Francesca Melandri: Alle, außer mir
Als Ilaria in ihre Wohnung auf dem Esquilin heimkommt, steht ein Mann vor ihrer Tür. Was nichts Besonderes wäre, wäre dieser junge Mann nicht schwarz und würde dieser Mann nicht behaupten, er heiße Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti. Er dokumentiert diesen Namen mit einem Personalausweis. „Unter dem Schriftzug ETHIOPIA stehen sechs elegante Buchstaben, ganz rund, schräg und verschnörkelt. Ilaria klappt ihn auf Auch hier ist alles in zwei Schriftarten geschrieben. In lateinischen Lettern steht dort: SHIMETA IETMGETA ATTILAPROFETI.“ Ilaria ist verblüfft, denn Attilio Profeti heißt ihr Vater, der junge Schwarze. “Wenn Attilio Profeti dein Vater ist, dann bist du meine Tante.” Ilaria geht zu ihrem Halbbruder, der gegenüber wohnt und auch Attilio Profeti heißt.
Aus dieser Einleitung könnte man eine Novelle machen, doch Francesca Melandri entfaltet eine Epoche. Die Epoche einer italienischen Familie in der italienischen Geschichte von 1915 bis 2010. 2010 ist das Basisjahr, von dort aus wird zurückgeblickt, dorthin kehrt der Roman immer wieder zurück.
Ilaria (die “Fröhliche”) hat zwei Brüder, Emilio und Federico, sie erfährt eher beiläufig von einem Halbbruder und jetzt ist der junge Schwarze da, der behauptet, der Sohn eines weiteren Halbbruders zu sein. Sein Vater sei das Kind des Patriarchen Attilio Profeti, gezeugt und geboren von seiner Mutter Abeba (die “Blume”) in Äthiopien. Attilio kann dazu nicht mehr befragt werden, denn er ist in seinen 90ern und dement. Ilaria ist auf sich selbst gestellt und sie weiß die Autorin Melandri auf ihrer Seite. Melandri lässt Ilaria Fotos und Dokumente finden, sie selbst hat ausführlich recherchiert, um ihre Fiktionen historisch abzusichern.
„Alle, außer mir“ ist ein Familienroman. Der italienische Titel lautet „Sangue giuosto“, das „richtige Blut“. Wer gehört dazu, zum Blut des Attilio Profeti, wer hat das richtige, das „italienische“ Blut? Eine Frage der „Rasse“. Das Kind, das Viola
in die Welt gesetzt hatte, das schön war wie eine Frau und muskulös wie ein Athlet. Der einzige Mensch, der sie mit seinem Lachen eines jungen Gottes ihre mittelmäßige Existenz für einen Moment vergessen ließ. Die umfassende Nachsichtigkeit, mit der die Mutter jede Verfehlung Attilios hinnahm, die ekstatische Begeisterung über seine Erfolge, die unreflektierte Art, mit der sie ihn gegenüber Otello bevorzugte, kurz die apokalyptische und ein wenig verzweifelte Liebe, die Viola ihrem Jüngsten entgegenbrachte, war unverbrüchlich mit ihrer brennenden Verehrung der faschistischen Revolution und vor allem der Person des Duce verbunden.
Später wird Attilio sich den Schwarzhemden anschließen und in Abessinien seine theoretische und praktische Rassenkunde fortsetzen. “Auch hat sich die Einschätzung bestätigt, dass die schwarze Frau geistig unterlegen ist, was oftmals an schiere Schwachsinnigkeit grenzt. Bei ihr verliert die weibliche Haltung viel an menschlichen Zügen und nähert sich im Gegenzug sehr stark dem Tierischen”, schreibt er ins Vorwort eines Buches über Anthropometrie. Ilaria findet Fotos daraus über “Rassemerkmale” in ihrem “Erdkundebuch aus dem Gymnasium. Kapitel Menschenrassen” .Sie “liest auf der Rückseite des Buches: >Gedruckt 1971< Ich habe es ein paar Jahre später benutzt.” Attilio nutzt sein “attraktives Äußeres” – ein “Prachtexemplar des Faschismus” – dazu, sich eine 17-jährige Schwarze als Frau zu nehmen, die er verleugnet, als er wegen “Rassenschande” verurteilt werden soll. Ansonsten hat er einen Posten als Zensor der Soldatenpost aus Abessininen in die Heimat. Francesca Melandri kann aus diesen Karten zitieren und zugleich die Mechanismen der Faktenmanipulation in Zeiten des Krieges demonstrieren.
In ihrem Roman schneidet Melandri viele weitere soziale, politische und historische Themen an. Das reicht von der Gentrifizierung der Piazza Vittoria in Rom bis hin zur brutalen Kolonisierung Abessiniens. Ausführlich wird von den Gräueln der faschistischen Italiener erzählt, von den Senfgaseinsätzen, dem Abschlachten beliebiger Menschen schwarzer Haut, von der Versklavung der Männer und – auf andere Weise – der Frauen und der verblendeten Ideologie, mit der man die Barbarei zu rechtfertigen versuchte.
Ansonsten war es ein Kinderspiel, mit Maschinengewehren Gegner niederzumähen, die mit Keulen und Stöcken und allerhöchstens Pfeil und Bogen bewaffnet waren, die wenigen, die den Ansturm der Askaris überlebt hatten. »Wenn von hundert Abessiniern neunundneunzig tot sind«, schrieb Attilio seiner Mutter Viola, »marschiert der letzte noch weiter. Das kann man nicht einmal mehr Mut nennen, sondern nur noch tierischen In stinkt. In diesem sinnlosen Handeln steckt nichts Edles, nichts Heroisches. Es hat nichts gemein mit dem Opfer, das unsere Soldaten bringen, wenn sie mit dem Vaterland im Herzen und dem Namen des Duce auf den Lippen zur Attacke schreiten.
Das ist wichtig, weil man in Deutschland von diesem Kapitel faschistischer Schweinereien nur wenig weiß – und weil man in Italien nicht nur darüber schweigt, sondern den Tätern wieder Ruhmeshallen baut. (Im August 2012 wurde ein mit Subventionsgeldern der Region und der Gemeinde errichtetes Mausoleum zu Ehren des Kriegsverbrechers Rodolfo Graziani im Beisein von neofaschistischen Bürgern und dem Bürgermeister eingeweiht.) An den Häusern in Rom finden sich immer noch Liktorenbündel (Fasces), dem Symbol der italienischen Faschisten.
Melandri berichtet von der italienischen „Entwicklungshilfe“ an Äthiopien, von der Geschichte Äthiopiens seit den 1970-er Jahren, vom „Derg„, vom Deal zwischen Berlusconi und dem libyschen Machthaber Gaddafi bei dessen monströs inszeniertem Staatsbesuch in Rom. Es zeigt sich, dass in Italien die Landesgeschichte noch weniger aufgearbeit ist als in vielen anderen Ländern. (Die jüngsten Entwicklungen hin zur Rehabilitierung des Faschismus konnte Melandri noch gar nicht berücksichtigen.)
Ein wichtiges Thema ist auch die Flucht. Nach der Überwindung der lebensbedrohenden Durchquerung der Sahara unter der Geisel skrupelloser Schleuser wartet die qualvolle Haft in libyschen Lagern. Der junge Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti kommt durch Zufall frei, um dann durch die Verschreckungen der italienischen Asylbürokratie (CIE, Zentren für Identifizierung und Abschiebung, Italien scheint in dieser Beziehung noch weiter als Deutschland zu sein.) weiter traumatisert zu werden. In die italienische Geschichte sind die fiktiven Personen eingewebt. Voran Attilio Profeti, der alles erlebt hat, nicht an herausragender Position, aber immer als beflissener subalterno, der sich, weil er nicht ganz so brutal war wie die übrigen bornierten Soldaten, überlegen fühlte: “Alle, außer mir.” Von den Soldaten waren viele “arbeitslos, mittellos und hatten kaum die Schule besucht, oder waren vorzeitig entlassene Delinquenten, die im Tausch nun in den Krieg gingen.”, Männer wie Attilio aber hielten sich für “direkte Abgesandte des Duce”, für italiani brava gente. Verdrängung als Mythos. Attilio verleugnet auch seine Familie, seine Kinder, hält sein Ich von sich fern.
Ilaria ist die Avatarin der Autorin, Lehrerin, informiert, linksliberal, streitlustig, aber nicht frei von Schwächen, vor allem der für Piero Casati, einen Abgeordneten der Forza Italia. Sie wird, weil sie Tochter ist, in die Geschichte hineingezogen. Bei der Verflechtung der Ebenen treten die Hauptfiguren immer wieder zugunsten der Realgeschichte in den Hintergrund, doch findet Melandri die Fäden und führt sie durch den Roman. „’Alle, außer mir’ ist ein – nicht nur – italienisches Sittengemälde, das punktgenau ins nervöse Herz der Gegenwart trifft.“ (Meike Fessmann, SZ) Nachdem Attilio gestorben ist, stellt sich der Startpunkt als Finte heraus.
2017 600 Seiten
ttt-Bericht (6 Minuten)
Diskussion im Literarischen Quartett des ZDF (von Anfang bis Minute 15)
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