Annie Ernaux:
Erinnerung eines Mädchens

Annie Ernaux’ „Die Jahre“ ist die vergesellschaftete Biographie des französischen Mädchens in den 40er/50er Jahren. (Le singulier universel) In der „Erinnerung eines Mädchens“ wechselt Ernaux in ihren Singular. „Die Jahre“ waren natürlich auch die Jahre der Annie Ernaux, die „Erinnerung“ ist allein ihre, auch wenn sie weiß, dass die Identität nur in Zusammenhang und Auseinandersetzung mit der Umgebung der Zeit gefunden werden kann.
Ich bin ein wenig irritiert vom Titel des Buches. Das französische „Mémoire de fille“ ist korrekt übersetzt, „fille“ bedeutet aber auch „Tochter“. Ob man eine 18-Jährige in Frankreich als „fille“ = „Mädchen“ bezeichnet, weiß ich nicht. Vielleicht mag es 1958, als Annie Duchesne (ihr „Mädchenname“ !) 18 wurde, noch so gewesen sein. Oder Annie sieht sich – auch im Rückblick – als Mädchen; das subjektive Empfinden der Konvention ist hier entscheidend, aber seinerseits bezeichnend.
Im Französischen fehlt der Artikel, auch der unbestimmte. In Deutschland war und ist man mit 18 kein „Mädchen“ mehr, man kann aber mit der Bezeichung spielen – oder kokettieren -, die Verballhornung „Mädel“ hat ihre eigene Geschichte. Das Alter mag eine Rolle spielen, die entscheidende spielt aber das Geschlecht. Auch hier hat das Französische eine divergierende Übersetzung.
Annie D stammt aus kleinbürgerlicher Familie und wurde in der streng-katholischen Klosterschule erzogen/geprägt. Über dem Bett der Eltern hing ein Bild der Hl. Thérèse von Lisieux. Sie „kennt kein Lied, in dem es nicht um Gott geht“. Mit 18 lebt sie in völliger Unwissenheit und Unerfahrenheit. „Sie hat kaum Kontakt zu Jungen, ihre Mutter hält sie von ihnen fern wie vom Teufel. Sie träumt von ihnen, seit sie dreizehn ist. Sie weiß nicht, wie man mit ihnen spricht.” „Wie ihre völlige Unwissenheit rekonstruieren, ihre Erwartung an das, was für sie das absolut Fremde und zugleich Wunderbare der Existenz ist – das Geheimnis, über das seit ihrer Kindheit getuschelt, das damals aber nirgendwo beschrieben oder dargestellt wird? “ Da müsste die Tür aufgehen, auf dass man hineintreten könnte ins Erwachsenensein. Ins Frau-Werden. „In dem Moment, als Annie Duchesne an diesem 14. August 1958 durch das Tor treten soll”, der “Tür zum Festsaal des Lebens”, und “diesmal tritt sie durch das Tor”, geöffnet in der Ferienkolonie, in der sie als Betreuerin eingestellt ist.
Drei Motive treiben Annies Initiation an, drei Motive, die sie ausgiebig wiederholt:
– das Bedürfnis, dazuzugehören in einer Gemeinschaft jenseits von Eltern, sozialer Schicht und Kirche. Sie sieht sich als „ein von der Koppel entlaufenes Fohlen, zum ersten Mal allein und frei, ein wenig scheu. Begierig darauf, ihresgleichen zu treffen, diejenigen, die sie für ihresgleichen hält. Die sie als ihresgleichen anerkennen werden”. Ihr “Bedürfnis, dazuzugehören, (…) weil das Glück der Gruppe größer ist als die Erniedrigung, will sie weiterhin dazugehören. Ich sehe sie, wie sie den anderen gleichen will, bis zur vollständigen Anpassung. (…) Sie ist neidisch auf den stolzen, solidarischen Korps, zu dem sie sich gruppieren, Jungen und Mädchen.”
– das Wissen, eine Grenze überschreiten zu müssen, d.h. sich hinzugeben. „Sie empfindet eine wohlige Angst und kann ihm nicht in die Augen sehen. Sie weiß nicht, wie ihr geschieht.” Sie erinnert “die Lust, von ihm, H, entjungfert und besessen zu werden. Er sagt – Frage oder Befehl? -, sie solle ihm auf sein Zimmer folgen. Alles fügt sich ihrem Begehren, (…) sie überkommt ein irrsinniges Glück. Eine unglaubliche Verzückung. (…) Ihr Geliebter für alle Ewigkeit. Glück, Frieden, vollzogene Hingabe. Himmel und Erde werden vergehen, aber diese Nacht wird nicht vergehen. Die Nacht der Erweckung”. Mehr religiöses Vokabular, religiöses Empfinden geht nicht.
– die orale Ersatz-Befriedigung: vom übermäßigen Essen bis hin zur Fellatio, „nachdem sie ihm freiwillig einen geblasen hat”, (…) er ist ihr immer einen Schritt voraus. Er schiebt sie nach unten, in Richtung seines Bauchs, steckt ihr seinen Schwanz in den Mund, (…) er allein ist Herr der Situation” Unausgesprochen: die Aufnahme des Leibes des Herrn. „Ich war nicht von dem Bett aufgestanden, auf dem ich mich nackt ausgestreckt hatte, zitternd, nur um im nächsten Moment von dem Glied eines Mannes geknebelt zu werden, dem ich vom nächsten Tag an eine abgöttische Liebe entgegenbringen würde.” Sie spürt „ein immenses, unaussprechbares Begehren, (in) der Erwartung einer heiligen Erfahrung und der Angst, (…) den verzweifelten Drang nach Haut.” „Sie isst immer mehr, genießt hemmungslos den Überfluss an Nahrung, die freie Verfügbarkeit, empfindet dabei eine Lust, von der sie nicht mehr loskommt.”
Aber alles, das Begehren, die „Erfüllung“ (!), das Glück ist unsicher. Annie Ernaux muss sich dessen vergewissern, die Traumata verarbeiten, selbstständig werden, aufsteigen. Leichter als im realen Leben geht das im Ersatz: der Aneignung von Wissen und des (literarischen) Kanons, dem Lesen, der Mehrung der Klugheit: die Beste werden. Bücher schreiben. „Ich bin es, die schreibt.“ Die Scham aber bleibt.
Schluss mit dem dilettantischen Psychologisieren über Korporationen und Inkorporierungen. In der Diskussion wurde „Erinnerung eines Mädchens“ oft heruntergezogen auf MeToo-Niveau. Aber zum einen ist das Thema (versuchte? erduldete?) Vergewaltigung hier als Teil der Identitätssuche zu sehen. Das Interesse liegt auf der Verstörung des unvorbereiteten Mädchens, das sich mit mannstypischem Gebaren konfrontiert sieht, „dem universalen Gesetz der wilden Männlichkeit„, sich dem aber auch – aus anderen Motiven – selbst aussetzt. Die Jungfräulichkeit ist nur ein mystisch-religiös konnotierter Nebenaspekt. Zum anderen wird das Thema von breiten Erzählungen über Freund*innen und über die Spurensuche gerahmt. Für mich ist das eher langweilig.
Die Methode Ernaux’ erscheint ambivalent. Einerseits ermöglicht die reflektierte Präzision der Erinnerung verbunden mit dem ständigen Infragestellen der Gedanken verblüffende Einblicke in die sozial formierte Psyche der Frau als Mädchen. Andererseits nimmt sie dem Leser das Selbstdenken ab, betreut ihn beim Mitdenken, aber seine/ihre Phantasie wird unterlaufen. Das Private im Sozialen zu suchen, kann interessant sein, zuvörderst für die Suchende selbst. „Den Abgrund erkunden zwischen der ungeheuren Wirklichkeit eines Geschehens in dem Moment, in dem es geschieht, und der merkwürdigen Unwirklichkeit, die dieses Geschehen Jahre später annimmt.” Zu der 18-jährigen Annie D schafft sie Distanz, indem sie von ihr in der 3. Person spricht: „sie“. Nur so kann sie sie kontrollieren, nur so kann sie die geknebelte Scham ertragen und verarbeiten. Nur so kann sie ihr Erwachsenwerden beenden, kann sie zum „Ich“ werden. „Die Jahre“ suchen stärker im Sozialen, befriedigen aber wegen ihrer Tendenz und Möglichkeit zur Verallgemeinerung verständlicherweise meine Neugier nachhaltiger.

P.S. Das Coverfoto präsentiert das Mädchen mit den Augen zwischen Selbstbewusstsein – Das bin ich! – und distanzierender Scheu. Das Changieren lässt mich an Mona Lisa denken. Frappant ist das danebengelegte Bild der Thérèse von Lisieux.
2018 165 Seiten
Leseprobe beim Suhrkamp-Verlag
Diskussion im SRF-Literaturclub 0:52 – 15 Minuten
1 Kommentar so far
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Geradezu irritierend verblüffend der letzte Satz. Du kennst die kleine Therese, die große Theresa, die von Avila, das wusste ich, aber die kleine? Schön, wenn man so überrascht wird
Kommentar von Josef 6. Februar 2019 @ 19:46