Ulrich Woelk:
Der Sommer meiner Mutter
Sommer ´69. Die Musik stammt nicht von Bryan Adams (Sein Summer of ´69 erschien erst 1984), sondern von den Doors. Light My Fire. Tobi ist gerade 12 geworden, er ist ein “stilles, nachdenkliches Kind”. Die Doors kennt er nicht, er lernt auch nicht Englisch, sondern Latein. Oben auf seinem Sessel liegt Heinz Habers Buch „Der offene Himmel“. „Ich blickte aus dem Fenster. Irgendwo da draußen war der Mond. Ich wünschte, mein Zimmer wäre in der Düse einer Saturnrakete. Ich stellte mir vor, durch den Weltraum zu schweben.”
Rosa wird bald 13, sie „hörte die gleiche Musik wie ihre Eltern“. Tobi findet, sie habe einen „rätselhaften Charakter“, sie liest „Geschichte der O“. Tobi „fand Liebe als Thema für eine Geschichte nicht besonders reizvoll. Liebe war etwas, für das sich Erwachsene aus irgendeinem Grund interessierten. (…) Ich wollte ihr gegenüber nicht so gerne zugeben, dass mein Wissen darüber noch recht vage war.” Aber “Mädchen sind anders”.
Im zweiten Kapitel ziehen neue Nachbarn ins Haus neben Tobias’ Familie, den Ahrens. Er ist verunsichert,
als nebenan, im ehemaligen Garten von Herrn Fahlheim, eine Frau erschien. (…) Sie war etwas größer als meine Mutter und schien auch etwas jünger zu sein.
Ich konnte ihr Alter aber nicht genau einschätzen. Ich unterschied in meiner Wahrnehmung nur zwischen Kindern und Erwachsenen, und in diesem System war sie eine Erwachsene. Das Einzige, was nicht in dieses Schema passte, war ihre Kleidung. Sie trug eine Jeans und darüber eine luftige, bunte Bluse, um die sie einen breiten Ledergürtel geschlungen hatte. Sie war offenbar eine Erwachsene wie die Verkäuferin in dem Jeans-Store, aber eigentlich gab es solche Erwachsenen in unserer Nachbarschaft nicht. (…) Ich hatte den Eindruck, dass sie anders waren als meine Eltern – anders auf eine Weise, die ich noch nicht erfassen konnte.
Rosa klärt ihn auf:
«Meine Eltern sind Kommunisten.»
Nach allem, was ich über Kommunisten wusste, waren sie bedrohlich, gewaltbereit und eiskalt. Mein Vater hielt es für möglich, dass sie uns irgendwann angreifen und besiegen würden, und dann müssten wir aus unserem Haus ausziehen. Das wollte ich nicht, weil es mir in unserem Haus und unserem Garten gefiel. Die Vorstellung, dass Frau Leinhard eine Kommunistin war, fiel mir schwer.
«Wirklich?», sagte ich.
Sie zuckte mit den Schultern. «Du kannst sie ja fragen. Sie wollen die Welt verbessern. Deswegen haben wir zwei Jahre in Griechenland gelebt. Und ich heiße Rosa wegen Rosa Luxemburg.»
«Wer ist Rosa Luxemburg?»
Die beiden Elternpaare freunden sich an, die beiden Kinder auch. Ulrich Woelk hat den “Sommer meiner Mutter” mit den Lebensdingen von 1969 ausstaffiert. Bei Tobis Eltern wird gegrillt, Rosas Eltern laden zu Moussaka ein, man tanzt den Sirtaki. Politik kommt nur indirekt vor, auch wenn Rosa Tobi auffordert: “Du musst anfangen, politisch zu denken.” Die beiden Mütter fahren nach Köln zu einer Demo gegen den Vietnam-Krieg. Tobis Mutter traut sich erst spät, eine Jeans für sich zu kaufen. Sie ist 38. Ihr Mann hat ihr einen 2CV geschenkt, sie übersetzt jetzt Krimis wie Frau Leinhard. Erste Gedanken an ein anderes, ein eigenes Leben. Tobi wird mitgerissen und durchgeschüttelt.
«Die Erwachsenenwelt ist sooo langweilig», klagte ich. «Ich verstehe», sagte sie. «Deswegen kommst du lieber zu mir. Ich bin nicht ganz so langweilig.»
«N-nein», stotterte ich erschrocken. «So habe ich das nicht gemeint.»
«Aber gesagt hast du’s. Komm rein.» (…)
Das neue Album von den Doors, das sie angekündigt hatte, hieß Waiting for the sun.
Am 18Mai, einem Sonntag, startete abends um Viertel vor sechs Apollo 10. (…) Ende Juni, an Peter und Paul, wie meine Eltern den Tag als Katholiken nannten, gab es in unserer Nähe eine Kirmes. Wir gingen jedes Jahr dorthin, und meine Mutter schlug vor, die Leinhards sollten mitkommen. Ich freute mich darauf, mit Rosa dort zu sein. Da sie den Rummel nicht kannte, konnte ich ihr alles zeigen. (…) Meine Mutter entdeckte ein Apollo-Raumschiff als Flugzeug. Man konnte sich hinter die Spitze in den geöffneten Rumpf setzen. «Sieh mal!», sagte sie zu mir.
Ich war in einer schwierigen Situation. Wie gerne wäre ich in das Raumschiff gestiegen und hätte in ihm ein paar Runden gedreht. Doch Rosa sagte: «Sollen wir zu zweit fliegen?»
Sie wollte, dass ich hinter ihr saß. (…) Das Karussell setzte sich in Bewegung, und wir stiegen in die Höhe. Oben angekommen, ließ Rosa den Steuerknüppel los und nahm meine rechte Hand, die wegen der Enge im Cockpit in ihrem Schoß lag. Die Lichter der Kirmes waren in der Dämmerung besonders intensiv. Es war noch warm. Rosa sagte nichts. Sie zog meine Hand unter ihren Rock und schob sie in ihre Unterhose und noch weiter hinab. Ich sagte auch nichts.
Die Stelle, auf der meine Fingerkuppen schließlich lagen, war warm und weich. Ohne zu wissen, warum eigentlich, bewegte ich meine Finger hin und her. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich da tat. Aber Rosa protestierte nicht. Vielleicht machte ich das Richtige. (…)
«Seid ihr zum Mond geflogen?», flachste mein Vater.
«Ja, sind wir», sagte Rosa mit sonderbarer Bestimmtheit.
Es ist ganz schön ungeniert, wie Ulrich Woelk da die Körper und die Raumfahrt engführt. In jedem Satz die plumpesten Anspielungen. Andererseits ist das Spiel deshalb nicht ohne Reiz, weil Woelk ja von seinem Kinder-Ich erzählen lässt. Der junge Tobi weiß nichts, aber in ihm ahnt etwas: Des Mädchens Bestimmtheit kommt ihm “sonderbar” vor. Kindliche Reibereien, fleckenlos. Wäre es nicht doch besser, bei Apollo zu bleiben?
Rosa wies auf den Mond. «Wenn du dich entscheiden müsstest, zum Mond zu fliegen oder mich zu streicheln. Was würdest du tun?»
«Darf ich dich denn wieder streicheln?»
«Wie soll das gehen, wenn du zum Mond fliegst?» «Dann bleibe ich hier.»
«Bist du sicher?»
Ich zögerte.
«Ich käme ja zurück», sagte ich.
«Das ist keine sehr romantische Antwort», sagte sie. «Aber ich dürfte, ja?»
«Das weiß ich noch nicht», sagte sie. «Dann hat es dir nicht gefallen?» Sie schüttelte den Kopf. «Ich habe nicht Nein gesagt.»
«Aber du hast auch nicht Ja gesagt.» Sie zuckte mit den Schultern. «Mädchen sind so.»
„Der Sommer meiner Mutter“ ist ein raffiniertes Jugendbuch. Eher für Jungs als für Mädels. Der Stil ahmt die unbedarfte Wortlosigkeit des 12-Jährigen nach, was Woelk durchaus liegt. Dennoch lässt sich der Zwiespalt zwischen dem erwachsenen Rückblick und der gesetzten Kindersprache mit all ihrer betonten Unwissenheit nicht auflösen. Der Roman setzt natürlich auf den 50. Jahrestag der Apollo-Mission am 20. Juli. Der Kontrast zwischen den beiden Familien und den Lebensentwürfen von Rosa (♀ )und Tobi (♂ )wirkt sehr gewollt, auch hier geben Zeit und Milieu der Personen den Handlungsrahmen vor. Unbefriedigend scheint mir die Motivation des Selbstmords der Mutter von Tobi. Der erste Satz des ersten Kapitels “Am Stadtrand” heißt: “Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.”
2019 190 Seiten
Materialien beim Verlag C.H.Beck
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