Nachrichten vom Höllenhund


Sachbuch 2019/2
1. August 2019, 15:28
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Ulrike Herrmann:
Deutschland. Ein Wirtschaftsmärchen – Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind

herrmannwirtschaftsmaerchenDie Wirtschaft, das ist die Geschichte Deutschlands von 1945 bis heute, wobei Ulrike Herrmann vorzüglich die Wirtschaftspolitik beleuchtet. Beginnen kann diese Geschichte nicht bei einer „Stunde Null“, denn der Krieg hat mit seinen Nazi-Mächtigen und seinen mächtigen Schäden auch weit in die Besatzungszonen und die Anfangszeiten von BRD und DDR hineingewirkt. Ulrike Herrmann verkündet nicht unbedingt Neues, sie deutet aber manches neu aus.

Was Ulrike Herrmann antreibt, ist die Entlarvung der Narrative, die sich als „Mythen“ in das Geschichtsdenken der Deutschen eingegraben haben. Die „Märchen“, welche die Mächtigen über die iegenen Meriten erzählt und welche die Deutschen oft und gerne und bis heute geglaubt haben. Besonders dann, wenn sie sich als Deutsche in die Wirtschaftswundergeschichten einbezogen fühlten: Wir sind wieder wer!

Es ist nicht nur ein Märchen, das Ulrike Herrmann ins Land der Wirklichkeit zurückholt:

  • Das „Wirtschaftswunder“ ist keine deutsche Spezialität, es basiert nicht auf dem deutschen Geist oder der deutschen Ingenieurskunst oder versammelter Hau-Ruck-Anstrengung.
  • Ludwig Erhard hat mit dem „Wunder“ der Wirtschaft nix tzu tun, er war nicht merh als ein „talentierter Selbstdarsteller“ ohne Wissensfundament. Er hatte sich den Nazis als „Gutachter“ angedient, sein Slogan war“ Wohlstand für alle“, doch „der Titel Wohlstand für alle klingt, als hätte Erhard eine Art sozia­len Ausgleich gefordert. Dies wäre ein krasses Missverständnis. Er­hards Botschaft lautete vielmehr: Der Wohlstand stellt sich von selbst ein. Der Staat müsse nur den Wettbewerb schützen; keines­falls dürfe er umverteilen. Denn der Markt sei bereits sozial, weil er auf dem Prinzip der Konkurrenz beruhe. (…) Als Autor war Erhard voller kursivierter Inbrunst, doch als Wirt­schaftsminister ist er daran gescheitert, den so geliebten und gelob­ten Wettbewerb zu schützen.” Ulrike Herrmann ist die Wut auf den “Nazi-Profiteur, Lügner und Opportunist“ und auf die bundesdeutsche Geschichtslüge anzumerken.
  • Die “soziale Marktwirtschaft” war nicht sozial. Die Großkonzerne behielten ihre “ungebrochene Macht”, (Ex-)Nazis “rückten in die meisten Sphären der Gesellschaft ein”. “Die Bundesrepublik war anfangs eine »Demokratie ohne Demo­kraten« – und trotzdem erstaunlich stabil. Dieser innere Friede war nicht zuletzt dem enormen Wirtschaftswachstum zu verdanken, das ganz Westeuropa erfasst hatte. Doch ab 1958 zeigten sich erste Risse: Die Krisen kehrten zurück.”
  • Die Bundesbank gerierte sich als “Staat im Staat”. ““Durch ihre Zinsentscheidungen hat die Bundesbank nicht nur mehrmals die Wirtschaftskrisen in Deutschland verschärft und Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit geschickt, sondern auch Nachbarländern geschadet – seien es Frankreich, England oder Italien„. „Der britische Finanzjournalist David Marsh urteilte provokant: »Die Bundesbank hat die Wehrmacht als Deutschlands bekannteste und gefürchtetste Institution ersetzt«. Denn sie kontrolliere »einen größeren Teil Europas als je ein deutsches Reich in der Geschichte«.’”
  • Wirtschaftspolitische Irrtümer, Fehler und Versagen sieht Ulrike Herrmann auch bei vielen weiteren Themen: “Die Reichen werden beglückt – vor allem von Rot-Grün »Die größte Steuerreform der Bundesrepublik« Agenda 2010: Die SPD-Wähler werden betrogen »Riester-Rente«: Die Angst vor der Altersarmut kehrt zurück“ – “Die Finanzkrise ab 2007: Die Pleite einer Bank war keine gute Idee Der ewige Traum: Spekulieren ohne Risiko“ – “Ein Kontinent zerstört sich selbst: Die Eurokrise: Es funktioniert nicht: Ein Euro, aber 19 Staatsanleihen – »Exportstar« Deutschland: Weltrekorde im Außenhandel

Ulrike Herrmann kritisiert an vielen Beispielen vehement, dass der Staat die Wirtschaft gewähren ließ – und lässt – bzw. dort, wo er in den “Markt” eingreift, dies einseitig zugunsten der kapitalistischen Wirtschaft tat und tut.

Politik soll nur simuliert werden und darf den Status quo nicht erschüttern. Das Märchen von der »sozialen Marktwirt­schaft« war da sehr nützlich: Der Begriff täuschte eine »Wirtschafts­reform« vor, die nie stattgefunden hat. Geschickt wurde verbrämt, dass man ökonomisch dort weitermachte, wo man im Krieg aufge­hört hatte.

Der blinde Glaube an den »Markt« hätte den Markt fast ruiniert. Trotzdem, und das ist die eigentliche Nachricht, ist es noch nicht einmal den Spekulanten gelungen, das Wachstum völlig zu zerstö­ren. Der Kapitalismus erweist sich als enorm widerstandsfähig.

Im Umkehrschluss bedeutet dies: Punktuelle Eingriffe in den »Markt« werden niemals ausreichen, um das Wachstum zu zähmen. Genau diese minimal-invasiven Strategien sind aber äußerst popu­lär.

Herrmann hält eine Umkehr für nötig und machbar. ”Politik lohnt sich”, heißt ihr letzter Satz. Ist ihr Appell naiv? Ulrike Herrmann ist ist Seit 2000 Redakteurin bei der Berliner taz, Sie ist Mitglied der Partei Bündnis 90/Die Grünen.

der Freitag: Buch der Woche

Video von ARD ttt (6:30)

„Ludwig Erhard war ein naiver Ökonom“ – Westend fragt nach mit Ulrike Herrmann

Tuba Sarica: Ihr Scheinheiligen! Doppelmoral und falsche Toleranz –
die Parallelwelt der Deutschtürken und die Deutschen

tubasaricaDieses Buch ist mir eine Herzensangelegenheit. Deutsch­land liegt mir am Herzen. Ich liebe mein Land.” “Ich schreibe dieses Buch nicht zuletzt für die zwölf- bis Anfang zwanzigjährigen türkischen, muslimischen Jungs und Mädels in Deutschland und Europa, die sich aus der angeblich modernen parallelgesellschaftlichen Wertewelt befreien und den Weg gehen wollen, den ich gegangen bin: ihren eigenen.

Tuba Sarica treibt ihre Wut in ihr Buch. Das ist wichtig, weil sie damit gegen eine doppelt einseitige Ignoranz anschreibt: die Ignoranz der deutsch-Deutschen, die sich um die Parallelgesellschaft nicht kümmern und nur kurz medial aufschreien, wenn die Deutschtürken eine Moschee bauen wollen oder sich mit Mehrheit für Erdoğan entscheiden. Das ist aber auch problematisch, weil sie ihren Blick auf die Defizite der deutschtürkischen Gesellschaft konzentriert und ihr dabei Defizite der deutschen Politik und Gesellschaft aus den Augen geraten. Auch die historische Dimension sollte stärker beachtet werden: In Deutschland waren die Traditionen vor 70 Jahren noch ähnlich einschränkend wie jetzt in der “Schutzblase” der “Parallegesellschaft”.

Die Deutschtürken in Deutschland sind rückständig- rückständiger als die Türken in der Türkei. (…) Ihre schlechten Eigenschaften: Kritikunfähigkeit, Un­wissenheit, den fundamentalistischen Glauben, die Unfähig­keit, zwischen Religion und Staat zu trennen, das fehlende demokratische Bewusstsein, Willkür, Selbstjustiz, das ge­störte Verhältnis zur Sexualität, die Kurzsichtigkeit bei der Kindererziehung, Gewaltbereitschaft, Rassismus und Hass gegen Andersgläubige, gegen die Deutschen, Europa und al­les Westliche.

Tuba Sarica findet in ihrer deutschtürkischen Familie – und zur Familie gehört die ganze Verwandtschaft – vielfache Beispiele für “rückstandiges” Verhalten. Generell verbreitet ist die unbedingte Erwartung, sich an die Traditionen zu halten. Sarica sucht weniger nach Gründen für als nach den Folgen, die diese “schlechten Eigenschaften” für die Mitglieder der Parallelwelt haben, vor allem für Frauen, Kinder – und am heftigsten fürMädchen, wie Tuba. Ihr Schreiben ist subjektiv, trifft daher aber umso genauer und härter.

Viele muslimische Frauen erfahren diese Freiheit nie. Ihre Bestimmung liegt darin, den Eltern ein angenehmes Leben zu bereiten, indem sie sich an ihre Wertvorstellungen halten.

Türkische Eltern machen ihr Glück von ihren Kindern abhängig, um nicht zu sagen, sie missbrauchen das Leben ihrer Kinder für ihr eigenes Wohlbefinden. Dabei muss ich schließlich erst einmal selber glücklich sein, um ande­re glücklich machen zu können. Wenn ich meiner Mutter sage, dass ich ein eigenes Leben habe, reagiert sie belei­digt. Lange dachte sie sich und mich als eine Person. Als ich noch zur Schule ging, öffnete sie sogar Briefe, die an mich adressiert waren. Als ich ihr zum ersten Mal sagte, dass das nicht in Ordnung sei, hat sie mich ausgelacht. Da hatten in der Schule alle schon ein eigenes Bankkonto, und mir war es peinlich, dass ich so spät dran war. Auch das konnte meine Mutter nur schwer verkraften. »Du und ich, wir sind zwei getrennte Personen« – solche Aussagen mei­nerseits kommentierte sie von oben herab und warf mir da­mit unterschwellig vor, kalt und egoistisch zu sein.

Die muslimische Kultur ist eine Kultur ohne Worte. Das Schweigen, das die muslimische Gemeinde pflegt, ist ein Schutz vor der Welt. Indem man nicht über unangenehme Dinge spricht, weicht man unangenehmen Fragen und Antworten aus. Um der Frage nach dem Sinn des Lebens aus dem Weg zu gehen, wird ein riesiges Schauspiel veranstal­tet. (…) Die regressiv muslimische Erziehung lehrt die Fähig­keit zur Lösungsfindung nicht. Stattdessen verschiebt sie die Bewältigung vieler Konflikte ins Jenseits: Wer glaubt, ihm sei Unrecht widerfahren, tröstet sich mit dem typisch parallelgesellschaftlichen Spruch: »Wir werden in der anderen Welt miteinander abrechnen« (»Öbür dünyada hesaplasacagiz«).

Gegen diese Bevormundung, diese Käfighaltung setzt Tuba Sarica ihre eigene Emanzipation, ihre Selbstverwirklichung, ihre Freiheit. Begriffe, die sie in der muslimischen-türkischen Gesellschaft in Deutschland nicht findet. Diese Eigenständigkeit beschwört sie immer wieder, wobei die Beispiele zum Teil recht jungmädchenhaft klingen. Allein ausgehen, bei Freundinnen übernachten, um die Häuser ziehen und in Bars und zum Tanzen gehen, von zu Hause ausziehen, allein oder in einer WG wohnen, in die Schule gehen und studieren.

In der Schule stößt sie auch auf Texte, die sie in ihrem Willen bestärken. Es ist niemand anderer als der deutsche Aufklärer Kant, den sie ausführlich zitiert. “Die ersten Worte für etwas, für das ich bislang keine Worte hatte, las ich in der Schule, versunken in ein Reclam­Heft:”

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unver­mögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, son­dern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.

Als ich diese Zeilen im Klassenzimmer las, wurde das Dif­fuse für mich zum ersten Mal greifbar. Ich dachte: Das muss der Grund dafür sein, weshalb Männer in einigen Ländern zu verhindern versuchen, dass Mädchen in die Schule ge­hen. Sie wollen den Kontakt mit diesen Werten und Wor­ten allgemein unterbinden. Ich dagegen möchte, dass jedes muslimische Mädchen und jeder muslimische Junge diesen Text zu lesen bekommt. (…) Später, im Germanistikstudium, las sich die Nachkriegsliteratur für mich wie die Aufarbeitung einer fundamentalistisch-muslimischen Gesellschaftsordnung.

Die Autorin Tuba Sarica fordert Verantwortung für das eigene Handeln. „Ich will keine Hoffnung auf die Hilfe eines fremden Gottes setzen, sondern Vertrauen in meine eigene Lebenserfah­rung haben.” Ihr Appell an die Leser klingt hoffnungsvoll: „Ihr lebt in einem Land, in dem ihr eine Chance habt. Ergreift sie!“

Tuba Sarica mischt sich auch in die öffentliche Diskussion ein.„Die, die Erdoĝan gut finden, wollen keine Verantwortung für ihr Leben übernehmen“, sagt Tuba. „Es ist einfacher, wenn Erdoĝan sagt, der Westen sei an der eigenen Misere Schuld.“ In ihrem Blog weltbewohner.com (Weshalb enden die Einträge Ende 2018)? schrieb sie 2018: „Özil und Gündogan sind Mitläufer. Wenn sie in den 30ern gelebt hätten und deutsch wären, hätten sie auch Hitler die Hand gegeben.“ Focus nennt das eine „krasse Entgleisung”.

Gespräch mit Tuba Sarica auf “Telepolis”

Leserkommentare bei Amazon (entlarvend)

Philipp Ther:
Das andere Ende der Geschichte –
Über die Große Transformation

therendegeschichte„Das Ende der Geschichte“ wurde 1992 von Francis Fukuyama verkündet. Philipp Ther ist nicht der erste, der merkt, dass die These Unsinn war. Er weiß, dass die Geschichte weiterging und weitergeht und auch 2019 an keinem Ende angekommen ist, auch an keinem anderen. Er schreibt die Entwicklungen für einige Länder(gruppen) weiter: Die USA haben nach dem Kalten Krieg „den Frieden verloren“, Deutschland habe den „Preis der Einheit“ entrichten müssen, Italiens „Crisi“ stehe als „Menetekel Europas“, der Westen habe sich von Russland und der Türkei entfremdet, Polen und Ungarn predigen Abhilfe im Nationalismus.

Ther ist Historiker, er habe sich aber für dieses Buch „auf die Form des wissenschaftlichen Essays eingelassen“. Karl Polanyis Hauptwerk „The Great Transformation“ von 1944 war für ihn „die wichtigste Quelle der Inspiration und kam so als Untertitel aufs Cover: “Über die Große Transformation”. Auf Polanyi beruft sich Ther ausführlicher im ersten Essay: “Neoliberalismus, Illiberalismus und die Große Transformation nach Karl Polanyi.“

Was hätte Polanyi zu diesen Entwicklungen gesagt oder, anders gefragt, was lässt sich aus seinen Schriften für die Zeit nach 1989 ableiten? Man kann auf die zahlreichen Parallelen zwischen dem 19. und dem späten 20. Jahrhundert hinwei­sen; was derzeit als Neoliberalismus diskutiert wird, hat Ähnlichkeiten mit dem globalisierten Laissez-faire-Kapita­lismus, über den Polanyi schrieb. An die Stelle des Goldstan­dards sind die Defizitkriterien des Euro getreten, wobei die­se bekanntlich nicht für die gesamte Welt, sondern nur für die Eurozone gelten. Auch die Antireaktionen gegen diese Ord­nung sind mit dem späten 19. Jahrhundert vergleichbar, in den USA besteht ein starker Drang zum Protektionismus, den sich kleinere Länder wie Großbritannien, Italien, Polen oder Ungarn, wo derzeit Rechtspopulisten (mit)regieren, frei­lich nicht leisten können. Stehen wir demnach kurz vor dem Faschismus? Dazu ist die bestehende globale Wirtschaftsord­nung trotz aller Turbulenzen rund um Trump noch zu stabil. (…)

Ganz sicher hätte Polanyi für ein anderes Verhältnis von Staat und Wirtschaft plädiert. Er bemerkt zum 19. Jahrhun­dert kritisch, die »Praxis des Laissez faire« sei nicht, wie von den Liberalen behauptet, gleichsam naturwüchsig entstan­den: »[F]reie Märkte wären niemals bloß dadurch entstan­den, daß man den Dingen ihren Lauf ließ. […] [S]ogar der Grundsatz des Laissez faire selbst wurde vom Staat durch­gesetzt.« (…)

Auch für spätere Epochen sieht Polanyi die Bestimmung des Staates darin, zum Wohlfahrtsstaat zu werden und somit als Mittler zwischen den Interessen des Markts und der Ge­sellschaft zu agieren. Deren soziale Bedürfnisse stellt er über das Gewinnstreben, insofern basiert sein Buch auf einer kla­ren Wertehierarchie. (…)

Ein weiteres Konzept von Polanyi, der für die Zeit nach 1989 eine nähere Betrachtung verdient, ist das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung, der unter den deklassierten Arbeits­losen und Armen besonders verbreitet sei: »Rein ökono­mische Sachverhalte, die die Befriedigung der Bedürfnisse betreffen, sind für das Klassenverhalten unvergleichbar we­niger relevant als Fragen der sozialen Anerkennung.« Die­ses Bedürfnis zählte offensichtlich wenig bis nichts, stattdes­sen stand im Osten wie im Westen die soziale Abgrenzung im Vordergrund.

In den anderen Kapiteln taucht Polanyi eher kursorisch auf, die Bezugnnahme wirkt konstruiert, als Folie für die Befunde eingesetzt. Die Zusammenstellung ist interessant und informativ. Ther stellt Querverbindungen her und zeigt an seinen Musterländern die Verwerfungen auf, die die skrupellose Durchsetzung des Neoliberalismus hinterlassen hat. Immer wieder thematisiert Ther die Rolle des Historikers, der für sichere Ergebnisse Abstand bräuchte, der sich aber an die Aktualität wagen und sich einmischen muss, denn „es eilt, sonst steht der Menschheit und ganz konkret uns und unseren Kindern noch eine ganz andere Große Transformation bevor”.

Man kann Polanyi daher sehr vielfäl­tig interpretieren, was eine Erklärung dafür sein mag, warum er unter Linksintellektuellen bis heute so populär ist und warum prominente Sozialwissenschaftler immer wieder ei­nen »polanyischen Moment« gekommen sahen.

Das war Anfang der Neunziger der Fall, als infolge der Re­zession von 1992 die Reaganomics ebenso am Ende schienen wie wenig später der Thatcherismus; dann erneut nach der – ebenfalls bereits globalen – Krise des Neoliberalismus rund um die Jahrtausendwende (von der Asien- und Russlandkri­se bis zum Dotcom-Crash) und schließlich nach der großen Krise von 2008/09, die sich in Europa zur Eurokrise aus­wuchs. Jedes Mal erwarteten kluge Zeitgenossen einen Pen­delschlag nach links, wenigstens zu einem stärker regulier­ten Kapitalismus – der dann nicht eintrat.

Ich bin mir nicht sicher, warum das Pendel an diesen drei Wendepunkten zunächst in verschiedene Richtungen schwang, als hätte eine höhere Gewalt an der Aufhängung der Pendel­schnur gezupft, um es dann nach rechts ausschlagen lassen. Wahrscheinlich ist der Zeitabstand, zumal zum Annus horri­bilis 2016, noch zu gering, um darauf eine befriedigende oder gar bleibende Antwort zu geben. So weit mein Zweifel an einer Zeitgeschichte, die immer näher an die Gegenwart he­ranrückt. Möglicherweise ist der globale Kapitalismus stabi­ler als von Polanyi vermutet und steckt solche Krisen weg. Doch was passiert mit der liberalen Demokratie? Hier be­gann nicht erst nach den beiden letztgenannten Krisen, son­dern schon in den Neunzigern eine Drift zum Rechtsnatio­nalismus und Illiberalismus.

Philipp Thers Danksagung endet nicht gerade zuversichtlich: „Meinen Kindern wünsche ich eine bessere Zukunft, als sich derzeit erkennen lässt.”

Detlef Siegfried: 1968.
Protest, Revolte, Gegenkultur

siegfried1968Detlef Siegfried schreibt ein detaillertes und ausgreifendes Buch über 1968 und die Jahre drumherum, den „Zeiten, denen die Revolte von 1968 eine Spitze aufsetzte“. Seine These: „dass 1968 und der gesellschaftliche Umbruch der langen 1960er Jahre untrennbar zusammenhängen“. Siegfried wertet nicht, sondern stellt in sozialwissenschaftlicher Diktion dar, ordnet zu und ein und belegt seine Analyse ausführlich. (25 Seiten Anmerkungen)

Erst vor dem Hintergrund der noch in der Modernisierung der Gesellschaft reproduzierten geistigen Enge wird die Faszination des in allen Farben leuchtenden Möglichkeitsraums verständlich, der jenseits der deutschen Grenzen aufschien – im französischen Existenzialismus, in der US-Beat-Literatur, in skandinavischer Liberalität und Popkultur aus Großbritannien. Aber auch im eigenen Land wurde die besonders starke Orientierung an der Tradition, die nach Nationalsozialismus und verlorenem Krieg den gesellschaftlichen Zusammenhalt wiederherstellen sollte, seit den späten 195oer Jahren immer mehr in Frage gestellt. Anders leben, das bezog sich nicht nur auf das politische System, sondern fun­damentaler auf die Lebensweise: Genuss statt Pflichtgefühl, Toleranz statt Normativi­tät, weg mit dem nationalen Brett vorm Kopf – immer weniger wurde als gegeben hingenommen, weder die Familie als wich­tigste Form der Gemeinschaft noch schein­bar objektive Gegebenheiten wie die sexuel­le Orientierung, schon gar nicht die Konven­tionen von Bekleidung und Haartracht. Selbst der Rahmen dessen, was als Wirklich­keit verstanden wurde, konnte gesprengt werden, wie der Aufstieg illegaler Drogen verdeutlichte.
Die Kraft derartiger Ideen kann kaum überschätzt werden.

Siegfrieds Protest beginnt mit sub- und popkulturellen Umbrüchen, mit “anderen Wirklichkeiten”: “Körperpraktiken”, Auslandsreisen, Underground und “Swinging Benjamin”, mit Erkundungen, Hoffnungen und Positionen. Das erste der vielen intelligent ausgewählten Bilder zeigt eine “Demonstration für den Minirock”.

Dass in den späten 1960er Jahren die Bereitschaft der Linken gewachsen war, sich Beat und Pop gegenüber zu öffnen und ihnen ein politisches Poten­zial zuzuerkennen, hatte auch mit einem theoretischen Paradigmenwechsel zu tun, der die linke Intelligenz beschäftigte. Helmut Lethen erzählt eine Ge­schichte, die die Haltung einer bestimmten Strömung trefflich illustriert. 1967, drei Jahre nach dem Kauf von Twist and Shout und dem Besuch eines Beat­les-Konzertes in Amsterdam, hatte Lethen, geboren 1939, bei einer Tagung der Studienstiftung des Deutschen Volkes Adorno getroffen. »In dem Weinlokal, in dem wir uns abends nach der Konferenz trafen, stand glücklicherweise eine Jukebox. Um den Verächter der Massenmusik zu quälen, wählten wir – eine kleine Gruppe von Studenten des SDS […] – pausenlos Platten wie Hey Jude, Ruby Tuesday etc. Der Philosoph widmete sich seelenruhig dem Wein und seiner kleinen Freundin. Das hat mir imponiert.« Hinter dieser Miniatur ver­birgt sich ein Austausch der theoretischen Autoritäten in jenem Teil der Studentenbewegung, der im Politischen wie Kulturellen an den Puls der Zeit strebte. Es ging, grob gesprochen, darum, Hochkultur und Theorie durch Pop­kultur und Praxis zu ersetzen.

Da das aber doch nicht theoriefrei vonstattengehen konnte, wurde dieser Paradigmenwechsel untermauert durch den Übergang von Theodor W. Ador­no zu Walter Benjamin. Während Adornos Kritik der Kulturindustrie keinen Ausweg aus dem Zirkel von Manipulation und »rückwirkendem Bewusst­sein der Rezipienten ließ, eröffnete Benjamins Essay zum Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit einen Weg, die modernen Massenmedien als Werkzeuge der Emanzipation zu begreifen.

Der zweite, wegen des Gegenstands drögere Teil des Buches ziseliert die “politischen Bewegungen”, die APO und die Vietnam-Konferenz(en), den Antikolonialismus bis hin zu den “Ikonen des neuen Internationalismus: Che & Mao”. Es fehlen nicht Schüler- und Lehrlingsbewegung , obwohl ein Gutteil der “Gegenkultur” von Studenten und Gymnasiasten getragen wurde. Das Ende zerlief zwischen Kommerzialisierung und sektiererischem Individualismus, zwischen “linkem Hedonismus” und RAF, zwischen Institutionen und SPD.

Man liest die nüchterne Studie als “linker Melancholiker (Walter Benjamin”), vertieft sich in begleitende “Selbsthistorisierung”, versucht , den Anteil der “Bewegung” an der eigenen Selbstwerdung zu extrahieren. Aus der zeitlichen Distanz findet man viel, was man schon weiß oder gewusst hat, das man aber nur aus provinzieller Distanz “miterlebt” und diskutiert hatte und das sich doch mit dem eigenen Leben verwob. “ Es geschah viel in kurzer und im Rückblick noch strärker verkürzten Zeit .Mit dabei war ich nur beim Konzert von Jimi Hendrix am 15. Januar 1969 am revolutionären ,-) Ort, dem Kongressaal des Deutschen Museums in München.

Bsiegfried1968-2ei seiner “Tournee vom Januar 1969 wurde deutlicher als zuvor, wie sehr gerade die linke Szene von Hendrix fasziniert war. Wie die alten Bluesgrößen repräsentierte er aus ihrer Sicht die nichtkommerzielle Seite der Popmusik. Hendrix wirkte zugänglicher, spontaner und weniger arrogant als viele seiner (weißen) Kollegen, er schien unter der Kommerzialisierung seiner Musik zu leiden und sie durchbrechen zu wollen. Schon vor seinem Auftritt in Woodstock – bei dem er die amerikanische Nationalhymne instrumental zerlegte – galt Hendrix als politischer Künstler, der der weitverbreiteten Kritik am Vietnamkrieg einen zeitgemäßen musikalischen Ausdruck verlieh.

„Zwei Wunderdinge erschienen zu Beginn der Sechziger in der Welt: die Antibabypille und die Beatles“, schreibt Willi Winkler in der SZ und er lobt – in gewohnter Überhebung und in falschem Deutsch): „Die wahre Geschichte von 1968 haben nicht sie [Wolfgang Kraushaar und Götz Aly] geschrieben, sondern der Kulturwissenschaftler Detlef Siegfried.“

Heinz Bude: Solidarität.
Die Zukunft einer großen Idee

budesolidaritaet“Manchmal muss man Begriffe in Frage stellen, um weiter etwas mit ihnen anfangen zu können”, beginnt Heinz Budes Vorwort. Um das zu tun, habe ich mir Budes Hilfe gekauft. Was Solidarität wusste ich natürlich schon vorher. Bude sieht auch “in unserer Gesellschaft” Bedarf an Solidarität und bilanziert die Situation “in einer Welt der Ungleichheit” im letzten Kapitel. “Es wird alles besser und schlechter zugleich. So könnte man die Entwicklung der globalen Ungleichheit in den letzten drei­ßig Jahren zusammenfassen.” (…) ”Das Kreuz des Augenblicks besteht darin, dass die Spaltungen und Verwerfungen den globalen Norden wie den globalen Sü­den heimsuchen. Im Norden hat die tiefe Spaltung zwischen jenen, die die Flüchtenden aus dem globalen Süden willkom­men heißen, und jenen, die Mauern zum Schutz vor diesen Eindringlingen errichten wollen, ihren Grund in der Frage, wem die Zukunft gehört. Muss sich der globale Norden, der der Menschheit die Französische Revolution der gleichen Rechte für alle und eine englische der Erfindung einer Indus­trie zum Wohle aller gebracht hat, sich damit abfinden, dass seine Zeit vorbei ist und jetzt die Zeit der anderen beginnt, oder sollte er alle Kräfte aufbieten, um sich gegen die Anma­ßung der Anderen, die ganze Welt in Besitz zu nehmen, zur Wehr zu setzen?”

Im größten Teil des Buches widmet sich Bude einer Vielzahl von Aspekten des Begriffs, leitet her und grenzt ab, referiert die Thesen der Wissenschaft(ler). Die Rede ist von christlicher “Barmherzigkeit” oder von revolutionärer “Brüderlichkeit”, von der sozial bestimmten “Nachbarschaft” in Stadt und vor allem Land, von Zusammenschlüssen zu Selbsthilfe wie beruflichen “Ständen” und “Gewerkschaften”, von staatlicher “Fürsorge”. Bude verbindet den Blick in die Geschichte mit dem ins “Heute”. Er fragt nach der Zukunftshaftigkeit des Begriffs “Proletarier” und den Bedingungen und Chancen internationaler Solidarität, nach den biologischen Wurzeln des Altruismus und dem Beitrag der Sozialisation, beleuchtet auch die “dunklen Seiten der Empathie” und registriert die Vereinzelung in Zeiten des Neoliberalismus.

Für Bruno Latour muss sich der Gedanke der Solidarität heute mit einer bestimmten, einigermaßen aggressiven Strate­gie des Überlebens auf unserem Globus auseinandersetzen, die dadurch gekennzeichnet ist, das eine gewichtige Fraktion der herrschenden Klasse weltweit zu der Auffassung gelangt ist, dass auf der einen zusammenwachsenden Welt ein mörde­rischer Kampf um die Plätze entbrannt ist, bei dem man sich nicht mehr darum kümmern kann, wie die anderen dran sind. »Wir zuerst« lautet die Parole, und der Rest muss schauen, wo er bleibt. Deshalb muss man auch nicht länger so tun, als sei das Bemühen der Weltpolitik darauf gerichtet, allen Men­schen in gleichem Maße zu Wohlstand und Wohlfahrt zu ver­helfen. Die herrschende Klasse will genau besehen auch gar nicht mehr führen, sie sucht wie alle anderen auch Schutz, allerdings glaubt sie im Unterschied zu den meisten anderen, dass Schutz für die Privilegierten und Begüterten nur außer­halb dieser Welt zu finden ist. Es gibt für diese tonangebende globale Klasse keine gemeinsame Welt mehr, die wir mitein­ander teilen.

Ein guter Überblick, um Linien zu verfolgen und Aspekte wieder in den Blick zu nehmen. Bude nennt seine ausführungen “Meditationen”, er appelliert nicht, dafür wäre sein Stil auch zu elaboriert, seine Sätze zu worthaltig, seine Begriffe zu präzise.

Arno Gruen: Der Fremde in uns

gruenderfremdeinunsArno Gruen war Psychoanalytiker. „Der Fremde in uns“ ist die Entfremdung von einer eigenen Identität, die in der frühkindlichen Sozialisation ihre Wurzel hat.

Ausschlag­gebend ist eine Erziehungssituation, die von unserer Kultur ge­fördert wird. Der Vater übernimmt in der Regel den strengen Part, weil er weitergibt, was ihm selbst angetan wurde. Er kann sich in dem ihm auferlegten Selbstwert nur bestätigt fühlen, wenn seine Kinder so sind, wie er selbst sein mußte. Die Mutter, die ihr Eigenes auch nicht erkennt, darf in dieser sie unterdrüc­kenden Beziehungsstruktur ihre berechtigte Aggression nicht direkt, sondern nur indirekt oder unbewußt ausdrücken: indem sie den Vater insgeheim verachtet und sich selbst und den Kin­dern (vor allem Söhnen) gegenüber eine verwöhnende Haltung einnimmt.

Einer solchen Prägung kann der Mensch/der Mann nur schwer entkommen. Es entsteht eine innere Leere, die man durch die Identifikation mit dem Stärkeren, dem Aggressor, zu verdecken bzw, zu kompensieren versucht.

Diese Identifizierung führt nicht nur dazu, daß das Opfer sich mit dem Täter verbündet, sondern auch, daß es ihn idealisiert. In den Augen des Opfers beginnt der Täter Geborgenheit aus­zustrahlen. Gleichzeitig fängt das Opfer an, seinen Schmerz als Schwäche zu empfinden, weil der Täter diese Gefühle verbietet. Würde er diese Gefühle bei seinem Opfer wahrnehmen, müßte er sich schuldig fühlen. Das gilt es mit Gewalt zu verhindern. Doch der Schmerz und die daraus resultierende Wut existieren weiter in dem Opfer, nur richten sie sich jetzt gegen das Eigene, das nun als fremd erlebt wird. Es gehört zum normalen Anpassungspro­zeß, diese Wut gegen das Fremde nach außen zu richten. Die All­gegenwart dieses Vorgangs ist bestimmend für den Verlauf un­serer Geschichte.

Gruen findet für seine These(n) Fallbeispiele in seiner Praxis. Er überprüft die Erkenntnisse dann an Personen aus der Geschichte, die für Gewalt-täter stehen: Hitler vor allem, aber auch Hans Frank, Göring, Heß und andere NS-Problemmänner. Zur Bestätigung zieht er Untersuchungen an Massenmördern in der SS oder deutschen Kriegsgefangenen heran.

Indem Hitler den Menschen vermeintliche Feinde offerierte, bot er ihnen die Möglichkeit, den so verhaßten inneren Fremden nach außen zu verlagern, den Haß ohne Schuldgefühle zu entäußern und sich dadurch von der erdrückenden Last der Minderwertigkeit zu befreien. Das ist der Grund, warum Menschen nach Erlösung trachten, warum sie einen Führer brauchen, der kein wirklicher ist. (…) Das Ergebnis ist die oft lebenslange Suche nach Erlösung von der Minderwertigkeit, nicht von dem eigentlichen Schmerz, der dem Kind einst zugefügt wurde.

Gruen beruft sich auf Donald W Winnicott, der sich auch mit Persönlichkeitsstrukturen und Demokratie beschäftigte.

Mit einer solchen Entwicklung geht auch eine Angst vor der Frau einher, die ihre Ursachen in der tiefen Ab­hängigkeit des kleinen Kindes von der Mutter hat. Winnicott ist der Meinung, daß diese Angst vor der Frau die eigentliche Trieb­feder dafür ist, daß viele Menschen andere beherrschen wollen. Das heißt: Manche Menschen entwickeln das Bedürfnis, ein Dik­tator zu sein, um auf diese Weise der Angst zu entkommen, von einer Frau beherrscht zu werden.

Konsequenzen aus den Analysen lassen sich auch für dem Umgang mit Menschen ohne eigene Identität ziehen:

Mit liebevoller Toleranz und verständnisvollem Ent­gegenkommen werden wir gewalttätige Rechtsradikale und Neo-Nazis nicht besänftigen können. Aus der Forschung mit ge­schändeten und mißhandelten Kindern ist bekannt, daß diese auf liebevolles Entgegenkommen mit Haß und Gewalt reagieren. Durch ihre Idealisierung derer, die Gewalt ausüben, werden Liebe und Wärme zu etwas, das inneren Terror auslöst. Die Ver­achtung des Liebevollen ist eine Abwehrreaktion. Diese Abwehr von Zärtlichkeit zeigte sich auch im Verhalten der Nazis, die Dicks untersucht hatte.

Liebe und Wärme werden mit Verachtung bestraft. Sozial en­gagierte Menschen, die Gewalttätigen und Rechtsradikalen «verständnisvoll» beizukommen versuchen, werden nicht nur enttäuscht. Sie müssen auch damit rechnen, zusammengeschla­gen zu werden. Haß und Gewalt sind jedoch auch nicht die ge­eigneten Gegenmittel. Im Umgang mit haßerfüllten Menschen gilt es vor allem, konsequent zu sein. Das heißt: Grenzen setzen! Das ist die einzige Sprache, die Menschen ohne innere Identität verstehen. Wer ihnen helfen möchte, braucht eine innere Auto­rität. Er muß die Gewißheit haben, daß Gewalt und Haß men­schenunwürdig sind.

Die wirkliche Lösung bestünde jedoch in dem Bemühen, dem Drang nach Größe und Besitz Einhalt zu gebieten und Menschen statt dessen zu ihren wahren Möglichkeiten zurückzuführen, die mit Liebe, Zuwendung, Nähe und Zugang zum Schmerz in Zu­sammenhang stehen. Das ist weder ein einfaches noch ein schnell realisierbares Unterfangen. Es ist aber das einzige, das dem fa­talen Kreislauf ein Ende bereiten und einen gesellschaftlichen Zusammenbruch verhindern kann. Nur so können wir die Spal­tung unseres Seins, die zur Entfremdung und zur Jagd nach Op­fern führt, aufheben. Im Prinzip gibt es nur zwei Welten – die des Lebens und die, die sich Zerstörung und Tod verschrieben hat.

„Der Fremde in uns“ ist 2002 erschienen doch, folgt man den Thesen, natürlich immer gültig, weil die Prozesse „Grundlage aller sogenannten Hochkulturen“ sind. Die Grabungen der Psychoanalyse sind freilich ebenfalls von historischen Entwicklungen und gesellschaftlichen Positionen bestimmt. Ökonomische Unterbauten sind nicht Thema der Veröffentlichung.

Theodor W. Adorno:
Aspekte des neuen Rechtsradikalismus

adornoreradDer Titel ist kein Fake, aber Täuschung! Wir wissen nicht weiter, deshalb HILF! St. Adorno steh auf, steh uns bei! Schnapphoffnung. – Das Büchlein ist die – erstmalige – Verschriftlichung eines Vortrags von Theodor W. Adorno aus dem Jahr 1967. Der „neue“ Rechtsradikalismus nannte sich damals NPD.

Aufschlussreich ist der Text aber auch nach 50 Jahren noch, denn verändert haben sich Name und technische Mittel, nicht aber Strukturen und Voraussetzungen rechter Propaganda und Politik. Adorno beschäftigt sich mit seiner (und Horkheimers) Analyse der „autoritätsgebundenen Persönlichkeit“, dem „pathischen Nationalismus“.

Außer den Kleinbürgern spielen sicher eine hervorragende Rolle die Bauern, die sich ja in einer permanenten Krise befinden, und ich würde den­ken, daß solange, wie es nicht wirklich gelingt, das Agrarproblem auf eine radikale, nämlich nicht sub­ventionistische und künstliche und in sich wieder problematische Weise zu lösen, solange man nicht wirklich zu einer vernünftigen und rationalen Kol­lektivierung der Landwirtschaft gelangt, daß die­ser schwelende Herd dauernd bestehen bleibt.
Darüber hinaus gibt es aber auch in diesen Be­wegungen insgesamt so etwas wie einen sich ver­schärfenden Gegensatz der Provinz gegen die Stadt.

Er konstatiert eine überkommene Geistfeindschaft und eine Fixierung Auf die „Mittel“ und deren Perfektionierung im Vergleich zur Hohlheit von Inhalten. Weil diese Bewegungen, die ja, wie ich sagte, prinzipiell überhaupt nur Machttechniken sind und keineswegs von einer durchgebildeten Theorie aus­gehen, weil die ohnmächtig sind gegen den Geist, wenden sie sich gegen die Träger des Geistes.

Das Cha­rakteristische für diese Bewegungen ist vielmehr eine außerordentliche Perfektion der Mittel, näm­lich in erster Linie der propagandistischen Mittel in einem weitesten Sinn, kombiniert mit Blindheit, ja Abstrusität der Zwecke, die dabei verfolgt wer­den. Und ich glaube, daß gerade diese Konstella­tion von rationalen Mitteln und irrationalen Zwek­ken, wenn ich’s einmal so abgekürzt ausdrücken soll, in gewisser Weise der zivilisatorischen Gesamt­tendenz entspricht, die ja überhaupt auf eine sol­che Perfektion der Techniken und Mittel hinaus­läuft, während der gesamtgesellschaftliche Zweck dabei eigentlich unter den Tisch fällt. Die Propa­ganda ist vor allem darin genial, daß sie bei diesen Parteien und diesen Bewegungen die Differenz, die fraglose Differenz zwischen den realen Interessen und den vorgespiegelten falschen Zielen ausgleicht. Sie ist wie einst bei den Nazis geradezu die Sub­stanz der Sache selbst. Wenn Mittel in wachsendem Maß für Zwecke substituiert werden, so kann man beinahe sagen, daß in diesen rechtsradikalen Bewegungen die Propaganda ihrerseits die Substanz der Politik ausmacht.

Als Voraussetzung des anwachsenden Rechtsradikalimus weist er aber auch auf die „Konzentration des Kapitals“ und die Prekarität der Arbeit im „Zeitalter der Automatisierung“ hin. Für Adorno swohl elbstverständlich und nicht prophetisch, heute aber gern unbedacht und vom Neoliberalismus in die Ecke geschoben.

Wie nicht anders zu erwarten, hat auch Adorno nicht das Zaubermittel, er ist Analytiker, kein Wunderheiler. Immerhin gibt er Ratschläge, die man aber aufnehmen und auf die Situation 2020 übertragen können müsste und sollte. Vielleicht beteiligen sich heute zu viele „Heiler“ am Diskurs, die in ihrer Gesamtheit eher konfuse als profunde Lösungen andenken.

Ich glaube, die »Hush-Hush«-Taktik, also die Taktik, diese Dinge totzuschweigen, hat sich nie bewährt, und es ist si­cher heute bereits diese Entwicklung viel zu weit ge­gangen, als daß man damit noch durchkäme. Daß man nicht moralisieren, sondern an die realen Inter­essen appellieren soll, habe ich Ihnen bereits gesagt.

Ein weiteres Moment ist die Wendung nach in­nen. Das heißt, daß man in der Abwehr versucht, bewußtzumachen, daß dieser ganze Komplex der autoritätsgebundenen Persönlichkeit und der rechts­radikalen Ideologie in Wirklichkeit seine Substanz gar nicht an den designierten Feinden hat, gar nicht an denen hat, gegen die man dabei tobt, sondern daß es sich dabei um projektive Momente handelt, also daß die eigentlichen Subjekte einer Studie, die, die man zu begreifen und zu verändern hätte, die Rechtsradikalen sind und nicht die, gegen die sie ihren Haß mobilisiert haben. Nun, meine Damen und Herren, ich bin nicht so naiv zu glauben, daß man mit dieser Wendung nach innen unmittelbar bei den Menschen, um die es sich handelt, sehr viel erreichen könnte, denn es gehört – ich kann das jetzt nicht mehr im einzelnen Ihnen auseinander­setzen, warum -, es gehört zu diesem Syndrom wesentlich dazu, daß diese autoritätsgebundenen Charaktere unansprechbar sind, daß sie nichts an sich herankommen lassen.

Aber nun nicht Lüge gegen Lüge setzen, nicht versuchen, genauso schlau zu sein wie er, sondern nun wirklich mit ei­ner durchschlagenden Kraft der Vernunft, mit der wirklich unideologischen Wahrheit dem entgegen­arbeiten.

Volker Weiß („Die autoritäre Revolte“) vermittelt in seinem ausführlichen Nachwort Adornos Gedanken mit der Gegenwart. Sehr interessant.

Mitschnitt des Vortrags vor dem Verband Sozialistischer Studenten Österreichs in der Universität Wien vom 6. April 1967 – Österreichische Mediathek – 1:15

 


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