Juli Zeh: Neujahr
Der Skarabäus muss zurück in den Monsterbrunnen. Andernfalls kann Henning sein ES nicht bannen. Der Käfer, hübsch auf den schwarzen Stein gemalt, ziert das Cover von Juli Zehs „Neujahr“. Es passt alles zusammen, obwohl sie drei Geschichten erzählt.
Henning und Theresa sind mit ihren Kindern Jonas (5) und Bibbi (2) auf die Vulkaninsel Lanzarote geflogen, um dort den Jahreswechsel zu verbringen. Juli Zeh sorgt dafür, dass es dampft. Henning fühlt sich nicht uneingeschränkt wohl, er hadert über seine Beziehung und sieht es gar nicht gerne, dass sich Theresa an Silvester im Tanz mit einem Franzosen vergnügt. Ist doch schon ihr Job angesehener und einträglicher als seiner. Henning grübelt auch über seine Rolle gegenüber den Kindern. Es „gelingt es ihm nicht, seinen Platz zwischen Job und Kindern zu finden. Sein Leben gleicht einer Flucht, er kann nichts zu Ende bringen, hat für nichts richtig Zeit.
Er und Theresa arbeiten halbtags. Sie teilen sich Kinder und Beruf. Das ist ihnen wichtig.”
Bibbi und Jonas interessieren sich nicht für die Regeln der modernen Emanzipation. Sie wollen Mama, weil sie Mama ist. (…) Wenn das Verhalten der Eltern das Wesen der Kinder bestimmt, ist Henning schuld daran, dass die Kinder Theresa mit ihren Bedürfnissen auf die Nerven gehen. Deswegen ist Theresa gereizt und manchmal tagelang kurz vorm Explodieren. Weil sie hinter der Mama-Bezogenheit der Kinder Hennings mangelnde Bereitschaft sieht, die Vaterrolle tatsächlich auszufüllen.
Dabei ist er bereit. Er will es. Glaubt er. Es ist nicht seine Schuld, dass die Kinder ihn nicht wollen.” (…) Normalerweise laufen sie zu Theresa, wenn sie etwas wollen. Wenn sie sich wehgetan haben, wenn sie krank sind oder müde oder hungrig. Auch, wenn sie gestreichelt werden wollen oder etwas suchen oder beim Spiel nicht weiterwissen. Theresa sagt dann: »Ihr habt einen Vater, und der hat Hände und Füße, warum fragt ihr nicht den?« Und wirft ihm genervte Blicke zu, als wäre es seine Schuld, dass die Kinder sie bevorzugen.” (…) Plötzlich spürte Henning, wie sehr er die Kinder liebt, so sehr, dass es manchmal die reinste Folter ist.
In Wahrheit ist er schon zu sehr daran gewöhnt, seine Zeit mit den Kindern zu verbringen. Sosehr ihn die Kleinen oft anstrengen und nerven – allein weiß er nichts mehr mit sich anzufangen. Zu viele Dinge hat er schon zu lange nicht mehr getan. Radfahren, Lesen, Musikhören, Freunde treffen. Aber im kommenden Jahr soll das anders werden. Ab jetzt will er drei Mal die Woche Rad fahren, mindestens, egal, was sonst passiert. Theresa wird ihn unterstützen. Sie wird es gut finden, wenn er endlich wieder etwas »macht«. Sie sagt immer, dass alles nur eine Frage der Einteilung sei. Überhaupt ist »machen« für Theresa ein wichtiges Wort.
Ich hab den Verdacht, Juli Zeh hat bei den vielen Studien abgeschrieben, die zu dem Thema erscheinen. Fiktionaliserte Statistik. Ein Studien-Roman als neue Gattung, und nur die Namen scheinen erdacht zu sein, denn Zeh widmet „Neujahr“ David, der weiß worum es hier geht.
David, äh, Henning ist der „schmalen Schneise zwischen Beruf und Familie“ nicht gewachsen. Er lebt „im ständigen Gefühl, es stünde eine Katastrophe bevor”. “ES, das sind Panikattacken, die ihn erst nachts, dann auch tagsüber heimsuchen, ihm noch die letzte Kraft rauben, die ihm die „schmale Schneise zwischen Beruf und Familie“ lässt. Die Panik, die Zweifel, der Hass – all das steigt auf, während Henning sich den Berg hinaufkämpft.“
Zweite Erzählung, kompositorisch mit dem Inselaufenthalt verflochten: Henning setzt am Neujahrstag * – endlich – sein Vorhaben um, mehr für sein Wohlbefinden zu tun. Er hat sich ein Rad augeliehen, das für die geplante Berg*-Tour ebenso ungeeignet ist, wie er selbst. Der Berg aber ruft. Juli Zeh beschreibt die Plagerei so drastisch, dass man sogar beim Lesen außer Atem gerät und ein wenig austrocknet.
Das Treten scheint ein wenig leichter zu gehen. Es ist eine allgemeine Wut. Nicht nur auf Straße, Wind und Berg. Es ist eine Wut auf alles, eine Wut wie ein Energiefeld, wie Hitze oder Licht. Henning brennt innerlich. Scheiß-Job, Scheiß-ES, Scheiß-Welt.“ Und dann bricht es aus ihm heraus: Scheiß-Theresa, Scheiß-Jonas, Scheiß-Bibbi, Scheiß-Kinder, Scheiß-Familie. „Er denkt es nicht mehr, er schreit. Er hat keine Ahnung, was er damit meint. Es gibt niemanden auf der Welt, den er so sehr liebt.“ (…)
Er steigt vom Rad. Er braucht eine weitere Pause, der Muskelstoffwechsel zwingt ihn dazu. Keinen weiteren Tritt kann er seinem Körper abringen. Im linken Oberschenkel hat er einen Krampf. Mit beiden Händen massiert er das Bein, versucht, die Muskulatur zu lockern. Es wäre besser aufzuhören. Das letzte Stück zu schieben. Aber der Pass* liegt nicht mehr weit entfernt, vielleicht noch hundert Höhenmeter, auf eine weitere Serpentine verteilt. Die letzte Kurve ist spitzwinklig. Ihr zweiter Schenkel weist nach oben wie bei einer verbogenen Haarnadel.
Mein Mitgefühl bleibt auf dem Boden. Das Problem: Henning muss sich als Mann beweisen und verkrampft dabei. (Ein Grundübel des Mannseins, neben anderen.) “Er wehrt sich keineswegs gegen den Abbau der alten Rollenklischees und den Verlust seiner Privilegien. Er akzeptiert den Wandel nicht nur, sondern betreibt und lebt ihn geradezu vorbildlich. Doch gerade das macht ihn zu einer tragischen Figur.“ (Karin Janker, SZ) Es klafft aber auch hier der Widerspruch zwischen bewusstem Wollen und den Gender-Fängen. (Karin Janker sieht Henning in Juli Zehs Hamsterrad.) Denkt Juli Zeh also doch biologistisch? Will sie dem sich emazipiert dünkenden Mann keine Chance geben? Kann man den Umgang mit Kindern und Gefühlen nicht einüben? (Selbst-)Überforderung ist kein Grund, toll-wütig zu werden. Auch politisch nicht. „Sich um die Kinder zu kümmern macht Männer unzufrieden, sagt der Soziologe Martin Schröder.“ Dazu hat er für die Universität Marburg im Sommer 2018 eine Studie vorgelegt. (Interview mit Martin Schröder in der ZEIT) Die WELT grift das begeistert auf und sieht die Zeit für ein roll-back.
“Als Henning schließlich völlig erschöpft den Pass erreicht, trifft ihn die Erkenntnis wie ein Schlag: Er war als vierjähriges Kind schon einmal hier in Femés. Damals hat sich etwas Schreckliches zugetragen – etwas so Schreckliches, dass er es bis heute verdrängt hat, weggesperrt irgendwo in den Tiefen seines Wesens. Jetzt aber stürzen die Erinnerungen auf ihn ein, und er begreift: Was seinerzeit geschah, verfolgt ihn bis heute.” (Klappentext) Der dritte Erzählteil entwickelt sich zu einer kindlichen Horrorgeschichte, die nicht gestoppt werden kann. Als der erwachsene Henning den Ort des Kindheitstraumas wieder erreicht, hilft nur, den Skarabäus wieder in den Brunnen* der Monster zu versenken. Wenn es denn hilft.
Juli Zeh psychologisiert die Malaisen des modernen Mannes, eines in allen Belangen zunehmend ungenügenden Wesens. Sie widmet das Buch einem “David, der weiß worum es hier geht“. Der MODERNE MANN
Der Leser soll aber nicht denken, jeder Mann, der ein horribles Kindheitserlebnis zu verarbeiten hat, müsste zu einer Person wie Henning werden. Und nicht jeder, der seine Schwierigkeiten in der modernen Familie erlebt, könne das mit dem frühkindlichen Schrecken begründen. Auch hier gilt die Freiheit der Dichterin, sich ihre Fiktionen zurechtzuzimmern. Romanfiguren sind immer – überwiegend – selbstgeschnitzt. Juli Zehs Werk ist überlegt, aber unkonventionell aufgebaut, die drei Handlungsstränge fügen sich erst im Leser zusammen. Man muss sich bei jedem Teil in Lesegeduld üben. Zehs Sprache ist genau, sie erzeugt mit betont sachlicher Beschreibung Erschütterungen. Dennoch halte ich die Psychologie für reichlich plump. Und Satire ist nicht zu erkennen.
Auf dem ersten Treppenabsatz denkt er, dass sich nun alles ändern wird. Der Knoten ist geplatzt. Licht ist ins Dunkel gefallen, das Monster hat seine Sachen gepackt und ist ausgezogen. Henning wird ES nie wiedersehen. Er ist überglücklich. Er wird frei sein.
2018 190 Seiten
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