Nachrichten vom Höllenhund


Geiger
25. Mai 2019, 17:23
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Arno Geiger: Unter der Drachenwand

geigerdrachenwandObwohl nur 1176 m hoch, ist die sagenhafte, „schroff über dem Ort aufragende Drachenwandzackig-dräuende Kulisse und Symbol für die Gräuel des Krieges, der seine Spuren auch durch die scheinbare Abgeschiedenheit des Salzkammerguts zieht. Den jungen Veit Kolbe hat es nach seiner Verwundung 1944 an der Ostfront an den Mondsee verschlagen, wo er zur Wiederherstellung seiner Kriegstauglichkeit ein Jahr verbringt und seinen „Alltag“ akribisch beschreibt.

Im Zimmer ging ich jetzt den ganzen Tag ohne Schuhe, das konnte ich mir erlauben, weil ich ohnehin keinen Besuch bekam, was mir recht war. In der Früh mit dem Hellwerden sah ich nicht mehr meine Atemwolken über dem Bett, das war mir ebenfalls recht. Der Raum präsentierte sich weiter­hin nicht als Entsprechung des Zimmers, das jeder Mensch in sich trägt. Aber es ließ sich aushalten. Und trotz aller Schwie­rigkeiten tat es mir gut, diesen Ort zu haben, den ich mit nie­mandem teilen musste außer mit den Mäusen. Jeden Morgen war irgendwo ein Brot angefressen. / Ich machte mir täglich Röstbrote, die Scheiben legte ich auf die Herdplatte, auf beiden Seiten geröstet, besser gesagt, angebrannt, mit But­ter und Marmelade bestrichen, schmeckte es sehr gut. Wenn die Brote noch warm waren, konnte ich eine Unmenge ver­tilgen.

Viel hat er nicht zu tun, kann er nicht tun und deshalb hat er Zeit zu beobachten und sich Gedanken zu machen. Die Inhalte sind von der Zeit gelenkt, die Personen sind mit Über- und Weiterleben beschäftigt. Es fehlt an vielem: Wohnraum, Nahrung, Beschäftigung, alles Wirtschaften ist dem Krieg untergeordnet. Alle wissen, dass er verloren ist, keiner traut sich, das auszusprechen. Das Dorfleben in Mondsee ist labil. Der Dorfpolizist, Veits Onkel, ist müde, passt sich ein, so gut es geht. Die Zigaretten werden knapp. Veit Kolbe sieht sich um sein Leben gebracht, er sollte in seinem Alter studieren. Wenn es zu schlimm wird, schluckt er Pervitin, wie die Soldaten an der Front. Immer häufiger brummen die Bombenflieger über die Gegend. Allerlei Menschen aus vielen Gegenden versammeln sich im Ort. Mädchen aus Wien sind mit ihrer vorsichtigen Lehrerin zur Landverschickung nach “Schwarzindien” gekommen. Die 12-14-Jährigen sollen durch Rituale vom Überlegen abgehalten werden. Ein Liebe ist im Krieg nicht vorgesehen. Mädchen hält siesen Verlust der Gefühle nicht aus und klettert auf die Drachenwand.

Die Mäd­chen trugen Uniform und waren herausgeputzt und standen in kompakten Blöcken. Zuletzt kamen die Mädchen aus Plomberg. In Formation, mit Trommel und Fahne, führten sie die Fortschritte bei der Kinderdressur vor, bewegten sich in albtraumhaften Geometrie-Sequenzen, in wie irreal anmu­tender Leni Riefenstahl-Choreografie. Und das schlimmste war, an diesem Begräbnistag schien den Mädchen der Drill und das automatenhafte Gehabe besonders angenehm zu sein, als beschütze der Gleichschritt sie vor dem Tod. (…) Gut gefiel mir, dass der Pfarrer sagte: »Unser Lebenskar­ren ist im Schlamm festgefahren. Rückwärts hängt sich der Teufel an. Wenn Gott vorne nicht zieht, weil wir ihn nicht vor­spannen, wie können wir da herausgelangen?« / Das waren zwar lauter Katholica, ich glaubte aber immerhin einen de­zenten Unterton herauszuhören. (…) Und ich dachte an die Schönheit des Lebens und an die Sinnlosigkeit des Krieges. Denn was war der Krieg anderes als ein leerer Raum, in den schönes Leben hineinverschwand?

Ein “Brasilianer” betreut das Gewächshaus und kann sich nicht mit der klimatischen und politischen Kälte abfinden. Später ziehen Flüchtlinge aus Donauschwaben mit ihren Fuhrwerken und Langhornrindern ein. Aus der “Darmstädterin” wird irgendwann Margot, ihr Ehemann droht nach dem Krieg zurückzukommen, sie sucht eine bessere Familie für sich und ihr Kind. Veit und Margot nehmen sich einander an.

Eingelagert in die Erzählung sind Briefe von Angehörigen. Oft sind es Lebensbeschreibungen, verzweifelte Selbstversicherungen, flehende Bitten um Antwort. “Alles bröckelte, rollte brockenweise in verschiedene Richtungen, das galt auch für die Sprache. Wörter wie Versprechen und Treue waren hohl geworden und zerbrachen, wenn ich sie in den Mund nahm.” Die Leben sind auseinandergerissen, perspektivlos, die Familien zerstreut, man weiß nie, wer noch am Leben ist.

So renne ich die ganze Zeit herum, und wenn ich schreiben will, kommt etwas dazwischen, und die vielen Luftangriffe machen das Übrige. Ich bin in letzter Zeit schon ganz nervös geworden und sehe mit Angst jedem Abend entgegen. Letzten Samstag am Abend heulten die Sirenen, es war ein fürchterliches Ge­töse in der Luft, es ging auf Frankfurt, wo es große Schäden hat, auch Darmstadt bekam einige Sprengbomben ab, darun­ter eine schwere, fünfunddreißig Zentner, die ein fünfzehn Meter tiefes Loch in eine Wiese riss, auch Phosphorkanister und Brandbomben. Es brannte an verschiedenen Stellen, dar­unter eine Fabrik und daneben stehende Arbeiterbaracken. Von den Bränden war es draußen taghell, das Schreien der Ausländerinnen hörten wir bis zu uns.

Du kannst dir denken, dass wir wieder recht bange Stun­den mitgemacht haben. Durch den Luftdruck haben auch bei uns die Wände Sprünge bekommen, in der Küche hat es aus­gesehen, als wenn die Maler hier gewesen wären, so ist die Farbe von der Decke gekommen. Aber den Flugblättern nach, die sie abgeworfen haben, haben wir das Schlimmste noch vor uns, was andere schon hinter sich haben. Ja, liebe Margot, wenn du das schöne Frankfurt sehen würdest, ich war nach den letzten Angriffen dort, und ich will es kein zweites Mal sehen. (…) Und trotzdem geht das Leben zwischen Schutt und Trümmern seinen Gang. Die ganze Wirtschaft hat man schon im Keller, die Schränke stehen leer.

Arno Geiger setzt keine Statements gegen den Krieg. “Unter der Drachenwand ist dennoch ein Antikriegsroman.Alle Menschen sind verbogen, entwurzelt, fremd.

Am Nachmittag machte ich Wege, hierhin und dorthin, in einer Stadt, in der jeder in Eile war, sogar die auf Krücken angewiesenen Kriegsversehrten. Die halbe Welt schien kriegsversehrt. Von der Wehrmachtsstelle in der Hirschengasse ging ich zu Onkel Rudolf in der Siebenbrunnenfeldgasse. Auf dem Rückweg versuchte ich, mir einen Taschenkalender für 1945 zu besorgen, aber in den Geschäften war alles wie ausgekehrt. Mir wurde immer banger, je mehr Zeit ich unter Menschen verbrachte. (…) Zwei Tage später war der Schnee von den Schuhen und Fahrzeugen zu einer hellbraunen, bröseligen Masse zertreten, zerfahren. (…) Obwohl die Krücken nicht mehr zwingend nötig gewesen wären, hatte ich sie immer bei mir, damit ich nicht ständig den Arm in die Höhe reißen musste. / Sogar die Schaufensterpuppen hatten jetzt Soldatenhaltung und waren schlank geworden, offenbar kurbelte dieser Typus das Geschäft an. Soweit Ware noch vorhanden.

Veit Kolbe ist ein glaubwürdiger Augenzeuge. In der Nachbemerkung holt ihn Arno Geiger in die Realität. „Veit Kolbe kehrte Mitte Dezember 1944 zu seiner Einheit zu­rück, von der er sich im April 1945 in der Gegend von Schwe­rin absetzte. Das Kriegsende erlebte er in Mondsee. Er und Margot heirateten 1946 nach Margots Scheidung. Die beiden hatten neben Lilo zwei gemeinsame Kinder, Robert und Klär­chen. 1953 beendete Veit Kolbe ein Studium der Elektrotech­nik, unmittelbar darauf verbrachte er für Siemens zwei Jahre in Afghanistan beim Kraftwerksbau in Sarobi. (…) Veit Kolbe starb am 3. Juni 2004, Margot Kolbe ist zum Zeitpunkt, da ich dies schreibe, fünfundneunzig Jahre alt.” Aber auch das kann Fiktion sein.

Was man dem Roman vorwerfen kann: Er ist zu breit angelegt. Der heutige übersatte Leser muss sich in Geduld üben, das “Leben” “Unter der Drachenwand” in sich wirken zu lassen, hat dafür einen gut gearbeiteten, stilsicher geschriebenen Roman über ein Thema gelesen, das nicht oft aufgegriffen wird. Ich hatte was anderes erwartet. „Erst das Nebeneinander von Hoffnung und Horror, von erfolgreicher und erfolgloser Zuflucht, schafft die ebenso bedrückende wie beglückende Stimmung dieses Romans.“ (Andreas Platthaus, FAZ, der auch auf Parallelen zu Robert Seethaler und Arno Schmidt hinweist.) „Der eigentliche Kunstgriff aber besteht im intimen Ton des in der Vergangenheitsform erzählten Romans. Man kennt diesen Ton, an dessen Nachdenklichkeit noch die Nähe des Erlebens hängt, sonst nur aus Tagebüchern und Briefen.“ (Meike Fessmann, SZ)

2018         480 Seiten

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