Nachrichten vom Höllenhund


Sachbuch 2019/1
24. Februar 2019, 15:51
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Julia Ebner: Wut.
Was Islamisten und Rechtsextreme mit uns machen

weberwutJulia Ebners zentrale These: Islamisten und Rechtsextreme sind aufeinander fixiert, ja angewiesen. Sie ähneln sich in ihren hierarchischen Strukturen, in ihrem „Schwarz-Weiß-Denken“, ihrer Nutzung von Medien, in ihren Anschlägen. Julia Ebner hat für „die weltweit erste Organisation zur Prävention von Extremismus Quilliam hearbeitet“, jetzt ist sie als Extremismus- und Terrorismusforscherin beim Institute for Strategic Dialogue (ISD) tätig.

In diesen Funktionen und der Arbeit zum Buch „Wut“ (im englischen Original: The Rage) hat sie eine Fülle von Material zusammengetragen, die formale Gemeinsamkeiten und wechselseitige Überlagerungen stützen. Sie wertet Verlautbarungen, Media-Kanäle, Anschläge aus und nutzt auch ein weiteres Mittel zu Beleg und Unmittelbarkeit der Informationen: persönliche Gespräche, nicht nur mit Wissenschaftlern. „Wir wollen nicht die Ersten sein, wir wollen recht haben“`, erzählt Charlie mir bei einem Kaffee auf dem Campus der LSE, wo seine Denkfabrik ihren Sitz hat. „Blödsinn.“ Er seufzt. „ – „Was empfindest du, wenn du solche Artikel siehst?“, frage ich Mohammed, einen in London wohnhaften 22-jährigen muslimischen Geschichtsstudenten.” – „Wenn eher ein Klima der Feindseligkeit und Gewalt herrscht, ist eine Reaktion islamistischer Extremisten wahrscheinlicher“, sagte mir Richard Barrett, der frühere Leiter der Global Counter Terrorism Ope­rations für den britischen Auslandsgeheimdienst SIS (Secret Intelligence Service) bei einer heißen Schokolade in Victoria. (…) Für Richard ist wechselseitige Radikalisierung oft das Ergebnis einer„ Reaktion auf die Wahrnehmung, nicht auf die Realität„.

Man muss nicht alles lesen, um Ebner Resümee für plausibel zu halten. Die Kapitel sind auch nicht immer deutlich abgrenzbar, zudem dauert es bis Seite 37, ehe das Kapitel 1 startet. In den einzelnen Bereichen werden jeweils die islamistischen und die rechtsextremen Strukturen behandelt. Also: Die neue islamistische/rechtsextreme „Welle“, islamistische/rechtsextreme Identitätspolitik, jeweilige Propaganda- und Medien-Blase, jeweilige geographische „Hochburgen“ in GB/F/D/USA.

Aus Geschichten können im Lauf der Zeit durch Wiederholung ihrer Muster Narrative werden und aus Narrativen Metanarrative. Ein Metanarrativ kann man auch als große Geschichte bezeichnen, die hilft, den oftmals tief in einer Kultur verankerten Kosmos der kleinen Ge­schichten zu verstehen. So fing etwa der globale „Krieg gegen den Ter­ror“ als eine Serie zusammenhängender Ereignisse an, verwandelte sich aber bald in ein Narrativ vom „Westen, der sich im Krieg mit dem Islam befindet“, das von islamistischen Extremisten instrumentalisiert wurde, indem sie es mit einem Metanarrativ von den Kreuzfahrern und vom Endzeitmythos verknüpften.

Umfassende Erklärungen sind nicht das Hauptthema von Julia Ebners Schreiben. Es geht um die Frage, WAS die Extremisten machen (und wie), nicht so sehr um das Warum.

In einem Zeitalter, wo sogar Menschen ohne Zugang zu sauberem Wasser Zugang zu Mobiltelefonen haben, können die Armen den Bildern auf Facebook und Instagram, die das beneidenswerte Leben der Reichen zeigen, nicht entkommen.
Empfundene sozioökonomische Ungerechtigkeit ist eine entscheidende Triebkraft für Identitätspolitik und Radikalisierung. Die Marginalisierung der Mehrheiten – sowohl regional als auch international – hat zum Aufstieg des IS und der Popularität islamistischer Organisationen im Nahen Osten, in der Golf-Region und darüber hinaus beigetragen. Aber sie hat auch unsere westlichen Gesellschaften anfälliger für Radikalisierung und politische Gewalt gemacht. Im Lauf der vergangenen 140 Jahre konnten rechtsextreme Parteien ihren Stimmenanteil nach einer Finanzkrise jedes Mal im Schnitt um 30 Prozent erhöhen.“ Die „Empörten“, die feststellten, dass ihre Straßenproteste nichts änderten, mussten radikalere Wege finden, um ihre Unzufriedenheit mit dem Status quo zu zeigen. Indem sie ihre liberalen, demokratischen Heimatländer für etwas verließen, das sie für eine bessere Welt hielten, beispielsweise das Pseudo-Kalifat des IS. Oder indem sie für jene an den Rändern des politischen Spektrums stimmten, die behaupten, die Mitte der Gesellschaft zu repräsentieren. Extremisten haben die Lücken gefüllt, wo staatliche Institutionen scheiterten.

Die unterschiedlichsten Wege führen in den Extremismus, aber es gibt klare Anfälligkeitsmuster. Ein Charakteristikum, das Menschen gemeinsam haben, die sich extremistischen Gruppen anschließen, ist Per­spektivlosigkeit. Nur Hoffnungslosigkeit ist schlimmer als Vertrauens­verlust. „Er dachte, er hätte nichts zu verlieren. Für ihn gab es keine Per­spektiven. Ich hätte aufmerksamer zuhören sollen, was er sagte, aber wie hätte ich es wissen sollen?“, erinnert sich die Mutter eines auslän­dischen Kämpfers, der 2014 nach Syrien ging. Es ist wie beim Rou­lettespiel: faites vos jeux. Junge Menschen setzten nicht mehr auf untä­tige Politiker und korrupte Eliten.
In einer solchen Atmosphäre, wenn Gesellschaften Menschen kei­ne sinnvollen Orientierungspunkte mehr zur Ausbildung einer Identität bieten können, gedeihen extremistische Gruppen.

Bis heute benutzen [Extremisten] den Ver­weis auf kollektive Traumata ganzer ethnischer, kultureller oder religi­öser Gemeinschaften, um deren kollektive Identität zu stärken und sie an ihre gemeinsame Pflicht zur Verteidigung ihrer Länder zu erinnern.

Ebners Anmerkungen zu den Gründen sind zielführend, aber doch eher knapp – und so bleiben auch ihre Antworten auf das Wie-Weiter allgemein: „“Den Teufelskreis durchbrechen“. „Wir mögen in ein neues „Zeitalter der Wut“ eingetreten sein, aber Geschichte verläuft nicht linear. Wir können immer umkehren und eine andere Richtung ein­schlagen. Wir sind es, die die Narrative unserer Vergangenheit, Gegen­wart und Zukunft prägen. Glauben wir daher an unsere Fähigkeit, einen positiven Wandel herbeizuführen. Unser einziger wirklicher Feind ist der Hass; unsere beste Waffe ist Solidarität. Hören wir also zu und lernen wir statt zu verbieten und Bomben zu werfen. Verschließen wir nieman­dem die Tür; bleiben wir stattdessen offen für Dialog und Debatte mit allen. Was den Humanisten vom Antihumanisten unterscheidet, ist, dass Ersterer jedem – auch der Person, die er oder sie am meisten hasst – eine zweite Chance geben würde.

Die Arbeiten von Julia Ebner und ihrer Kolleg*innen sind ein Baustein zu einer Befriedung der Welt. Aber sie laufen den Radikalisierungen, der WUT imer hinterher und können nicht die Ursachen des Terrors beseitigen.

Jörg Kronauer:
Meinst du, die Russen wollen Krieg ? – Russland, der Westen und der zweite Kalte Krieg

kronauerrussenJörg Kronauer hat sich ein umspannendes Archiv angelegt, aus dem er seine Aussagen mit links blegen kann. Viele Zahlen und kryptische Kürzel (HQ MNC-NE, CANVAS) bezeugen Handelsströme und Wirtschaftsinteressen, die Schwerpunkte der Kapitel über deutsche und US-Russlandpolitik. Zentral geht es dem Westen um Rohstoffe und Energie. Kronauer greift weit in die Geschichte zurück, zeigt das Auf und Ab und die Kontinuitäten. Der Ukraine-Konflikt steht jeweils am Ende, ist aber nicht so solitär wie heute oft gesehen.

In der russischen West-Politik sei Russland zunächst „Auf der Suche nach Bündnissen“ gewesen, aber von den Westmächten, der NATO und der EU brüsk abgewiesen worden und habe in der Ära der „Eigenständigkeit“ Bündnispartner in Asien oder auch im Nahen Osten gesucht.

Im abschließenden Kapitel „Der neue Kalte Krieg“ wird Kronauer unverblümter und ideologischer. Er hält dem Westen „Spaltungsaktivitäten“ beim Zerfall der Sowjetunion vor, Einmischungen bei der Abkehr von Russland („Farbrevolutionen in Georgien und der Ukraine), „Formierung der Opposition“: „Wie war das, als auf dem Kiewer Maidan die Proteste tobten und auch deutsche Experten einräumten, gut ein Drittel der Demonstranten stehe der faschisti­schen Partei Swoboda zumindest nahe oder sei gar für sie aktiv? Da­mals waren nicht nur zahllose anfeuernde Stellungnahmen deutscher Politiker zu hören; Außenminister Guido Westerwelle nutzte einen Aufenthalt in Kiew am 4. Dezember 2013 sogar, um sich in einem Akt demonstrativer Sympathiebekundung persönlich in die Menge auf dem Maidan zwischen Liberale und Faschisten zu mischen. Lawrow blieb mit seiner empörenden Verbalintervention zugunsten der bro­delnden rassistischen Menge immer noch unterhalb des von Wester­welle gewählten Eskalationsniveaus.” Dazu kommen Sanktionen und – weiter aktuell: die Ausdehnung der NATO bis hin zu Manövern im Baltikum an Russlands Grenze (“Die Lücke von Suwalki”). “Russlands Gegenschlag” sei “Mit gleicher Münze” erfolgt, eine “Kopie deutscher Polit-Praktiken”.

Jörg Kronauers Bücher sind Gegenentwürfe und als solche wichtige Ergänzungen und Korrektive zur splitterigen Darstellung in westlichen Medien. Zeitungsartikel können hier eingeordnet werden, was die eigene Meinungsbildung unterstützt.

Fatma Aydemir und
Hengameh Yaghoobifarah:
Eure Heimat ist unser Albtraum

heimatalbtraumMigration ist immer ein Versprechen auf ein besseres Leben, einen German Dream. Der German Dream meiner Großeltern war, etwas Geld zur Seite zu legen und damit in der Türkei ein Stück Land zu kaufen. Der German Dream meiner Eltern war, ihren Kindern ein Studium zu ermöglichen und ein großes deutsches Auto zu fahren. Und was ist meiner? Ganz einfach: Ich will den Deutschen ihre Arbeit wegnehmen. Ich will nicht die Jobs, die für mich vorgesehen sind, sondern die, die sie für sich reservieren wollen – mit der gleichen Bezahlung, den gleichen Konditionen und den gleichen Aufstiegschancen. Mein German Dream ist, dass wir uns alle endlich das nehmen können, was uns zusteht – und zwar ohne dass wir daran zugrunde gehen. Rest in Power, Semra Ertan.

Fatma Aydemir beschäftigt sich mit den anderen 13 Autor_innen des Sammelbandes „Eure Heimat ist unser Albtraum“ mit der Frage, was vom „weißen Blick“ der „Bio-Deutschen“ zu halten ist, die sich ihre „Heimat“ frei von als fremd markierten Personen halten wollen. Wer nicht „deutsch“ aussieht, also dunklere Haut, und schwarze Haare hat oder auch nur einen nichtdeutsch klingenden Namen, wird ausgegrenzt. Er/Sie fühlt sich ständig begafft und wird befragt, woher er/sie denn kommt. Es reicht nicht, in Deutschland geboren zu sein, auch wenn seit 2004/2014 auch in Deutschland ein jus soli gilt.

Die Autor_innen fordern das gleiche Recht ein. Sie wollen sich nicht mehr für ihre „Herkunft“, ihren „Migrationshintergrund“, ihre Religion rechtfertigen müssen, sie wollen „Teil einer Gesellschaft sein, in der jedes Individuum, ob Schwarz und/oder jü­disch und/oder muslimisch und/oder Frau und/oder queer und / oder nicht-binär und / oder arm und / oder mit Behinderung gleichberechtigt ist“.

Sasha Marianna Salzmann schreibt über „Sichtbarkeit“, Fatma Aydemir (Zitat oben) über „Vertrauen“, Sharon Dodua Otoo über „Liebe“. Hengameh Yaghoobifarah sieht sich „Blicken“ ausgesetzt. Vina Yun rühmt das koreanische „Essen“, Reyhan Şahin plädiert für unkontrollierten „Sex“. Margarete Stokowski denkt über „Sprache“ nach. Manche der Texte bieten profunde Informationen, etwa Mithu Sanyal über das „Zuhause“. Sie befasst sich mit verschiedenen Begriffen von „Heimat“ und resümiert: „Die entscheidende Frage lautet also nicht »Wo kommst du her?«, sondern »Wo wollen wir zusammen hin?«!“

Viele Texte erschöpfen sich in der subjektiven Betroffenheit. Etwa Hengameh Yaghoobifarah in ihrer – berechtigten – Klage über den „white gaze“: „Meine Ästhetik ist vieles: Sie ist camp, sie ist queer, sie ist femme, sie ist das beliebte Kind aus der Mittelstufe im Jahr 2003 und gleichzeitig die Außenseiterin von 2007. Aber crazy? Für ein Kloster-Retreat vielleicht. Aber nicht für eine europäische Großstadt, wo es Menschen gibt,, die in Clownskostümen oder als Kupferstatuen geschminkt un­terwegs sind. »Zwischen all denJunggesell_innenabschie­den bin ich fast schon eine graue Maus!«, protestiere ich. Ich trage nun wirklich nichts, was sonst niemand anhat. Dennoch gehören Situationen, in denen ich von Um­stehenden angestarrt oder ohne mein Einverständnis fotografiert werde, mittlerweile zu meinem Alltag. Ich werde als »anders« wahrgenommen, als »fremd«. Aus welchem Grund, weiß ich nie genau. Hängt es damit zu­sammen, dass ich dick bin? Dass ich queer bin? Dass ich Kanak_in bin? Oder liegt es wirklich an meinem Style? Vielleicht ist es auch alles zusammen. Vielleicht ist ein_e dicker, queere_r Kanak_in mit einem Bombenoutfit zu viel Schock für Annika. Aber sind diese Zuschreibungen überhaupt alle auf den ersten Blick ersichtlich?”

Wenige Text sparen sich Tiefgang und bilden sich etwas darauf ein, dass die Autor_innen nicht Steffi, Sebastian oder Nadine heißen: “In der Grund­schule wurde schnell klar, dass er anders war. Anders als die Michaels, Christians und Julias. Nicht weil er sich so fühlte, sondern weil sie ihn jedes Mal darauf aufmerksam machten. Sie gaben ihm den Spitznamen »Spaghettifres­ser«. (…) Er weiß nicht, was genau das Thema ist, kann es sich aber schon denken.” Enrico Ippolito erkennt seine Schludereien und kreidet sie auch sich selbst an. Im Autor_innenverzeichnis lese ich ,dass er seit 2015 das Kulturreferat von Spiegel-Online leitet. Da passt er hin. Max Czollek fasst seine Forderung: “Desintegriert euch!” zusammen.

Im letzten Beitrag wird Simone Dede Ayivi versöhnlich:

Ich glaube nicht an Heimat. Ich glaube an Heimaten. Das können besondere Orte sein, denen wir uns ewig ver­bunden fühlen, egal, wie weit wir weg sind, und egal, wie lange wir schon nicht mehr dort waren. Doch meistens sind es Menschen, die uns vertraut sind und denen wir vertrauen.
Zu Hause ist, wo ihr seid.

Das Buch versteht sich als “Manifest” und ist wichtig im Zusammenhang der Debatte um Integration. Es wird nichts ändern, denn so einfach ist die Sache mit Vaterland und Muttersprache nicht. Ein Viertel der Menschen in Deutschland hat (2018) einen “Migrationshintergrund”.

Ich habe als alter weißer Mann wenig persönliche Erfahrungen mit latentem oder aggressivem Rassismus. Beim Lesen habe ich mich ertappt, wie ich bei einzelnen Beiträgen nach dem Übersetzer/der Übersetzerin gesucht habe. Es wird auch noch dauern, bis man ohne Nachschauen weiß, ob man es mit Verfasser oder Verfasserin zu tun hat, viele Vornamen sind in Deutschland nicht geläufig.

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Schriftstellerin, Theaterautorin und Kolumnistin Jagoda Marinic wendet sich in der SZ gegen das Ausblenden der Frage nach der Herkunft, wie es die Autor_innen fordern.

Dieser Wunsch vieler Menschen mit hybriden Biografien, endlich in Ruhe gelassen zu werden mit der Frage, woher sie kommen, ist eine ungewollte Absage an die Vielfalt in sich selbst und somit an die Vielfalt dieser Einwanderungsgesellschaft. Es ist seltsam, einerseits Vielfalt zu fordern, doch andererseits von der Vielfalt im eigenen Leben nicht mehr erzählen zu wollen.

Natürlich, es wäre eine einfache Regel für die Einwanderungsgesellschaft: „Verhalte dich bitte so, als ob die Eltern deines Gegenübers nicht eingewandert wären!“ Ein solcher Imperativ kann den zwischenmenschlichen Umgang nur belasten. Verneinung und Verunsicherung. Es geht nicht darum, sich festschreiben zu lassen auf die eigene Herkunft, es geht darum, dass nur durch ein Geschichtsbewusstsein der Nachfahren von Eingewanderten für die eigenen Biografien Deutschland lernen kann, wie sehr es längst Einwanderungsland ist.

„Geschichte ist wichtig. Wenn du nichts über Geschichte weißt, dann ist es, als wärst du erst gestern geboren worden.“ Das ist ein großartiger Satz des Historikers Howard Zinn. Er begründet diesen Satz damit, dass nur der Geschichtsbewusste den Mächtigen die Stirn zu bieten weiß. Es gibt viel zu tun in diesem Einwanderungsland. Wenn die Kinder der Nachfahren nicht anfangen, die Vielfalt stärker statt weniger einzubringen, helfen sie ungewollt jenen, die sich gegen Vielfalt aussprechen. Man muss diese Geschichten ans Licht bringen. Sie sind nicht die Abweichung von der Norm. Sie werden immer mehr zur Regel. Menschen haben mehr als eine Herkunft. Sie haben mehr als einen Ort, an dem sie Einheimische sind.

Fabian Scheidler: Chaos.
Das neue Zeitalter der Revolutionen

scheidlerchaosEs geht ums Ganze und seine Teile. Fabian Scheidler stellt in Zeiten „wachsender Unübersichtlichkeit“ eine Diagnose des „Zeitalters“ und macht Vorschläge zur Therapie, „die sich insbesondere auf die ökonomischen Tiefenstrukturen beziehen“. Nicht Arbeit an Symptomen ist sein Anliegen, sondern das Freilegen der „Aspekte der systemischen Krisen und der neuen »tödlichen Ordnungen«”. In einem 16-Punkte-Programm skizziert er Möglichkeiten des Ausstiegs aus der “Megamaschine” („Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation“ ist Scheidlers vorhergehemdes Buch.)

Thematisert werden u.a. “Verbindungen von weltwirtschaftlicher Krise, ökologischem Kollaps und geopolitischem Umbruch”, “Methoden, diese Realitäten nicht zur Kenntnis zu nehmen, von der rituellen Selbstbestätigung bis hin zu Eskapismus und paranoischen Phantasien”. Er “beleuchtet die Ursachen für die Dauerkrise der kapitalistischen Ökonomie, insbesondere den Niedergang der regulären Lohnarbeit und die Dynamik von Schulden und Crashs. Die Versuche, Privilegien und Macht der bisherigen Profiteure in der systemischen Krise aufrechtzuerhalten, behandelt das Kapitel »Tribut«. Das abschließende Kapitel des ersten Teils widmet sich dem »Zerfall komplexer Gesellschaften«.

Dieses System führt in eine Welt, in der die Menschen immer härter dafür arbeiten, die Welt immer schneller in den Abgrund zu wirtschaften, und am Ende, nach vollendetem Zerstörungswerk, selbst ausgebrannt zurückbleiben. Das Bruttoinlandsprodukt, das ausschließlich Geldströme misst und in praktisch allen Ländern als wichtigste Kenngröße gilt, ist dafür ein Symbol.
Eine andere Ökonomie, die mit diesem Raubbau bricht, muss daher das Ganze unseres Zusammenlebens und Wirtschaftens in den Blick nehmen und nicht nur das, was immer wieder verkürzend als »Wirtschaft« bezeichnet wird. In einer solchen Perspektive geht es nicht nur um »Verteilungsgerechtigkeit«, also um die Anteile aus dem durch Lohnarbeit erwirtschafteten Kuchen, sondern auch darum, was überhaupt getan wird, wie es getan wird, wer es tut und zu welchem Zweck.

Schon vor gut 2300 Jahren, als die Geldwirtschaft in Griechenland erstmals das ganze Leben durchdrang, unterschied der Philosoph Aristoteles scharf zwischen Ökonomik (der Haushaltskunst) und Chrematistik (der Kunst, Geld zu vermehren). Unter Ökonomik verstand er eine Form des Wirtschaftens, die der Bedarfsdeckung dient, während Chrematistik darauf abzielt, endlos abstrakte Reichtümer in Form von Geld anzuhäufen.‘,‘ In dieser Perspektive ist ein großer Teil unserer Wirtschaft heute gar keine Ökonomie, sondern lediglich Chrematistik. Denn sie dient ausschließlich dazu, aus Geld mehr Geld zu machen, und zwar um jeden Preis.
Die herkömmliche, klassisch-liberale Wirtschaftstheorie behauptet, Bedarfsdeckung und Gemeinwohl würden wie von Geisterhand erreicht, wenn alle Akteure ihre Anstrengungen auf die private Geldvermehrung konzentrieren, geleitet von ein paar einfachen Regeln. Mit anderen Worten: Die Chrematistik produziere wie von selbst eine gesunde Ökonomie und Wohlstand für alle. Diese Theorie darf man nach 50o Jahren real existierendem Kapitalismus und 2300 Jahre nach Aristoteles getrost als widerlegt betrachten und auf dem Friedhof schlechter Ideen begraben. Von der Unbrauchbarkeit der chrematistischen Ideologie zeugen die beispiellosen Verwüstungen der natürlichen Reichtümer des Planeten, die immer massiveren Finanzkrisen und die Tatsache, dass alle fünf Sekunden ein Kind an Hunger stirbt, obwohl mehr als genug Nahrungsmittel weltweit produziert werden.

Der zweite Teil des Buches befasst sich mit Perspektiven einer gesell­schaftlichen Reorganisation. »Vom Großen und Kleinen« widmet sich den Voraussetzungen gesellschaftlichen Wandels in den zwischenmenschlichen Beziehungen. »Wege zu einer zukunftsfähigen Ökonomie« erkundet Pfade zu einem Umbau wirtschaftlicher Institutionen: von den Eigentumsverhält­nissen über die Rechtsformen von Unternehmen, die Rolle von Markt, Geld und Schulden bis zur Wachstumsfrage und den Handelsstrukturen. Welche Türhüter in unseren politischen und medialen Institutionen, aber auch in unseren Köpfen, den nötigen Wandel behindern, und wie sie zu überwinden sind, thematisiert das Kapitel »Die Gatekeeper«.

Schließlich wirft Scheidler einen Blick auf “die Entwicklung von Chinas »nicht-ka­pitalistischer Marktwirtschaft« nach, ihre Zerstörung in der Epoche der Kolonialisierung und den Wiederaufstieg Chinas seit 1949, Von zentraler Bedeutung sind dabei die Chancen für eine neue globale Friedensordnung, die sich aus Chinas besonderer Geschichte ergeben.”

„Fabian Scheidler gelingt es, die unglaubliche Faktenfülle mit enormer Leichtigkeit zu vermitteln. Ich kann das Buch jedem unbedingt weiterempfehlen.“
Erwin Wagenhofer, Filmemacher („We Feed the World“, „Let’s Make Money“, „Alphabet“)

Ein wichtiger Text zur aufflammenden Diskussion über die immer drängender werdende Wende des tödlichen Systems des Wirtschaftens und Denkens.

Texte, Videos, Interviews und das Inhaltsverzeichnis auf der Webseite

Geoffroy de Lagasnerie:
Denken in einer schlechten Welt

lagasnerieDie These von Lagasnerie: Wissen muss oppositionell sein zur bestehenden schlechten Welt und engagiert für eine gute Welt, zumindest eine bessere. Er lehnt die These an die kritische Theorie von Horkheimer (und Adorno) an und beruft sich auch auf Foucault und Bourdieu.

Die Fragen müssen radikal gestellt werden. Wer sich dabei auf die Seite der Ethik stellt, tritt für die Verbesserungsfähigkeit ein: Die Frage nach der Möglichkeit, es besser und anders zu machen, muss immer wieder aufgeworfen und der Anspruch, über andere Arten der Produktion, Veröffentlichung und Verbreitung von Wissen nachzudenken, muss am Leben gehalten werden. (…)
Die Fragen »Was ist Philosophie?« und »Welcher Methode sollen die Sozialwissenschaften fol­gen?« ergeben keinerlei Sinn. Mit solchen Problemstellun­gen und Formulierungen gilt es zu brechen, um die Fragen anders zu stellen. Zu fragen ist immer: »Was ist Philoso­phie in einer schlechten Welt?«, oder besser noch: »Wie prak­tiziert man Sozialwissenschaften in dieser Welt, in diesem Moment

Soweit, so einleuchtend. Wissenschaft muss an die Wurzeln gehen, darf sich nicht auf Einzelaspekte konzentrieren, sondern muss auf Totalität aus sein. Nicht sich kritisch mit dem Bestehenden auseinandersetzen, sondern immer zum “System” vorstoßen. Auch müsse das Denken die Fachgrenzen hinter sich lassen.

Die Kategorie des »Engagements« oder des »engagier­ten Intellektuellen« begründet ein Verständnis, nach dem Interventionen im Verhältnis zu einer »Neutralität« defi­niert werden, die als die eigentlich normale und selbstver­ständliche Haltung gilt. Wenn aber Schreiben grundsätz­lich bedeutet, sich zu engagieren, dann ist in Wirklichkeit das Engagement die normale Haltung, der Bezugspunkt, und das Streben nach Neutralität definiert sich im Ver­hältnis zu ihr. Das System »Neutralität«/»Engagement« ist folglich durch das System »Engagement«/»Ablehnung von Engagement« oder sogar »Wahrhaftigkeit«/»Leugnung« zu ersetzen.

Lagasneries Forderung klingt verlockend, sie impliziert aber, dass das systemtranszendierende Denken die Wahrheit denkt, sie aus dem Denken entwickelt, dass sich die Wahrheit aus dem Denken ergibt.

Die Sozialwissenschaft, wie ich sie verstehe, stellt ein unmittelbar oppositionelles Wissen dar. Sie definiert sich als Infragestellung von Ideologien, Institutionen und gesellschaftlichen Rahmenstrukturen. Die soziale Welt zu objektivieren hegt das zu objektivieren, was in ihr nicht in Ordnung ist, sowie die Gründe dafür. Wissen hegt, die Missstände in der Gesellschaft aufzudecken, ihre Probleme und ihre Falschheit. Es bedeutet, Institutionen, ihre Schattenseiten und Grausamkeiten anzugreifen. Die Objektivierung des Marktes bedeutet für Marx zu zeigen, wie der vermeintlich freie Tausch zwischen Gleichen in Wirklichkeit ein Ausbeutungsverhältnis konstituiert. Die soziologische Untersuchung des Bildungssystems läuft auf eine Kritik an der Ideologie der Begabung und den Nachweis hinaus, wie die sogenannte Meritokratie eine gigantische Maschine der sozialen Reproduktion und ihrer Legitimierung darstellt.

Lagasneries großes Problem ist, dass er nicht nur als Soziologe denkt, sondern als Philosoph. Philosophen aber zerdenken gerne. Lagasneries These windet sich in Philosophenidiom durch das dünne Buch, bis man ins Zweifeln kommt: an Lagasneries These. Ist die “schlechte Welt” doch nicht bloß eine Setzung. Wenn man immer wieder das gleiche sagt, will man vor allem sich selbt überzeugen. Higgelti Piggelti Pop!

Eric Hobsbawm:
Nationen und Nationalismus.
Mythos und Realität seit 1780

hobsbawmnationenNation – Staat – Volk – Sprache – Kultur – Ethnie – Vaterland – Patriotismus – Nationalismus. Man muss ordentlich aufpassen bei der Unterscheidung und dem Zusammenspiel der Begriffe, die Eric Hobsbawm für seine Monografie des Nationalismus einsetzt. Vor allem die Alltagsgleichsetzung von Staat und Nation (Vereinte Nationen!) führt zu Problemen. Hobsbawm befragt die Entwicklungen auf ihre soziale Komponente, welche Gruppe/Klasse der Gesellschaft sieht einen Nutzen in der Subsumtion der territorial verhafteten Menschen unter dem Rubrum „Nation“.

Für die „einfachen“ Menschen, Bauern, Handwerker etc., sei ei es nie nötig/zwingend gewesen, sich als Angehörige einer „Nation“ zu definieren, erst die „Moderne“ habe sich zur Vereinheitlichung von Bildung und Verwaltung zu einer Standardisierung von Sprache und Loyalität veranlasst gesehen.

Allein dadurch, daß sie zu einem »Volk« wurden, wuchsen die Bürger eines Landes zu einer Art Gemeinschaft zusammen, wenn diese auch nur vorgestellt war, und deren Mitglieder machten sich auf die Suche nach Dingen, die sie miteinander gemein hatten – Stätten, Gebräuche, Persönlichkeiten, Erinnerungen, Zeichen und Symbole – und fanden sie auch. Andererseits konnte das Erbe von Gruppen, Regionen und Lokalitäten der neuentstandenen »Nation« in ein gesamtnationales Erbe eingehen, so daß selbst alte Konflikte deren Versöhnung auf einer höheren, umfassenderen Ebene symbolisierten.

Die Nation sei eine „Erfindung“ von oben gewesen, der „Nationalstaat“ habe erst aus der pseudo-wissenschftlichen Konstituierung einer „Rasse“ entstehen können. Die Bestimmung der „Nation“ sei aber in der Geschichte nie einfach bzw. eindeutig gewesen. Interessant ist die Haltung der Arbeiter/des Proletariats zur Frage der Nation.

Was immer das Wesen des Nationalismus sein mochte, der in dem halben Jahrhundert vor 1914 aufkam, alle seine Spielarten hatten offenbar eines gemeinsam: die Ablehnung der neuen proletarischen sozialistischen Bewegungen, nicht nur, weil sie proletarisch waren, sondern auch, weil sie internationalistisch (oder zumindest nichtnationalistisch) gesinnt und aktiv waren.‘ Nichts scheint deshalb näher zu liegen, als die Einflüsse des Nationalismus und des Sozialismus als sich gegenseitig ausschließend zu betrachten und das Vordringen des einen mit dem Rückzug des anderen gleichzusetzen. Und es ist auch tatsächlich unter Historikern anerkannt, daß in dieser Periode der Nationalismus der Massen über andere Ideologien triumphierte, vor allem über den klassenbewußten Sozialismus, wie sich zum einen beim Ausbruch des Weltkriegs zeigte, der die Hohlheit des sozialistischen Internationalismus entlarvte, und zum anderen am überwältigenden Triumph des »Nationalitätsprinzips« in den Friedensverträgen nach 1918.

Hobsbawm sieht den Höhepunkt zwischen 1918 und 1950. Für den Nationalismus im ausgehenden 20. Jahrhundert hat Hobsbawm nur Ausblicke. Er sieht den Zusammenbruch der UdSSR und der Ostblock-Ordnung nicht primär nationalistisch bestimmt und er sieht auch in der Entkolonialisierung keine neuen Nationalstaaten entstehen. Mit zunehmender Globalisierung (der Wirtschaft) und Verstädterung würden die Chancen für neue Nationalismen eher schwinden. „Man wird (die Weltgeschichte) unweigerlich als die Geschichte einer Welt schreiben müssen, die sich nicht länger in die Grenzen von »Natio­nen« und »Nationalstaaten« zwängen läßt, gleichgültig, ob sie poli­tisch, wirtschaftlich, kulturell oder sprachlich definiert sind. Diese Welt wird weitgehend übernational und »unternational« sein, aber auch eine »Unternationalität«, selbst wenn sie sich mit dem Mantel eines Kleinna­tionalismus umgibt, wird den Niedergang des alten Nationalstaats als eines funktionsfähigen politischen Gebildes zum Ausdruck bringen.”

Schließlich deutet allein schon die Tatsache, daß Historiker zumindest damit beginnen, in der Erforschung und Analyse von Nationen und Nationalismen Fortschritte zu machen, wie in so vie­len ähnlichen Fällen darauf hin, daß das Phänomen seinen Zenith bereits überschritten hat. Die Eule der Minerva, die uns Klugheit bringt, breitet nach Hegel ihre Flügel immer erst in der Dämmerung aus. Es ist ein gutes Zeichen, daß sie ihre Kreise inzwischen über Nationen und Nationalismen zieht.

Dass sich im 20. Jahr des 21. Jahrhunderts allerorten wieder – teils aggressive – Nationalismen im Aufwind sehen, könnte man dann als polternde Rückzugsgefechte deuten.

Darüber hinaus stützen sich nur sehr wenige moderne Nationalbewegungen wirklich auf ein starkes ethnisches Bewußtsein, obwohl sie häufig eines erfinden, wenn sie erst einmal in Gang gekommen sind, und zwar in Form eines Rassismus.

Enis Maci: Eiscafé Europa

macieiscafe

Enis Macis Texte sind keine Essays, wie ich mir sowas vorstelle. Es sind Gedanken, oft kurz, splitterhaft, assoziativ, spontan. Maci nimmt vieles und schnell auf, vergleicht, repliziert, lässt die Ideen, das Denken schweifen, lässt sich inspirieren, auch von Trivialitäten, schreibt alles auf, stellt alles ins Netz. Sie zitiert Ilse Aichinger: „Niemand kann von mir verlangen, daß ich Zusammenhänge herstelle, solange sie vermeidbar sind“. Manches geht verloren, wie ein versehentlich gelöschter iCloud-Account „und mit ihm, unwiderruflich, ungefähr 4000 der insgesamt über 5000 Notizen, die ich in den vergangenen drei Jahren angesammelt hatte“. Enis Maci sammelt weiter, veröffentlicht überall, schreibt Theaterstücke, ist in der Spielzeit 18/19 Hausautorin am Nationaltheater Mannheim. Geboren ist sie 1993 und hat Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und Kultursoziologie an der London School of Economics studiert.

Die Texte lassen sich nicht einordnen, sind ungebunden, anregend, vielleicht auch öfter mal banal. „Macis Essays bestehen aus Konstellationen von Zitaten, Anekdoten, Überlegungen. Sie bilden einen Text, den man unmöglich überfliegen kann, weil seine Bedeutung sich aus dem Material ergibt, ohne ausgesprochen zu werden. Man muss schon selber denken. Der Geisteszustand der konzentrierten Digression, den Enis Maci pflegt, ist der des vernetzten Menschen.“ (Marie Schmidt, SZ)

Klappentext: „Wie könnte Widerstand heute aussehen? Auf der Suche nach einer Antwort zieht Enis Maci eine Linie von Jeanne D’Arc über Sophie Scholl zu den albanischen Schwurjungfrauen. Sie entlarvt die medialen Strategien der Identitären als Travestie, befragt Muttersprache und Herkunft, reist nach Walhalla und blickt dort auf die Büste der in Auschwitz ermordeten Nonne Edith Stein. Sie verweilt in den sozialen Randzonen und verwebt die losen Zipfel erzählens-notwendiger Dinge zu einem dichten Panorama europäischer Gegenwart. Das Außerordentliche überkreuzt sich in ihren Essays mit dem Alltäglichen, das Private mit dem Politischen.“ Zum Privaten, das nur politisch zu fassen ist, gehört auch das Kreisen um die familiäre Herkunft, die Bestimmungen, die sich daraus ergeben, die Möglichkeiten, davon wegzukommen, kosmopolitisch zu werden.

Eine fixe Idee der Neuen Rechten ist – angelehnt an Antonio Gramscis Konzept der kulturellen Hegemonie – der »metapolitische Raum«, den es zu erobern gelte. So heißt es in den letztes Jahr geleakten internen Strategiepapieren der deutschen IB-Sektion, zu den Fehlern der alten Rechten habe gehört, »dass sie Propaganda/Kommunikation mit dem Kern/der Theorie verwechselt[en]«. Außerdem wird eine sogenannte Metapolitik der Straße entworfen; sie wollen, so lese ich weiter, »>die Fragen< bestimmen, welche die Ereignisse und Tatsachen mit einer Erzählung >umrahmen< und den Kampf um die Deutung der Tatsachen gewinnen.«
Was ist unsere Erzählung, fragen sich diese jungen Patrioten, Requiem oder Reconquista? – immer auf der Suche nach der perfekten, der definitiven Corporate Identity für die »Bewegung«, die ja letztlich doch eine straff geführte Organisation ist. Es geht zu wie bei einem Sales-Seminar für Call-Center-Mitarbeiter: Gesprächsmanipulation, Bejahungskette, geduldig sein!
Eine besondere Rolle nimmt die Frage nach der Art der Bilder ein, die man – und zwar dezidiert in den so­zialen Medien – in Umlauf bringen will. Sie sollen »Macht« symbolisieren, »Trotz«, »Spott«, oder: »Zu­neigung – Fotos von sozialen Aktionen oder Ökoakti­vismus schaffen Sympathie. Das tun auch Bilder von kul­turellen Veranstaltungen mit jungen Menschen (Frauen), die eine positive Ausstrahlung haben. Wir wollen eine menschliche und persönliche Seite zeigen, um der Dä­monisierung unserer Bewegung vorzubeugen.«
Europa, die von einem potenten Stier entführt und vergewaltigt wurde, phönizische Königstochter, mid­dle eastern girl, Europa, die man einst erob nannte, den Abend, das Abendland, Europa, deren Vergewaltiger ein schneeweißer Gott war und ganz friedlich aussah, was sich aber als falsch herausstellen sollte; sie wird ent­führt und mit einer Krokusblüte vergiftet, bewusstlos gemacht und geschändet und bleibt. Und der Ort, an dem sie sich niederlässt, der Ort, an dem man sie sich niederlassen heißt, wird mit Europa bezeichnet, ihrem Namen, den sie mit Anmut trägt wie wir die unsren. Ich beweine sie, wie ich um die müden, schmerzenden Lei­ber aller Frauen weine, ich beweine sie, wie ich um die diakritischen Zeichen weine, die auf der Müllhalde der Geschichte gelandet sind, ich beweine sie, aber es ist auch Stolz dabei. Wir kennen ihren Namen noch heute und nutzen ihn; ohne mit der Wimper zu zucken, sagen wir ihn auf.

Navigare necesse est, vivere non est necesse.

Seefahrt tut Not, Leben nicht.
In See zu stechen ist notwendig,
Überleben ist nicht notwendig

MÄNNER ALLER ART, GNAEUS POMPEIUS MAGNUS
ZUM BEISPIEL,
ODER GABRIELE D’ANNUNZIO

Lesenswert, zum Mitdenken, zur Anregung, als Ermutigung zur Digression. (Eine Digression (von lat. digressio – Abschweifen, griech. παρεκβασις Parekbasis) ist ein Teil eines literarischen Textes, der dessen Gegenstand außer Acht lässt und sich mit einer Binnenerzählung, einer Reflexion, einer Beschreibung oder Ähnlichem beschäftigt, das mit dem eigentlichen Thema nicht oder allenfalls indirekt verbunden ist. Wikipedia)

Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit

Erich Fromm emigierte nach 1933frommfreiheit in die USA, wo er 1941 auch „Die Furcht vor der Freiheit“ (Escape from Freedom) verfasste. Er entwickelte Ansätze von Freud weiter, sah aber die Prägung der Psyche des Menschen icht als von der triebhaften menschlichen Natur bestimmt, sondern im wesentlichen von der Gesellschaft. Fromm bezeichnete dies als Sozialcharakter, der sich mit der historischen Entwicklung verändern kann.

Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der wachsenden Individuation, aber sie ist auch die Geschichte der wachsenden Freiheit. Das Streben nach Freiheit ist keine metaphysische Erscheinung und läßt sich nicht mit dem Naturgesetz erklären; es ist vielmehr das unausbleibliche Resultat des Individuationsprozesses und des Wachstums der Kultur.

Fromm erkennt die

Ohnmacht und Unsicherheit des isolierten einzelnen in der modernen Gesellschaft, der sich von allen Bindungen befreit hat, die seinem Leben einst Sinn und Sicherheit gaben. Wir sahen, daß der Mensch diese Isolierung nicht ertragen kann; er ist als isoliertes Wesen der Außenwelt gegenüber völlig hilflos und daher voller Angst vor ihr. Durch diese Isolierung ist die Einheit der Welt für ihn verlorengegangen, und er hat jeden Orientierungspunkt verlo­ren. Deshalb überfallen ihn Zweifel an sich selbst, am Sinn des Lebens, und schließlich gibt es für ihn keinerlei Grundsätze mehr, nach denen er sich in seinem Handeln richten könnte. Hilflosigkeit und Zweifel lähmen sein Leben, und um weiterleben zu können, versucht er der Freiheit – der negativen Freiheit – zu entfliehen. So gerät er in eine neue Knechtschaft hinein. Diese unterscheidet sich von den primären Bindungen, von denen er sich noch nicht völlig gelöst hat, obwohl er sich in die Abhängigkeit von Autoritäten oder seiner gesellschaftli­chen Gruppe begeben hat. Die Flucht gibt ihm auch nicht seine verlo­rene Sicherheit zurück, sondern sie hilft ihm nur, sein Selbst als eine separate Größe zu vergessen. Er erlangt eine neue, aber brüchige Si­cherheit, die er damit bezahlt, daß er ihr die Integrität seines individu­ellen Selbst zum Opfer bringt. Er entscheidet sich für den Verlust seines Selbst, weil er das Alleinsein nicht ertragen kann. So führt die Freiheit – als »Freiheit von« – nur in eine neue Knechtschaft hinein.”

Fromm erläutert die Reaktionen auf diese Befreiung von schützenden Sicherheiten im Zeitalter der Reformation und deren Angebote zur Nutzbarmachung zur individualisierten Anpassung an die wirtschaftlichen Prozesse. Der Schwerpunkt der Untersuchung liegt bei den „Aspekten der Freiheit für den modernen Menschen” und dessen “Fluchtmechanismen” ins Autoritäre, Destruktive bzw. ins Konformistische. Daraus leitet er die „Psychologie des Nazismus“ ab. (1941)

Die Merkmale des autoritären Charakters sind auch heute zu sehen, da sie durch die (kapitalistische) Ordnung der Gesellschaft stetig reproduziert werden. (Auch durch Medien oder Konsum) Aber die

Dynamik der menschlichen Natur veranlaßt den Menschen, nach befriedigenderen Lösungen zu suchen, soweit eine Möglichkeit besteht, sie zu erreichen. Die Einsamkeit und Ohnmacht des einzelnen, sein Streben nach Verwirklichung der in ihm angelegten Möglichkeiten, die objektive Tatsache der gesteigerten Produktionskapazität unserer Industrie sind dynamische Faktoren, welche die Grundlage für ein zunehmendes Streben nach Freiheit und Glück bilden. Die Flucht in eine symbiotische Bindung kann das Leiden eine Zeitlang mildern, aber sie kann es nicht aus der Welt schaffen. Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte der wachsenden Individuation, aber sie ist auch die Geschichte der wachsenden Freiheit. Das Streben nach Freiheit ist keine metaphysische Erscheinung und läßt sich nicht mit dem Naturgesetz erklären; es ist vielmehr das unausbleibliche Resultat des Individuationsprozesses und des Wachstums der Kultur. Die autoritären Systeme können die Grundbedingungen nicht beseitigen, die zum Streben nach Freiheit führen, und sie können auch das Freiheitsverlangen nicht ausrotten, das diesen Bedingungen entspricht.

Fromm hat eine Lösung parat, die jedoch nur idealistisch sein kann. Sie heißt “spontanes Tätigsein” und in dessen Konsequenz “Liebe”. Man müsste sich nur selbst aus dem Sumpf ziehen.

Wenn der Mensch durch spontanes Tätigsein sein Selbst verwirk­licht und auf diese Weise zur Welt in Beziehung tritt, hört er auf, ein isoliertes Atom zu sein, er und die Welt werden Teil eines strukturier­ten Ganzen, er hat seinen ihm zukommenden Platz in der Welt, wo­mit auch seine Zweifel an sich selbst und am Sinn seines Lebens verschwinden. Diese Zweifel entsprangen seiner Absonderung und der Vereitelung seines Lebens. Die Zweifel schwinden, sobald er es fertigbringt, nicht mehr unter Zwang und automatisch, sondern spon­tan zu leben. Er erlebt sich dann als tätiges und schöpferisches Indivi­duum und erkennt, daß das Leben nur den einen Sinn hat: den Voll­zug des Lebens selbst.

Die wichtigste Komponente einer solchen Spontaneität ist die Liebe – aber nicht die Liebe, bei der sich das Selbst in einem anderen Menschen auflöst, und auch nicht die Liebe, die nur nach dem Besitz des anderen strebt, sondern die Liebe als spontane Bejahung der anderen, als Vereinigung eines Individuums mit anderen auf der Basis der Erhaltung des individuellen Selbst.


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