Nachrichten vom Höllenhund


Eugenides
8. Mai 2019, 18:17
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Jeffrey Eugenides:
Das große Experiment

eugenidesexperiment● Kendall hatte nie so leben wollen wie seine Eltern. Das war der Leitgedanke, die hochtrabende Rechtfertigung für die Schneekugelsammlung und die Flohmarktbrillen. Aber als Max und Eleanor größer wurden, dämmerte es ihm, dass ihre Kindheit dem Vergleich mit seiner eigenen nicht standhielt. Und sein Gewissen begann sich zu regen. (…)
Wie war das innerhalb einer Generation möglich gewe­sen? Das Schlafzimmer seiner Eltern hatte so nie ausgesehen. Die Wäsche seines Vaters lag stets gefaltet in einer Kommode, Hemden und Anzüge hingen frisch gebügelt im Schrank. Das Bett, in das er abends stieg, war immer akkurat gemacht. Wenn Kendall heutzutage so leben wollte, wie sein Vater ge­lebt hatte, müsste er eine Waschfrau, eine Putzfrau, eine Privatsekretärin und eine Köchin einstellen. Er müsste eine Ehefrau einstellen. Wäre das nicht phantastisch? Stephanie könnte auch eine gebrauchen. Jeder konnte eine Ehefrau ge­brauchen, aber niemand hatte eine.
Um aber eine Ehefrau einzustellen, musste Kendall mehr Geld verdienen. Die Alternative war, so zu leben, wie er es tat: als verheirateter Junggeselle im bürgerlichen Elend.

Das Ende des amerikanischen Traums. Was man aber nicht wahrhaben will und eine Scheinfirma gründet. Kebdall hat ein Buch über Toqueville geschrieben (“Die Taschendemokratie”), findet dafür aber nicht genügend Käufer und tut sich mit seinem “Verleger” Piasecki zusammen und erwirbt viel Geld mit gefaketen Rechnungen für nicht gedruckte Bücher. (Das große Experiment, 2008)

● Die Eltern des Erzählers lassen sich von Misserfolgen nicht entmutigen. Sie ziehen von Ort zu Ort, um einen Platz zum Leben und Geldverdienen zu finden.

Dann kamen die Rückschläge. Eines seiner Projekte in North Carolina, ein Skihotel, ging pleite. Wie sich heraus­stellte, hatte sein Partner hunderttausend Dollar unterschla­gen. Mein Vater musste ihn vor Gericht bringen, was noch mehr kostete. Unterdessen verklagte ihn eine Sparkasse, weil er mit Hypothekenzahlungen in Verzug geraten war. Weitere Anwaltskosten türmten sich. Die Millionen versickerten rasch, und noch während sie verschwanden, versuchte er sich an allen möglichen Unternehmungen, um sie zurückzubekommen.

Schließlich kaufen sie mit Krediten eine Art heruntergekommenes Motel, nennen es “Timesharing-Residenz”, und päppeln es auf. Es wird nie fertig werden, aber die Hoffung darf nicht sterben. USA. (Timesharing, 1997)

Die Sonne geht unter. Wir veranstalten unseren Grillabend, sitzen auf Klappstühlen auf dem Dach.
«Das wird noch schön hier oben», sagt meine Mutter. «Als wäre man mitten im Himmel.»
«Mir gefällt», sagt mein Vater, «dass man hier keinen sieht. Privater Meerblick, auf dem eigenen Haus. Ein so großes Haus am Wasser würde dich unverschämt viel Geld kosten.»
«Sobald wir das abbezahlt haben», fährt er fort, «ist das unser Penthouse. Das bleibt dann in der Familie, von einer Generation zur nächsten. Immer wenn du in deinem eigenen Florida-Penthouse wohnen willst, kannst du kommen.»
«Toll», sage ich und meine es auch so. Zum ersten Mal übt das Motel eine starke Anziehung auf mich aus. Die unerwar­teten Freiheitsgefühle auf dem Dach, der salzbedingte Verfall der Küstenbebauung, die angenehme Absurdität Amerikas, alles kommt zusammen, sodass ich mir vorstellen kann, wie ich in kommenden Jahren Freunde und Frauen mit auf dieses Dach nehme.

Die Frauen sind raffinierter, wenn sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen wollen.

● Tomasina – ich wiederhole, wie eine tickende Uhr – war vier­zig. Sie hatte so ziemlich alles im Leben, was sie wollte. Sie hatte einen tollen Job als stellvertretende Produzentin der C B S Evening News mit Dan Rather. Sie hatte ein sagenhaftes, großzü­giges Apartment an der Hudson Street. Sie verfügte über gutes, größtenteils intaktes Aussehen. Ihre Brüste waren vom Lauf der Zeit zwar nicht unberührt geblieben, hielten jedoch tapfer die Stellung. Außerdem hatte sie neue Zähne. Einen ganzen Satz nagelneuer, blitzender, hübsch beieinanderstehender Zähne. Zuerst, bevor sie sich an sie gewöhnt hatte, hatten sie gepfiffen, aber inzwischen waren sie ausgezeichnet. Und Bi­zeps hatte sie. Auf ihrem privaten Rentenkonto hatten sich stattliche einhundertfünfundsiebzigtausend Dollar ange­sammelt. Doch ein Baby hatte sie nicht. Keinen Ehemann zu haben konnte sie ertragen. Keinen Ehemann zu haben war in mancher Hinsicht sogar besser. Aber ein Baby wollte sie.

Sie veranstaltet eine “Fruchtbarkeitsparty”.

Es waren eine Menge Leute da, vielleicht fünfundsiebzig. Es sah aus wie eine Hallo­ween-Party. Frauen, die sich das ganze Jahr über insgeheim gern sexy anziehen würden, hatten sich sexy angezogen. Sie trugen tief ausgeschnittene Playboy-Oberteile oder seitlich geschlitzte Hexengewänder. Nicht wenige streichelten pro­vokativ die Kerzen oder fummelten an dem heißen Wachs herum. Sie waren nicht jung. Niemand war jung. Die Männer sahen aus, wie Männer in den letzten zwanzig Jahren immer ausgesehen haben: verlegen, aber liebenswürdig ergeben. Sie sahen aus wie ich.

Im Badezimmer steht ein Becher bereit, in den die ausgewählten Herren ihre Spende abgeben sollten.

Das Rezept kam per Post:
Samen von drei Männern mischen. Kräftig verrühren. In die Bratenspritze füllen. Sich zurücklegen. Tülle einführen. Zusammendrücken.

Es funktioniert. (Die Bratenspritze, 1995)

● Die indischstämmige Schülerin Prakrti soll bei einem Besuch in der Heimat ihrer Eltern nach Landesbrauch mit einem Jungen verheiratet werden. Um dem zu entgehen, plant sie, sich in den USA entjungfern zu lassen, dann käme sie für die arrangierte Ehe nicht mehr in Frage. Sie sucht sich für die “Tat” den – viel älteren – Physikprofessor Matthew aus. Das hat auch für diesen Folgen. (Nach der Tat, 2017)

● Della und Cathy sind alt geworden. Sie lesen ein Buch wieder, das sie durchs Leben begleitet hat (Klagende, 2017):

Das Buch beruht auf einer alten athabaskischen Legende, die die Autorin, Velma Wallis, als Kind gehört hat. Die Le­gende, die «Mütter an ihre Töchter weitergeben», erzählt die Geschichte der beiden alten Frauen Ch’idzigyaak und Sa‘, die in einer Hungersnot von ihrem Stamm zurückgelassen werden.
Und das bedeutet: zum Sterben zurückgelassen werden. Wie es der Brauch war.
Nur sterben die beiden alten Frauen nicht. Im Wald kom­men sie miteinander ins Gespräch. Wussten sie nicht früher, wie man jagt und Fische fängt und im Wald auf Nahrungs­suche geht? Könnten sie das nicht wieder tun? Sie tun genau das. Sie lernen wieder neu, was sie als jüngere Frauen schon konnten, sie jagen und gehen eisfischen, und einmal verste­cken sie sich vor Kannibalen, die ihr Revier durchqueren. Sol­che Sachen halt.

Als sie wieder aus dem Fenster sieht, ist Cathys Auto weg, und sie nimmt das Buch in die Hand, das Cathy ihr mitge­bracht hat. Der bläuliche Gebirgszug auf dem Umschlag ver­wirrt sie noch immer. Aber der Titel ist unverändert: Zwei alte Frauen: Eine Legende von Verrat undTapferkeit.  Sie schlägt das Buch auf und blättert darin, hin und wieder hält sie inne, um eine Zeichnung zu bewundern.

Della verbringt viel Zeit allein im Haus. Die Menschen, die ihr helfen, fahren nachmittags nach Hause, oder sie habenden Tag frei, und Bennett kann nicht kommen. Es ist wieder Win­ter. Zwei Jahre sind vergangen. Sie ist fast neunzig. Sie scheint nicht dümmer zu werden, oder nur ein bisschen. Jedenfalls nicht so dumm, dass man es bemerken würde.

Eines Tages schneit es wieder. Della bleibt am Fenster ste­hen, da verspürt sie den Drang hinauszugehen, geradewegs in das Schneetreiben hinein. So weit ihre alten Füße sie tragen. Sie bräuchte dazu nicht einmal ihre Gehhilfe. Sie bräuchte überhaupt nichts. Della sieht, wie der Schnee vor dem Fenster wirbelt, und ihr ist, als würde sie in ihr eigenes Gehirn blicken. Genau so sind ihre Gedanken jetzt, sie kreisen und wirbeln, sie bewegen sich hierhin und dorthin, in ihrem Kopf herrscht ein einziges riesiges Schneegestöber. Es wäre gar nichts Neues für sie, in den Schnee hineinzugehen, in ihm zu verschwin­den. Es wäre, als würden das innere und das Äußere aufeinan­dertreffen. Eins werden. Alles weiß. Einfach nur hinausgehen. Immer weiter. Vielleicht würde ihr dort draußen jemand be­gegnen, vielleicht auch nicht. Eine Freundin.

“Man muss sie nehmen, wie sie sind”, heißt es am Schluss von “Das Orakel der Vulva” (1999). Viele der Geschichten enden versöhnlich, mit Geduld und Verständnis für die anderen, die Eltern, die Partner, für andere Sitten und Bräuche, auch für die Zumutungen des Lebens und des Landes. Eugenides versteckt in seinem nüchternen Erzählen die Anteilnahme, die Empathie mit seinen Figuren. Am reizvollsten sind die Geschichten mit zunächst exotisch scheinenden Sujets und Personen, die Themen des amerikanischen Storybooks sind doch schon vielfach beschrieben – auch von Eugenides selbst – und bekannt. Wie es so ist bei Kurzgeschichten, vergisst man beim Lesen der nächsten das Geschehen der vorhergehenden. Die Texte stammen von 1988 bis 2017.

330 Seiten

Leseprobe beim Rowohlt-Verlag

2-

 


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