Nachrichten vom Höllenhund


Wysocki
10. August 2019, 15:29
Filed under: - Belletristik

Gisela von Wysocki: Wiesengrund

wiesengrundIn der Stille des Zimmers schnappe ich nach Luft. In hohen Konzentrationen ist Sauerstoff für die meisten Lebewesen giftig, hat der Chemielehrer gesagt. Ich glaube ihm nicht, nicht in diesem Moment. Ich kann gar nicht genug davon kriegen. Ohne zu zögern, würde ich zur Höchstdosis greifen. Mein Zeitgefühl sagt mir, dass die Sendung in wenigen Augenblicken zu Ende ist. So schnell es geht, tauche ich in meine Unterweltbleibe zurück. Bloß jetzt nichts falsch machen. Bloß nicht die Ansage versäumen, den Namen des Besuchers, beinahe wäre es schon wieder passiert. Ich hätte mit dem raschelnden Geräusch der Bettdecke rechnen müssen. Ich hätte sie entweder blitzschnell, mit einer flinken Bewegung zur Seite schlagen müssen. Oder langsam, lautlos. Deshalb habe ich den vollständigen Namen wieder nicht richtig verstanden. Dem Klang nach ist er nicht allzu weit von der Wesendonck-Riesenmund-Vermutung entfernt. Es kann Wiesengrund geheißen haben.

Titel der Kapitel lauten: Kippfiguren Gleichzeitigkeit Fliehkräfte Heimliches Zentrum Verglasung Sehenden Auges Unschärfe Trennschärfe Im Taumel Blickwinkel …

Lauter Ungeweissheiten, lauter Möglichkeiten, alles andes zu sehen. Perspektivenwechsel: Nah-Fern, ich-andere, so oder so. Das erzeugt ein Flimmern. „Dabei sollte aber das Wort >Leben< niemals selbst in Ihrem Text auftauchen. Sondern allein als ein Glühen, Flirren und Vibrieren der Sprache zur Erscheinung kommen.” . “Wäre das Leben ein Buch, würde ich mich für das Ge­schehen zwischen den Zeilen entscheiden.”

Hanna Werbezirk geht nach Frankfurt, weg von Salzburg, um Philosophie zu studieren. Um der Stimme aus dem Nachtstudio nahe zu sein. Wiesengrund. „Die Möglichkeit rückt näher, ihn selber sprechen zu hören.“

Es ist vollkommen still. Ich schaue auf das Podium vor mir, wo Wiesengrund steht und nicht mehr zu mir spricht, sondern zu den Anwesenden in einem großen, sehr großen Saal. Deutlich hörbare Worte. Sie werden auch noch in der dreißigsten, vierzigsten Reihe zu ver­stehen sein. Ich habe es doch gewusst, hatte viel Zeit, mich darauf vorzubereiten! Dass außer mir auch noch andere Personen hier auftauchen werden. Ob auch sie alle gekommen sind, um Zeuge jener magischen Trans­ferleistungen zu werden, die dem bedenklich vornehmen, dezent verwaschenen und auf leisen Sohlen seine Run­den drehenden Wort »Philosophie« eine bestürzend un­bekannte, eine dabei auf einleuchtende, ja geradezu un­widerlegliche Weise neue Wirklichkeit geben werden? Und ob auch sie an der noch immer ohne Bewegung auf dem Podium verharrenden Gestalt ebenso wie ich einen Zug ins Vereinsamte wahrnehmen? Ins Altertümliche? (…) Ist es denkbar, dass ich, die erlöste Hanna Werbezirk, die eigensinnige Tochter aus Salzburg, sich ihr mitter­nächtliches Schattenwesen ans Bein gebunden und bis in diesen Hörsaal mitgeschleift hat?

Unerwartet nähert sich mir jetzt die übernatür­liche Gastgeberin. Sie möchte von mir wissen, wie ei­nem so zumute ist als Wiesengrunds Studentin. Meiner Antwort, »das wüsste ich selber gerne«, scheint sie ei­nen besonderen Sinn zu geben.

In kurzen Texten erkundet Hanna Werbezirk ihr Ich in Anekdoten aus und vor dem Hörsaal, aus den Sprechstunden, aus ihrer Mietwohnung. Überraschend erweist sich Wiesengrund, „die Callas“, als Mensch, mehr als die Stimme aus dem Äther, aus der Unnahbarkeit des Dozenten wird ein Wesen mit Körper, mit Empathie.Wiesen­grund ist mit seinem Sessel etwas näher an mich heran­gerückt. Als würde damit das zu Entdeckende, Auszu­kundschaftende leichter erkennbar, deutlicher sichtbar werden. Sein Gesicht hat etwas Ebenes, in seinen Ver­läufen Nachgiebiges. Nicht nur, weil es aus der Nähe zu sehen ist, kommt es mir näherliegend vor als die me­tallisch reglosen Züge, wie ich sie vom Podium her ken­ne. »Erzählen Sie, wo sind Sie untergebracht? Wo haben Sie Quartier gefunden? Wie leben Sie in Frankfurt?«”

Erstaunlich für die Studentin aus Salzburg, die sich nicht für besonders hübsch hält, dass Wiesengrund in der Sprechstunde ihre Beine “rituell begutachtet”, dass er sich in einer Zoohandlung mit ihr verabredet, sie zum Eisessen einlädt, ihr vor den Semesterferien sagt: Wir sehen uns wieder.” Eine „Liebesgeschichte, auch ohne Hand und Haut, denke ich.

Fräulein Werbezirk erzählt auch von den Kontakten mit anderen Studenten, von Erlebnissen in ihrer Mietwohnung und mit ihren dortigen Nachbarn. Ständig und ohne bewusst zu weden, vermischen sich die Banalitäten des Alltags mit den Reflexionen (?), “das Geknäuel von Wirklichkeit und Fiktion! Das erweiterte Tätigkeitsfeld der Wahrheit. Ihre Nähe zur Paradoxie!”.

An diesem Abend habe ich mir Kants Kritik der reinen Vernunft vorgenommen. Besser gesagt, ich werde sie in Angriff nehmen. Der pure, bloß methodisch geformte Geist wird in Stellung zur schlampigen Wirklichkeit gebracht. Geist minus alles, was ist. Die schmal geführten Zeilen des Buches wahren Stille und Gefasstheit. Und eine Überzeugungskraft, als wüssten sie davon, wie folgenreich sie sich in die Geschichte des Denkens eingegraben haben. Aber wie das so ist mit der »Erfahrungswelt«! Sie hat ihren eigenen Kopf und lässt sich schwer zum Schweigen bringen. Es klopft an der Tür und Frau Gottwald ruft. (…)Es sind aussagekräftige Unterkünfte. Behausungen wie Umspannwerke, hier hat jedes Phänomen die Neigung, zu einer Chiffre zu werden. Das nachlässig Hingehaue­ne illustriert bahnbrechende Entschlossenheit. Der über einer Stuhllehne abgeworfene Socken verkörpert die Brü­cken, die man hinter sich abgebrochen hat.

Es ist de Geschichte der Hanna Werbezirk. Es ist die Geschichte ihrer jugendlichen Abnabelung vom Vater, dem berühmten Sternenforscher, den sie Alasco nennt, dessen Sterne sie aber weiterhin durchs Leben leiten. „Bei Alascos sterblichen Sternen ist es auch nicht anders. Wie intakt sie aussehen können! Wie funktionstüchtig! Und wie ewig! Während sich in ihrem Innern der Kol­laps vorbereitet, sich die Reihe der Spaltungen fort­setzt. Es sind ruhelose Naturen, so wie die Menschen. So wie ich. Der Gedanke hilft mir, das Verwackelte mei­ner Eindrücke hinzunehmen. Die Unschärfe des Blicks.” Wiesengrund begegnet sie eher zufällig unter der Bettdecke bei hren nächtlichen Radio-Séancen. Der Philosoph bleibt ihr Faszinosum, ihr Leitstern. Doch Gisela von Wysocki – auch sie hat bei “Wiesengrund” studiert – will nicht belehren, will neugierig bleiben. Wiesengrunds Lehre färbt ab, durchdringt die Sprache, erzeugt Gelehrsamkeitssplitter, doch es geht nicht um Adornos theoretisches Gebäude, nicht um die zeitkritische Einbettung. Die “Gesellschaft ist im Wesentlichen Substanz des Individuums.” (Adorno) Burkhard Müller (SZ) regt es auf, dass Hanna “mit dem Denken nicht behelligt werden will“ Aber dafür gibt es andere Schriften. Der Roman bleibt Spiel, “Geisteserotik” (Peter von Becker, Der Tagesspiegel) im Rüschenkleid und mit alpenländischem Augenzwinkern.

2016                 265 Seiten

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