Dörte Hansen: Mittagsstunde
Man wird selbst zum Brinkebüller, wenn man sich durch Dörte Hansens „Mittagsstunde“ liest. Sie macht einen mit den „Dörpsminschen“ vertraut, ohne Arg, mit viel Einfühlung. Ironische Distanz kann man in den Roman hineinlesen, hervorstechen tut sie nicht. Man könnte sich auch Dörte Hansen als Brinkebüllerin vorstellen, den passenden Namen hat sie: Alle Namen enden dort auf –sen. Feddersen. Aber der Protagonist ist das Dorf und nur in ihm die Menschen.
Es war stockdunkel, wenn er freitags Richtung Brinkebüll fuhr. November auf der Geest, der Himmel stapelte die Steine auf das Land, mit Dr. Young im Auto war es auszuhalten. Scheibenwischer auf die höchste Stufe, Schultern runter.
Alles schien verpackt zu sein. Die großen Ballen auf den Feldern. Die Silagehügel, die wie Plastikhügelgräber aussahen. Schnell wieder abzubauen, mitzunehmen, wegzupacken.
Die Zeit der Bauern ging zu Ende. Man blies das Feuer aus, man brach die Zelte ab und ließ die letzten Sesshaften zurück. Bambi Bahnsen und die drei, vier anderen, die nach dem großen Dreschen übrig waren. Homo ruralis. Fast ausgestorben.
Zeitalter fingen an und endeten, so einfach war das. Für einen, der vom Fach war, hatte er erstaunlich lang gebraucht, das zu kapieren.
Das Dorf, das Land kam ohne ihn zurecht. Zerschrammtes Altmoränenland, es brauchte keinen Ingwer Feddersen, es brauchte niemanden.
Der Wind war immer noch der alte. Er schliff die Steine ab und knickte Bäume, beugte Rücken. Auch diesem alten Wind war es egal, was Menschen taten, ob sie blieben oder weiterwanderten.
Es ging hier gar nicht um das bisschen Mensch.
Der ganze Roman ist Klischee, durch und durch. Aber das heißt ja nur, dass er wahr ist.. Das Klischee ist ja das Substrat der Realität. Dörte Hansen teilt das auf in die Passagen, in denen sie zum “man” abstrahiert, so war es, so ist es, nicht nur in Brinkebüll, aber dort besonders, exemplarisch, und die Geschichten über die Personifikation des Klischees. Das ist das typische Dorfbestiarium, kleine Ausschläge bestätigen das Stereotype.
Man erfährt nichts, was man nicht schon erfahren, also gelesen oder gesehen hat. (Vorausgestzt, man hat das Alter, von dem aus man zurück- und überblicken kann.) Die Dämmerung des Dorfes und seines Inventars zur Moderne, zum Strukturwandel, zu Anpassung und Nostalgie, Geest und Plattmachung. Kultur statt Natur. Bücherbus und Abitur. Zuerst verschwinden mit der Flurbereinigung die Hecken, in denen sich Marret so gerne den Blicken entzog, dann wird die Kastanienallee planiert, der Dorfladen schließt, die Tiere werden nicht mehr gebraucht und der Dorfkrug soll in einen „Farm House Saloon“ umgewandelt werden mit Disco-Kugel und Line-Dance. Die Menschen sterben oder passen sich an oder ziehen in die Stadt. „Das Dorf beschleunigte.“ Alleswird besser – aber nichts gut. Auch das weiß man. „De Welt geiht ünner!“
Im Personal von Brinkebüll fokussiert sich Dörte Hansen auf die Feddersens. Sönke und Ella betreiben den Dorfkrug, sie sind „die Krögers“, sie werden alt und dann sehr alt. Sie verliert die Kontrolle über den Geist, er wird körperlich hinfällig, sie bleiben zusammen, obwohl ihnen das nicht vorgegeben war, stehen sie vor der Gnadenhochzeit. Tochter Marret ist ein Kuckuckskind, denn Ella hatte einen anderen, den Krischan, Sönke erträgt die Spötteleien. Marret kriegt dann selber ein Kind, der Vater ist unbekannt, Sönke und Ella ziehen Ingwer auf und er nennt sie Vadder und Mudder undpflegt sie bis zuletzt. Ingwer ist weggegangen, auf die Universität, ist Professor für Archäologie geworden. Er lebt in einer brüchigen 3er-WG, er ist auch schon 48. Zerrieben zwischen den Zeiten.
Es gibt noch mehr Personen, die Dörte Hansen um die Feddersens gruppiert. Sie springt in den Zeiten, setzt Spots auf einzelne Gruppen. Leise Ironie schwingt mit, wie soll es bei Figuren, die alle Sonderlinge sind, anders sein, doch wird die Beschreibung nie herablassend. Die Darstellung ist ausgefeilt in Sätzen und Worten und Stil.
Alles falsch! Von vorne bis hinten verkehrt! Was maßten die sich an, die da auf ihren dröhnenden Maschinen saßen? Die Flur bereinigen, als wäre sie verdreckt, als wäre sie ein Fehler oder eine Schuld! Die alten Felder, Bäche, Trampelpfade korrigieren und begradigen, Teerstraßen durch die alten Sander walzen, Findlinge beiseiteschieben, die seit der Saale-Eiszeit hier gelegen hatten. Schwedischer Granit! Man musste Gletscher sein, um das zu dürfen! Es stand ihnen nicht zu. Die Grobiane hobelten mit rohen Kräften über Altmoränenland und wussten gar nicht, was sie taten, keinerlei Verstand! Mit seinem Rucksack voll Versteinerungen stand er zwischen Tiefladern und schweren Walzen, Dorfschullehrer Steensen, Heimatforscher, Mitglied der Gesellschaft für Geschiebekunde, und schleuderte den baggernden Barbaren seinen wütenden Protest entgegen.
Das Spektakel sprach sich schnell herum im Dorf, nu komm bloß mol un kiek!
Auf jeder Seite zwei Mal stehen Sätze auf Platt, das Lehrer Steensen seinen Kindern austreiben wollte, das aber Merkmal der erinnerten „guten“ alten Zeiten ist. (Man versteht es auch als Bayer und staunt, wie nah oft der Übergang zum Englischen ist.) „Mittagsstunde“ ist ein nostalgischer Roman, voller Realität, voller Liebe zum Detail, zu den Menschen und ihren Schrullen. „Mittagsstunde“ fehlt jede Derbheit, jeder Zynismus, jede (An-)Klage. Ein leiser Roman. Zum Mitsummen hat Dörte Hansen den Kapiteln Titel von Songs gegeben. Von alten, von neuen und solchen vom Übergang. Ich schau den weißen Wolken nach, Old Man Look at my Life, Achy Breaky Heart, Neil Young, immer wieder Neil Young. Heart of Gold.
2018 320 Seiten
„Mittagsstunde“ bei ARD-Druckfrisch
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