Andreas Maier: Die Familie
Über Jahrzehnte hat Andreas, der kleine Bruder, mit seiner Mutter gesprochen. Über Jahrzehnte hat er sich damit zufriedengegeben, dass ihre Antwort die unbefriedigend gleiche Floskel war.
Eines Tages Ende der neunziger Jahre führe ich mit meiner Mutter ein bemerkenswertes Gespräch. (…) Ich bin Anfang Dreißig.
Bei diesem Gespräch frage ich meine Mutter etwas, das ich schon öfter in meinem Leben gefragt hatte, nämlich wie es sich denn eigentlich mit diesen seltsamen hunderttausend Mark verhalten habe, die Heinz immer gefordert hätte. In früheren Zeiten hatte meine Mutter immer dieselbe Antwort gegeben. (…) Ich ließ ein paar Jahre verstreichen, dann fragte ich anläßlich eines Gespräches – wieder fragte ich, als sei es das erste Mal. (…) Anschließend machte ich es mir zur Angewohnheit, meine Mutter alle paar Jahre zu fragen, immer mit geschauspielerter Ich-frag-das-jetzt-zumersten-Mal-Attitüde.
Die Bolls, Andreas’ Familie, haben in Friedberg ein riesiges Grundstück, auf dem sie eine Steinwerkefirma betreiben. Der Vater ist Jurist, und CDU-Kreistagsabgeordneter, die Mutter führt nach dem Tode des Großvaters den Familienbetrieb.
Jahrelang stand die Familie im Bann des Grundstücks im Mühlweg. Es bestimmte unser Dasein, unser öffentliches Auftreten, unsere Rolle in der Stadt. Mir kam es damals vor, als hätten der Ururgroßvater, der Urgroßvater und der Großvater mit diesem Terrain einen bösen Geist durch die Zeit getragen, der zuerst die Erben entzweit hatte, jetzt zur Maskerade zwang und uns dabei die Zunge herausstreckte.
Erst als Andreas 30 ist, liefert ihm seine frühere Freundin, die Buchhändlerstochter, “den Schlußstein unserer Familiengeschichte“. Das riesige Grundstück der Bolls gehörte früher einem Mann namens Seligmann, der sein Grab auf dem Friedhof hat. Vorher glaubte Andreas an die „Familiensage“, erst ganz am Ende erzählt Maier von der Arisierung, er hat sich das als Zielpunkt seiner Entlarvung der Familiengeschichte aufgehoben. Er macht aber nichts aus dieser Bedeutsamkeit, aus der einzigen des Romans. Vorher geschah dieses. Und jenes. Banales. „Eines Tages »geschah etwas«”. “Dann passiert etwas vollkommen Unerwartetes. Erstaunlich ist das Geschehen schon deshalb, weil einfach niemand auf die Idee gekommen war, etwas Derartiges könnte je geschehen.”
Alles, was ich auf diesem Gelände erlebte, hatte für mich mythische Züge und kam mir vielfach vergrößert vor. Zum Beispiel grub mein Vater mit ein paar Leuten eines Tages eine Grube von vielleicht zwei oder drei Metern Länge, mehr als einem Meter Breite, und in die Tiefe ging es ebenfalls einen Meter. Wozu diese Grube diente, weiß ich nicht mehr, aber für uns Kinder war sie tagelang eine urtümliche Behausung, wir überdachten sie, legten Decken hinein, fantasierten Abenteuer … Wie andere ihre Baumhäuser bestiegen.
oder:
So ergab sich ein um das andere Mal das gleiche, jedwedes erhoffte Sonntagsidyll vernichtende Streitgespräch an unserem Tisch. Mein Bruder stützte seinen Ellbogen auf, mein Vater sagte, so etwas mache man nicht, mein Bruder fragte, wieso man so etwas nicht mache, mein Vater entgegnete, das gehöre sich nicht, mein Bruder erklärte, das sei keine Begründung. Mein Vater konnte nicht genauer darlegen, wieso man so etwas nicht mache, alle seine weiteren Erklärungsversuche waren hilflos (»das sind keine Manieren«; »was sollen denn andere Leute von dir denken«; »du bist ein Finder« – mit letzterem meinte er so etwas wie >ungehobelte Person<).
Die Streitereien über den Ellbogen meines Bruders wiederholten sich Monate, vielleicht sogar Jahre.
Der ältere Bruder politisiert und betäubt sich im “Kinderplanet” oder im Jugendzentrum, die Schwester schlingert durch ihr Leben, der Erzähler weiß nicht, was er anfangen soll und was ihm geschieht. Über Jahre. Ohne Bezug zum “Schlußstein”.
Das alles ist nicht nur belang-, interesse- und lustlos dahingeschrieben, sondern auch grottenschlecht erzählt. Dialogbeispiele:
Ich, zu Jan: Er ist Psychotherapeut geworden.
Sie: Der Heinz hat früher alle Möglichkeiten bekommen, ich hatte die nicht. Ich mußte die Firma übernehmen. Das weiß der Heinz bis heute nicht, was das bedeutet hat, ich mit drei Kindern.
Ich: Heinz war doch kein jugendlicher mehr! Als mein Großvater gestorben ist, warst du 31, und Heinz war 26. Du redest über ihn, als sei er noch ein Student gewesen.
Sie: Er wollte die Firma ja nicht. Das mußte ich machen. Aber damals haben wir uns noch gut verstanden, er ist erst anschließend so seltsam geworden.
Ich: Was heißt das, seltsam geworden?
Sie: Wie er herumgeschrien hat, weißt du das nicht mehr? Dein Vater kam nach Hause und hat sich sofort ins Bett legen müssen, wenn er beim Heinz gewesen war. Weil der Heinz diese unmöglichen Vorstellungen hatte. Aber die kamen bei ihm ja auch erst, als …
Ich: Ja, als?
Wieder schaut sie mich seltsam an.
Warum siehst du mich denn so an? frage ich.
Andreas Maier hat witzige Bücher über sein Leben in der Wetterau geschrieben. Das letzte aus seinem Zyklus etwa, “Die Universität”. In “Die Familie” scheint er in eine frühere Phase zurückgefallen zu sein, als er noch nicht die Schreibwerkstatt besucht hatte. Man könnte das Unbeholfene auch für Stilbewusstsein halten, für das Hineinkriechen in das Kind, den jungen Mann. Für die Nachschreibung der Familienlüge aus der Sicht des Naiven. “Mir ist in meiner Jugend lange nicht aufgefallen, daß ich kaum etwas über die früheren Bolls wußte. Außer unserer knappen Familiensage (Rhön, Vogelsberg, Firmengründung, Grundstück, Apfelweinfaß, Walnüsse) wurde nichts erzählt.” Aber auch dann fehlte der Anspruch, die Komposition. Wie soll einer, der nichts mitkriegt, etwas bloßstellen, außer sich selbst. Kurz, aber langweilig.
2019 165 Seiten
Andreas Maier liest zehn Seiten aus »Die Familie«
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Andreas Maier: Die Städte
Falscher Titel ! Nicht über Städte schreibt Maier. Orte, ja, auch größere, aber auch kleine, das ist nicht das Kriterium. Das Buch könnte „Reisen“ heißen, wegfahren, ankommen, zurückkehren. Manches liegt auf dem Weg, zu anderem wird er mitgenommen, etwa, weil er noch Kind ist, einige Orte werden auch gezielt angesteuert. Im Zentrum aber steht immer Andreas Maier, Kind, auch wenn er schon älter geworden ist.
Als ich ein Kind war, fuhren wir überdies in fast allen Ferien nach Tirol und später nach Südtirol in eine Ferienwohnung. Davon emanzipierte ich mich mit elf Jahren, seitdem konnte ich zu Hause bleiben. Ich schaffte es, indem ich alle terrorisierte.
Die Erlebnisse auf der Fahrt nach Brixen und im dortigen Domizil sind so banal nichtssagend, sie sind so ernstgemeint und ichbezogen und stellen doch bloß das Abziehbild einer gutbürgerlichen Urlaubsfahrt dar. Ironie heraus- oder hineinzulesen fällt schwer. Sollten im Leser Erinnerungen an eigene, mehr oder weniger skurrile Zeiterscheinungen oder -objekte aufkommen: Ein Sachbuch ist unterhaltender als diese Pennäler-Schreibe.
»Ich weiß, daß ich diese Dunkelheit aussitzen muß. Ich weiß auch, daß sie vorbeigehen wird. Aber erst bei Nürnberg. Denn bei Nürnberg geht die Sonne auf. Kommt der erste Streif am Horizont schon vor Nürnberg, denkt der Vater, er muß noch schneller fahren. Dann aber sagt die Mutter: Rase nicht so!«
Das kann – und sollte – besser werden. Bis es zur nächsten Reise – nach Athen – kommt, sitzt der Achtklässler zuerst mal acht Seiten zu Hause rum. Textauszug:
Plötzlich geschah etwas, das ich in keiner Weise erwartet hätte. Vielleicht hatte ich ja damit gerechnet, daß sich meine Umwelt in einen Sandstrand verwandeln und die Südsee-Sonne in mein Zimmer strahlen und sich eine Anzahl Leute materialisieren würde, die genauso guter Laune waren wie in der Werbung und deshalb vor meinen Augen eine Party machten, oder gemeinsam mit mir. Aber ich hätte sicher nicht damit gerechnet, daß ich plötzlich, wie ich da mit meinem Buch auf demBett lag, grundlos zu kichern beginnen würde. Alles schien mit einem Mal überaus lustig. Als ich zu greifen versuchte, was denn so lustig sei, fand ich nichts. Das machte alles noch lustiger. Ich kicherte immer mehr, und dieses Kichern machte Spaß, sozusagen allein aus sich selbst heraus.
Ich versuchte mich auf das Buch zu konzentrieren, was das Kichern noch einmal steigerte. Daraufhin richtete ich mich auf meinem Bett auf und lachte lauthals los. Es tat regelrecht weh, wie ich lachen mußte. Nach einigen Minuten begann die Wirkung wieder abzuebben. Lachen und Kichern verließen mich, aber die gute Laune blieb, und ich las wieder in meinem Buch.
In Athen erlebt er: Ouzo, Yvonne und den „Watzmann“, ansonsten sind die Erinnerungen verblichen.
Am fünften Tag blieb sie im Hotel und saß mit mir an der Bar. Was trinkst du denn da, fragte sie. Ist das Alkohol? Ja, sagte ich, Ouzo.
Sie: Schmeckt dir das?
Ich: Ich kenne es erst seit dieser Reise
Sie probierte und fand es abscheulich.
Mit 18 trampt er mit einer Art Freund, Mücke, nach Biarritz: Hier mal ein Dialog:
Merkst du was, fragte Mücke.
Ich: Was?
Er: Na, schau sie dir doch mal genauer an!
Ich: Was meinst du?
Er: Die unterscheiden sich doch von denen bei uns im Schwimmbad.
Ich: Es sind vielleicht Französinnen.
Er: Klar sind das Französinnen. Obwohl hier wahrscheinlich Mädels von überall sind. Aber nein, schau doch mal dorthin, wo ihre Brüste sind.
Ich: Ja, ich schaue. Er: Da gibt es keine Bikinistreifen, nichts. Keine Trägerspuren, und die Busen sind genauso braun wie der Rest. Das heißt, die laufen hier immer so rum.
Ich: Meinst du?
Er: Klar, Mann!
Er verlor in seiner Rede den Faden, weil er weiter umherspähte. Ich versuchte zu dösen.
„Städte“ ist Teil des autobiografischen Romanprojekts „Ortsumgehung“. Ich weiß nicht, auf wie viele Teile das ARP angelegt ist, aber; Maier sollte künftige Romane nur dann anplanen, wenn er weiß, wie weit und wie lange die Erinnerungen reichen, um den Ruf nicht zu ruinieren. Und damit ich was Besseres lesen kann. Eine Reihe, die im Äppelwoi versäuft.
Aber ich stelle mich mit meinen Kritteleien selbst bloß. Heribert Prantl hat das gleiche Buch gelesen, aber warum lese ich nicht, was er findet? „Lakonisch, urkomisch, selbstironisch und wie beiläufig und auf unschuldige Weise herrlich böse schreibt Andreas Maier in seinem neuen Roman über die Qual des Urlaubmachens und über die Last des Unterwegsseins.“
2021 – 190 Seiten

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