Nachrichten vom Höllenhund


Jerger
23. April 2019, 13:07
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Ilona Jerger:
Und Marx stand still in Darwins Garten

bergermarxdarwinIlona Jerger hat entdeckt, dass Marx und Darwin ungefähr zeitgleich gelebt haben. Sie haben wohl voneinander gehört – Marx hat Darwin gelesen, er hat das Kapital mit einer Widmung an Darwin geschickt, dieser hat aber nur ein paar Seiten aufgeschnitten -, sie sind sich aber nie begegnet, obwohl sie zeitweise nur 20 Meilen voneneinander wohnten. Beide gehören zu den wichtigen Influencern des 19. Jahrhunderts, deren Werk das Wissen der Welt umgekrempelt hat und bis heute gültig ist. Menschlich waren sie natürlich sehr verschieden, doch Ilona Jerger findet Gemeinsamkeiten in ihren körperlichen Leiden, das oftmals nicht weit von Hypochondrie entfernt ist. Sie lässt Marx und Darwin vom selben Arzt behandeln, dem fiktiven Brückenbauer Doktor Beckett. Eine fruchtbare Idee.

Der Leser trifft Dr. Beckett zunächst bei Darwins. Charley, wie ihn seine Frau Emma nennt, ist schon über 70 und laboriert an allerlei Gebrechen, wie er Dr. Beckett auf einen Zettel notiert: „Extreme krampfartige tägliche und nächtliche Blähungen. Häufiges Erbrechen, manchmal monatelang an­haltend. Dem Erbrechen gehen Schüttelfrost, hysterisches Weinen, Sterbeempfindungen oder halbe Ohnmachten voraus, ferner reichlicher, sehr blasser Urin. Inzwischen vor jedem Erbrechen und jedem Abgang von Blähungen Oh­rensausen, Schwindel, Sehstörungen und schwarze Punk­te vor den Augen. Frische Luft ermüdet mich, besonders riskant, führt die Kopfsymptome herbei; Unruhe, wenn meine Frau mich verlässt.” Ungeachtet dessen forscht er weiter, z.B. an Regenwürmern.

Und nun, in diesen schlaflosen Stunden, würde Charles seine Würmer mit einer Paraffinlampe anleuchten. Auf das Kerzenlicht in der Nacht davor hatten die Tiere nicht eindeutig reagiert. Einige hatten sich in die Erde zurückgezogen, andere nicht.
Charles nahm seine Wurmlisten aus dem Schreibtisch und legte Stoppuhr und Stift bereit. Er wollte endlich herausfinden, ob und wie diese Wenigborster, die des Nachts umherwanderten – und sei es auch nur im beengten Umkreis der Wedgwood-Schüsseln -, auf Helligkeitsreize reagierten. (..)Er zündete den Docht an und wartete, bis die Flamme aufhörte zu flackern und sich in eine wohlgeformte ovale Gestalt verwandelte. Er mochte diesen Übergang und nahm das friedliche Licht in sich auf. Das Aufgewühlte, das ihn seit Jahrzehnten aus dem Bett trieb, diese bittere Melange aus Schlaflosigkeit, Fehlverdauung und nervösem Kopfweh, begann sich in diesem Augenblick zu mäßigen.
Charles näherte sich dem ersten umherwandernden Wurm, der blitzartig in der Erde verschwand, sobald das Licht ihn erhellte. Der nächste Wurm reagierte nicht. Der übernächste auch nicht. Dann schoss wieder einer zurück. Das Ergebnis war unbefriedigend.

Charles betrachtete in Ruhe die Darmausgüsse seiner Schützlinge und dachte nach. (…) Charles war gerade dabei, ein wenig einzunicken, als im Kamin ein nicht vollständig verbranntes Holzscheit umfiel. Die Würmer lagen noch immer Bauch an Bauch, Charles fand ihr gemeinsames S besonders gelungen. Die gegenläufige Anhaftung geriet, wie ihm in den vielen Jah­ren des Beobachtens nicht verborgen geblieben war, kei­neswegs bei allen Würmern in gleicher Weise zur formalen Vollendung. Auch beim Regenwurm gab es in Hübschheit, Farbe und Beweglichkeit feine Unterschiede.

(“The Formation of Vegetable Mould through the Action of Worms, with Observations on their Habits” erschien 1881.) Er hat sogar einen “Wurmstein” in den Garten legen lassen, um zu messen, wie schnell dieser durch die Aktivität von Lumbricus terrestris im Boden versinkt.

Ilona Jerger “hatte weniger einen Roman über die Theorie der Evolution im Sinn, als dass [sie] einen Blick in Darwins Innenleben werfen wollte.” Das gelingt ihr ausgezeichnet. Sie ist unmittelbar beim Leben der Protagonisten, beschreibt immer anschaulich, “wie es hätte sein können”, lässt die Charaktere in den Dialogen lebendig werden. Liebevoll geht sie auch mit Darwins Hündin Polly um. Charles

tat wie jeden Mittag so, als würde er über sie stolpern, mimte ausgiebig den Ver­blüfften, woraufhin Polly den höchsten Freudenjauchzer hören ließ, der einer Foxterrierstimme möglich war. So­dann sprang die Hündin auf und hüpfte an ihm empor vor Glück.
Die gemeinsam mit Charles in die Jahre gekommene Hundedame schaffte es nur noch mit Mühe, ihren kurzen Bart mit seinem langen in jene flüchtige Berührung zu brin­gen, die beide seit vielen Jahren zur Begrüßung zelebrier­ten. Da dem 72-jährigen Charles mittlerweile das Bücken schwerfiel und Polly das Hochspringen, wurden beide, im Moment des Gelingens, von einem Gefühl des Vergnügens beflügelt, in das sich zunächst unmerklich, und nun von Mal zu Mal mehr, jene Erleichterung mischte, die Begeg­nung der Bärte noch einmal geschafft zu haben.
Wie immer entlockten die freundlichen Augen des Fox­terriers Charles eine reflexartige Liebesbezeugung, indem er, ohne die Lippen zu öffnen, ein warmes, tiefes Brummen produzierte. Seinerseits mit einem leicht zur Seite geneig­ten Kopf. Er griff nach seinem Stock und schritt in die herbstlich strahlende Sonne hinaus.

Es geht nicht ohne Gott. Schon die Kapitelüberschriften künden davon: Strafe für den Ketzer – Arzt ohne Gott – Der Gottesmörder – Tischgebet mit Ungläubigen – In den Klauen der Kirche. Marx wie Darwin hat die wissenschaftliche Grundlage für die Überflüssigkeit Gottes geschaffen, Marx hat ihn für das “Hinwegfegen” des “Jenseitsgeschwätzes” gelobt. Darwin war über diesen side-effect seiner Forschung nicht glücklich, doch gelang es seiner Frau Emma nicht, ihn für die Wiederanerkennung Gottes zu gewinnen. Auch Lenchen, die anhängliche Haushälterin von Marx, meinte, ein „bisschen mehr Frömmigkeit könne nicht schaden“. Ilona Jerger lässt das immer wieder diskutieren und setzt Doktor Beckett als Vermittler ein. Doch Beckett ist ein Mann des Fortschritts, der Wissenschaft. “Er hatte es nicht lassen können, seinen Glauben an das Nichts allerorten zu verkünden. Der junge Beckett predigte den Atheismus an Kranken­betten, weil er, so führte er in die Sache ein, den Patienten die Angst vor Tod und Hölle nehmen wollte.” Beckett ist es auch, der das Treffen zwischen Darwin und Marx vermittelt – im Roman. Von Harmonie ist nichts zu spüren. Marx ist ein verdrießlicher Polterer.

Nach einer ganzen Weile sagte Darwin: »Mir scheint, Sie sind ein Idealist, obwohl ich natürlich weiß, dass Sie größten Wert darauf legen, die Welt auf materialistische Weise zu betrachten. Wer für eine bessere Welt kämpft, der braucht doch zunächst eine Idee von der Sache, nicht wahr?«
Im Schutz der Dunkelheit nuschelte Marx schwer Verständliches – dem Klang nach war es ein leiser Protest -, um gleich wieder zu verstummen.
In der Ferne bellte ein Hund. Ein anderer antwortete, und sogleich begannen sie ein munteres Gespräch. Darwin war froh, dass Polly sich nicht einmischte, wahrscheinlich schlief sie in seinem Arbeitszimmer.
Marx stand grau und regungslos da, als hätte er sich in eine Statue verwandelt. Ihm war kalt. Üblicherweise hätte längst sein Krakeel eingesetzt, denn alles, was mit Idealismus zu tun hatte, musste heruntergeputzt werden. Er konnte Idealisten nicht leiden. Mit harten Bandagen kämpfte er gegen diese Spezies, besonders wenn er sie unter Sozialisten antraf. Wie oft hatte er gepredigt, dass man keinen Flohsprung weiterkomme mit irgendwelchen Idealen. Nicht umsonst hatte er die Sache vom Kopf auf die Füße gestellt und die verdammte Hegelei in die Rumpelkammer der Geschichte geworfen. Sein Credo lautete, dass das Bewusstsein der Menschen nur aus ihrem Sein erklärt werden kann, nicht ihr Sein aus dem Bewusstsein. Erst unlängst hatte er einem jungen Sozialisten eingehämmert, dass bei Hegel und Konsorten der Sohn die Mutter gebäre.

Hierin lag auch der Grund, warum Marx es sich verbot, sich vom kommunistischen Leben ein Bild zu machen. Jeden Neugierigen, der danach fragte, kanzelte er ab. So etwas fragten nur Idioten, die seinen wissenschaftlichen Sozialismus nicht im Ansatz kapiert hätten. Man könne doch keine Freiheit im Vorhinein konzipieren. Erst müssten die Verhältnisse gewandelt werden, alle Ketten abgeworfen, und die Bedingungen für ein gutes Leben hergestellt, dann ergebe sich alles Weitere von selbst.

Doch Marx stand still in Darwins Garten.

Ein kluges Buch, amüsant, geistreich und mit feinem Humor, sporgfältig recherchiert, geschickt Fakten mit Fiktion angereichert. Sehr im Mittelpunkt stehen die Krankheiten der beiden schon alten Antagonisten, aber das verlangt Ilona Jergers Interessen an den Privatpersonen und resultiert auch aus ihrer Erfindung des Doktor Beckett. Lesenswert.

2017        280 Seiten

Lese- und Hörprobe bei vorablesen.de

“Marx stand still in Darwins Garten” hat (bisher) kaum Aufmerksamkeit im Feuilleton gefunden. Eine der wenigen längeren Rezensionen stammt von Martin Schneider im Magazin “Spektrum der Wissenschaft”. Der Perlentaucher kennt Ilona Jerger nicht, viele Amazon-Besprecher halten nicht ihre Vorurteile, sondern das Buch für ein Missverständnis. Natürlich verführt auch der schön rhythmisierte Titel zu falschen Erwartungen.

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