After-Play-Talks: Und …

… als Hassan Akkouch seine erfolgreiche Einbayerung beweisen muss: Alles über die Weißwurst im Schnellsprech – bestanden. Führen Sie einen Volkstanz Ihrer Wahl vor – und er plattelt. Ueli Jäggi gibt die Namen des Bodensees in erdenklich vielen Sprachen und Dialekten preis. Glucks. Der Kachelofen erweist sich als Einstiegsluke in die Druckkammer, gegen Ende pilgern alle von dort durch die Stube und verkleiden sich Stück für Stück mit traumhaften alpenändischen Kostümen. Wunderschön daneben. Alle am Tisch stimmen ein deutsches Volkslied von 1653 an („Geh aus, mein Herz, und suche Freud“) und hören nicht auf, bis alle 15 Strofen abgesungen sind. „Ich selber kann und mag nicht ruhn, des großen Gottes großes Tun erweckt mir alle Sinnen; ich singe mit, tisch3wenn alles singt, und lasse, was dem Höchsten klingt, aus meinem Herzen rinnen.“ Walter Hess greift den banalen Text auf und skandiert ihn in die Runde. Ein Effekt fürs Publikum. Noch ein wenig britisch-fäkaliserter Humor? Beim Pinkeln philosophieren zwei der Herren üder das Wollen: «Das Denken ist aber im überlieferten Sinne immer auch ein Wollen.» – «Denken ist Wollen, Wollen ist Denken.» Tiefsinn? Flachsinn? Heidegger? Bei dem einen hört es gar nicht mehr auf, beim anderen tröpfelt es nur: Freier Wille? Die Urinale kann man sich auch vor den Kopf halten und durchsingen. „Dabei ist das tisch4Großartige bei Marthaler ja immer auch, dass man nie genau weiß, also im intellektuellen Sinne begreift, was das Einzelne wirklich bedeutet.“ (Simon Strauss, FAZ) Das Highlight: Drei Keyboards rollen auf die Bühne und Jürg Kienberger, Stefan Merki und Raphael Clamer übertrumpfen sich zu einem kakofonen Medley aus „’Sounds of Silence’, ‚A Whiter Shade of Pale’, ‚In München steht ein Hofbräuhaus’ und ‚Die Fischerin vom Bodensee’. Ueli Jäggi und Olivia Grigolli singen dazu und Hassan Akkouch treibt sein Platteln zur Ekstase. Wahnsinn. Zwischenapplaus. Worum geht’s in dem Stück?

Die Persiflage zerfleddert in bürokratische Wortungetüme (Integrationskompatibilität, Einbürgerungsbewältigungstraining) und anderen Klamauk. Ja, man kann sich einbilden, einem aktuellen politischen Thema aufgesessen zu sein und damit nicht unter Niveau gegluckst zu haben. Man spendet reichlich Applaus und geht guter Stimmung aus dem Theater. Man lacht am besten, wenn man über sich selbst lacht, ohne tisch1dass man es merkt. „Die Bretter, die Raphael Cla­mer schließlich in wütendem Aktionismus an die Wand nagelt – es sind auch die vor unserem Kopf.” (Christine Dössel, SZ) Man kann die Bretter, mit denen die Ausschussmitglieder und den entrollten Stacheldraht natürlich auch politisch deuten. Geschützt werden nicht die Verfolgten, der Ausschuss fühlt sich verfolgt. Regression, Triebumkehr. Das Blut quillt aus der Nase, “O Haupt voll Blut und Wunden.” Und danach in die Kneipe.

Münchner Kammerspiele – Aufführung am 21. Dezember 2018


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