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Julian Barnes: Die einzige Geschichte
Die Geschichte geht so: Ein 19-Jähriger trifft im Tennisclub eine Endvierzigerin und – wie es der Autor so will: Sie verfallen einander. Sie kriegen noch ein paar Eigenschaften mit. Er unerfahren und unbedarft, sie ungeliebt und verheiratet. Da muss zusammenkommen, was zusammen kommt. 2. Akt: Susan verfällt – weshalb eigentlich? – dem Alkohol, fällt vom Geist und verschwindet in Delirium und Demenz.
Ein anderes Bild, das auf einem erinnerten Geschehen beruht, kommt dir in den Sinn. Ihr seid beide wieder im Village und im Taumel der Liebe ruhig, aber ganz und gar miteinander beschäftigt. Sie trägt ein geblümtes Kleid und geht, wohl wissend, dass du sie beobachtest – weil du sie ständig beobachtest -, zu dem Chintzsofa, lässt sich darauf fallen und sagt:
»Guck mal, Marko Paul! Ich verschwinde! Ich kann zaubern und lasse mich verschwinden!«
Und als du hinguckst, siehst du für einen kurzen Moment nur ihr Gesicht und den bestrumpften Teil ihrer Beine.
Jetzt lässt sie sich wieder verschwinden. Ihr Körper ist noch da, aber das Innere – der Verstand, das Gedächtnis, das Herz – verflüchtigt sich allmählich. Ihr Gedächtnis ist von Dunkelheit und Unwahrheit vernebelt und bringt nur im Fabulieren eine gewisse Kohärenz zustande. Ihr Verstand oszilliert zwischen betäubter Unbeweglichkeit und hysterischer Flatterhaftigkeit. Aber das Verschwinden des Herzens, ach je, das ist am schwersten zu ertragen.
Paul weiß nicht, wie ihm geschieht, er kann nicht bleiben und kann nicht weg. Der 3. Akt spielt viele Jahre später. Susan lebt in ihrer beschränkten Gegenwart, er bleibt irritiert zurück, ist „weise“ geworden und versteht immer noch nichts.
Die Geschichte ist trivial, wie Liebesgeschichten so sind. Und dennoch ist die Liebesgeschichte, wie jede Liebesgeschichte, „die einzige Geschichte“.
Manchmal sieht man ein Paar, das sich miteinander zu Tode zu langweilen scheint, und man kann sich nicht vorstellen, dass sie irgendwas gemeinsam haben oder warum sie immer noch zusammenleben. Aber das ist nicht nur Gewohnheit oder Bequemlichkeit oder Konvention oder dergleichen. Es liegt daran, dass sie einmal ihre Liebesgeschichte hatten. Jeder Mensch hat eine. Es ist die einzige Geschichte.«
Ich gebe keine Antwort. Ich fühle mich zurechtgewiesen. Nicht von Susan. Sondern vom Leben.
Wie du eure Liebe für einzigartig hältst, so hältst du auch eure Probleme – ihre Probleme – für einzigartig. Du bist noch jung und weißt nicht, dass alles menschliche Verhalten Mustern folgt und sich in Kategorien einteilen lässt und dass ihr Fall – euer Fall – keineswegs einzigartig ist. Du willst, dass sie immer die Ausnahme ist, nie die Regel.
Auf dem Cover ist der maschinell gesetzte Titel durchgestrichen und durch “handgeschriebene” Wörter ersetzt. Die Geschichte ist für die in ihr Verstrickten das Leben, für den Leser aber ist sie eher uninteressant. Dass das so ist, liegt auch – und vor allem – am Autor, denn der erzählt die Geschichte nicht, sondern breitet sie aus. Er legt sie sich zur Betrachtung und Analyse vor und lässt den Leser daran teilhaben bzw. zwingt ihn dazu.
Er hatte auch eine Pflicht sich selbst gegenüber. Zurückzuschauen und … sich selbst zu retten? Wovor? Vor »dem anschließenden Schiffbruch seines Lebens«? Nein, das war lächerlich melodramatisch. Sein Leben hatte keinen Schiffbruch erlitten. Sein Herz, ja, sein Herz war verödet. Aber er hatte einen Weg ins Leben gefunden, und dieser Weg hatte ihn dahin geführt, wo er jetzt war. Und es war seine Pflicht, sich von dort so zu sehen, wie er einmal gewesen war. Seltsam, dass man als junger Mensch nicht der Zukunft verpflichtet ist; aber als alter Mensch ist man der Vergangenheit verpflichtet. Dem Einzigen, was man nicht ändern kann.
In jedem der drei Kapitel nähert sich der alte Paul seinen Reminiszenz-Pflichten auf andere Weise. In Kapitel 1 erinnert er sich an sein für seine Verhältnisse zu stürmisches ICH, „zu unwissend, zu absolutistisch, zu überzeugt von seiner Vorstellung vom Wesen und Wirken der Liebe“, in Kapitel 2 stellt er sich seinen mittleren Jahren, den Jahren der Katastrophe, als DU gegenüber: „Du weißt nicht, was du sagen sollst. Du sagst nichts. Du tust so, als würdest du noch über dieses Dokument nachdenken. Du weißt, dass du sehr sanft und sehr geduldig mit ihr sein musst. Du erklärst noch einmal, dass sie konkrete Einzelheiten wissen müssen, das Wo und das Wann und, am allerwichtigsten, das Was. Sie schaut dich an und nickt.Im Laufe der nächsten Wochen und Monate beginnst du langsam zu begreifen, dass daraus nichts wird, niemals.” In Kapitel 3 findet ER zu größerer Distanz, der zur 3. Person, zur (scheinbaren) Abgeklärtheit des Alters. “Es war, als betrachte – und lebe – er sein Leben in der dritten Person. Was ihm erlaubte, es richtiger zu beurteilen, glaubte er.” Die Erinnerungen verblassen, die Zweifel nagen weiter, er sucht sie in den Ambivalenzen des Sowohlalsauch bzw. Wedernoch aufzulösen. “Wer zum Beispiel sagt, er sei einmal glücklich gewesen, und glaubt, was er sagt, der war tatsächlich glücklich gewesen. Konnte das stimmen? Nein, das war sicher ein Trugschluss. Andererseits ließen sich Gefühlszustände nicht wie in einem Geschichtsbuch erfassen; emotionale Wahrheiten änderten sich fortwährend und waren selbst dann wahr, wenn sie nicht miteinander vereinbar waren.”
“Dennoch, eine optimistische Erinnerung könnte es leichter machen, sich vom Leben zu trennen, könnte den Schmerz über das eigene Verlöschen mildern.
Aber man könnte ebenso gut das Gegenteil behaupten.”
“Sie sagt also: »Wir waren glücklich, bis … «, während er sagt: »Wir waren niemals wirklich glücklich.« Und als er diese Diskrepanz zum ersten Mal bemerkte, hatte er herauszufinden versucht, wer von beiden wohl eher die Wahrheit sagte; doch jetzt, am anderen Ende des Lebens, konnte er akzeptieren, dass beide die Wahrheit sagten. »In der Liebe ist alles wahr und falsch zugleich; sie ist das einzige Thema, über das man unmöglich etwas Absurdes sagen kann.«”
Die “Geschichte” wird von Meta-Ebenen überlagert und gerahmt: den Selbstzweifeln des Erzählers an seinem Erinnern und an seinen Versuchen de Einordnens und Deutens und: dem darüberstehenden Autors, der der Anordnung verpflichtet ist und den Erzähler vorführt und diesem die reflektierenden “Weisheiten” in den Kopf legt. Die Geschichte verkommt darunter zum Objekt, zum als individuell gesetzten Exempel. “Das alles war für mich nicht relevant, außer in soziologischer Hinsicht”, heißt es einmal. Aber auch: „Die Zeit, der Ort, das soziale Milieu? Ich weiß nicht, ob das in Geschichten über die Liebe wichtig ist.“ Dabei wird im Leser vieles angestoßen, was er auch selbst gedacht hätte oder hätte denken können. Vielleicht tut er das dann ja auch. Wobei Barnes`zunehmend altersmilde sinnierendes Erzählen letztlich ebenso trivial ist, wie es der Leser aufnehmen will oder für eigene Einsichten hält. Aber stimmt das denn? Hat jede(r) nur eine einzige Geschichte? Ist dieser Ausgangsgedanke des Romans nicht unterschobene Fiktion, Phantasie, Beschränktheit? “Zu lernen ist nichts, weil jeder nur ein Leben hat.“ (Paul Ingendaay, FAZ)
Die Themen von Barnes’ Romanen bleiben sich ähnlich: „das Misstrauen gegenüber endgültigen Festlegungen oder Urteilen, die obsessive Beschäftigung mit der Vergangenheit und die Fragwürdigkeit aller Erinnerung“ (Oliver Pfohlmann, Tagesspiegel). Als Roman ist “Die einzige Geschichte” überladen, vielleicht ein bilanzierender Abschluss eines gealterten, in seiner Nabelschau befangenen, narzisstischen Mannes.
Die ausführliche Inhaltsangabe findet sich wie immer bei Dieter Wunderlich.
2018 300 Seiten
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