Marko Dinić : Die guten Tage
Wir ordnens. Es zerfällt.
Wir ordnens wieder
und zerfallen selbst.
Dieses Zitat aus Rilkes Duineser Elegien liest „Švabo“ auf einer Ansichtskarte, die im Sitznetz eines Buses steckt, mit dem er von Wien nach Belgrad fährt. „Švabo“ ist der Neckname für einen, der ins deutschsprachige Ausland entkommen wollte, um dort das Glück zu suchen, das er zuhause nicht finden konnte. Aber wo ist schon zuhause?
Für uns alle war Serbien zu so etwas wie einer Sackgasse geworden, einem Niemandsland, in dem keiner von uns bleiben wollte, und trotzdem waren wir unweigerlich und für immer mit ihm verbunden. Es gab kein Entrinnen, nur die Flucht in die Gleichgültigkeit. Und diese Gleichgültigkeit sprach letzten Endes das aus, wogegen mein Gewissen sich stemmte: Ich konnte mir mein Mitleid in den Arsch stecken, denn es war scheißegal geworden. Das Land, die Eltern, ihr Präsident, ganze Familien, irgendwelche Elektriker und Hobbyautoren, die Menschen hier drinnen, die Menschen da draußen. Sie alle waren von der Dunkelheit geschluckt worden. Sie existierten nicht!
Jetzt ist seine Großmutter gestorben, die Nana, die einzige Person, zu der er Zuneigung empfand. Er muss der Toten noch einen Ring zurückgeben. Im Bus ist es stickig, die Mitreisenden sind versoffen laut und zotig derb. Serben, ein „Abziehbild des ehemaligen Jugoslawien“.
Im Erzähler hat sich eine manische Wut angestaut, eine Wut auf sich selbst, dass er es nicht schafft, seinem „Erbe“ davonzulaufen. „Es ist doch scheißegal, wo auf dieser Welt wir gerade sind, Serbien können wir eh nicht entkommen. (…) Die Schuld war das einzige Erbe meines Vaters, das ich nicht so leicht loswerden konnte. Ich brauchte Zeit zum Nachdenken, deshalb entschied ich mich damals für die Diaspora. Wenn ich schon nicht vor dieser Schuld flüchten konnte, so wollte ich für sie eine angemessene Form in einem angemessenen Leben finden, und das hatte im von Nationalismus und Korruption zerfressenen Serbien keinen Platz.” Die Wut ist grenzenlos, sie richtet sich auf die Serben, die Politiker, auf Belgrad, auf seine Kindheit, auf den Krieg, auf die Kriegsverbrecherhelden. auf seinen Vater. Auf den zuvörderst und stellvertretend. „Mein Vater, die Mistsau, (…) mein Vater, der Drecksack, (…) mein Vater, dieser Bastard”, der “in irgendwelchen Archiven dem institutionalisierten Ganoventum diente”.
Irgendwann dazwischen musste die Veränderung eingetreten sein: der Krieg, die Kindheit, das Bombardement, der Wald, die Schule, die Flucht, das fremde Land, der Tod meiner Großmutter, der Bus, die Rückkehr, der Ring – mein Vater war immer ausgelaugt und angeschlagen, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, als hätte die Stadt ihn und sein Wesen langsam aufgesogen. In Wien sahen die Leute nie so fertig aus. Ich wusste jedoch, dass es nicht Belgrad gewesen war, das ihn so roh gemacht hatte – es waren die Verhältnisse gewesen, die Umstände. Genau wie ich war auch er verwahrlost, seine Generation wie ein in die Ecke gedrängtes, zum Kehlenschnitt freigegebenes Lamm, zu Stimmvieh modelliert für das schöne neue gerechte Land. Geiseln waren wir in den eigenen vier Wänden, mehr nicht.
Und beide hatten wir dieselben Augen, Großmutters Augen, ich und mein ganz persönliches Monster, von Generation zu Generation weitergegeben, diese verhängnisvollen Augen, die mich immer und überall an ihn erinnerten – ein widerwärtig marodierender Zustand der Welt. Vielleicht aber war es auch anders, und ich war das Monster, dem ich heimlich huldigte. Und überhaupt: Was gingen mich seine guten Tage an?
Ach wenn es mehr Waren gibt: Alles ist zutieftst verkommen. Alles ist ständig überhitzt. „Die Sonne hing nun schwer über der Stadt. Nur wenige Passagiere saßen im Bus, ihre triefenden Körper an die Sitze geklebt. Draußen war kein Mensch zu sehen. Ab und an erhaschte ich undeutliche Schemen, wie sie vor der alles unter sich zermalmenden Hitze zu flüchten versuchten, oder ihrem Arbeitsplatz ausgelieferte Trafikanten, von denen nur schweißgebadete Arme und Oberkörper hinter den Schlitzen hervorlugten. (…) Unaufhörlicher Lärm, Knistern und Rauschen, das Brummen der Busmotoren, aufheulende Hupen, unentwirrbares Gewirr – die Stadt war allgegenwärtig, die Stadt fraß die Herzen, die Stadt trank das Blut.” Dinić schildert das mit einer Drastik, die sich auf seine Wahrnehmung überträgt. „Eine Wehmut erfasste mich, von der ich wusste, dass ich sie nur schwer wieder loswerden würde. (…) Ein Bus fuhr vor. Das Zischen, das seine Türen beim Öffnen verursachten, ging wie ein Schnitt durch mich hindurch.”
Mein Magen verkrampfte sich, und erst jetzt fiel mir ein, dass ich seit gestern nichts mehr gegessen hatte. Aber schon von der Vorstellung, jetzt etwas zu mir zu nehmen, wurde mir noch übler.
Müde und vollkommen taub erreichte ich eine zurechtgetrimmte, verdorrte Wiese, die sich hinter dem Schiffsrumpf befand. Wie ein schwerer Sack Kartoffeln fiel ich auf den strohgelben Grund. Links vor mir erstreckte sich ein unansehnlicher Wohnkomplex. Die stark mitgenommene, marode Fassade bröckelte überall – lebendig waren einzig die wenigen Gestalten, die mit nacktem Oberkörper oder im Unterhemd an den Fenstern vorbeihuschten.
Ich kniff die Augen zusammen und blickte mürbe umher: Auf einer Metallstange wölbten sich Bettüberzüge und buntgeblümte Sommerkleider im Abendwind, in einiger Entfernung spielten Kinder auf improvisierte Tore Fußball, daneben zwei Greise, die, über einen Tisch gebeugt, lebhaft diskutierten und wohl Karten spielten.
Erzählt wird abwechselnd von der Busfahrt, von den Erinnerungen an die Schulzeit („Lehrern kann man nicht trauen. Sie sind unterbezahlt, zynisch und vom Krieg verstört.“ Am vertrauenswürdigsten ist noch der Geschichtslehrer Marko: „Der ist ein Arschloch und steht dazu.“), von den Streifzügen durch Belgrad. Hinter allem steht der Krieg, den man nicht zu fassen kriegt, der an einem klebt, der Auslöser und Zeichen der Verrohung ist. Die Hoffnung ist mit ihm gestorben. Lediglich die Großmutter stammt aus der Vorkriegszeit und ist Mensch geblieben. Hier entzerrt sich auch der Blick des Erzählers.
Jetzt sitzt sie in der abflauenden Sonne eines heißen Tages, ein breiter Schatten fällt auf ihr Gesicht – nur an der leichten Bewegung ihres Brustkorbs erkenne ich, dass etwas Unfassliches in ihr steckt, eine Kraft, die sich aus einem anderen Leben zu nähren scheint. Trete ich einen Schritt zurück und betrachte das ganze Bild, so hat die Szene etwas von einem Gemälde, einem Stillleben, in dem Großmutter wie eine erloschene Kerze in der Mitte steht.
“Die guten Tage” ist ein Roman. Fiktion. Man glaubt dem Erzähler, man stimmt ihm zu, man möchte sein Schicksal nicht teilen. Man wird aber auch der Endlosschleife des Zorns, des verbalen Auskotzens, des rastlosen Überdrusses müde und möchte dem Erzähler zurufen: Stopp! Du tappst in die Falle, Du wirst genauso wie die, die Du angiftest. Marko Dinić hat sich“von einem Gefühl bzw. einer Dringlichkeit leiten lassen“. Er hält den Nationalismus für den Auslöser von “Opportunismus, Untätigkeit und Kadavergehorsam“. “Man kann „Die guten Tage“ als Parabel auf Nationalismus und Chauvinismus im Allgemeinen lesen. Vor allem aber gräbt Dinić im kollektiven serbischen Urschlamm. Man versteht nach der Lektüre besser, wie es zu den Balkankriegen der neunziger Jahre kommen konnte.“ (Christoph Schröder, tagesspiegel): „Ein Heimatroman, ein dunkler.“
2019 240 Seiten
Leseprobe und weitere Materialien beim Hanser Verlag
Marko Dinić liest aus „Die guten Tage“ bei zehnseiten.de (12 Minuten)
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