Hilmar Klute:
Was dann nachher so schön fliegt
Volker Winterberg ist 20 und hat gerade Abitur gemacht. Er kennt schon die angesagten Dichter seiner Zeit – man schreibt 1986 – und hat sich viele Zeilen aus ihren Werken gemerkt. (Ein Schüler, wie ihn sich jeder Deutschlehrer wünscht und den er fürchtet.) Jetzt aber leistet Volker Zivildienst, und das ist doch eine ganz andere Welt. Die Literatur mischt sich nur noch ein als Tagtraum, in dem sich Volker in die Treffen, ja, der Gruppe 47 hineinversetzt.
Jetzt stellte ich mir vor, wie wir alle drei zur Tagung der Gruppe 47 zum Wannsee fahren, mit diesem roten Polo am Ufer entlang, und dann kommen wir zu einer schon etwas dämmerigen Nachmittagsstunde am Casino an, wo die Lesungen stattfinden. Erika ist ja schon eine ziemliche Berühmtheit geworden, sie hat zwei Bände mit Erzählungen veröffentlicht und soll sogar eine Affäre mit Paul Celan gehabt haben. Aber das kann natürlich auch bloß eines der zahllosen Gerüchte sein, die in der Gruppe kursieren und von denen alle infiziert sind. Lars und ich gelten als literarische Amateure, poetische Kleinwarenhändler, die man mit einem gewissen Interesse beäugt, aber was sollte von uns schon zu erwarten sein. Als Hans Werner Richter uns anrollen sieht, stürzt er aus dem Casino, reißt die Beifahrerseite auf und hätte Lars beinahe vom Sitz gezerrt, weil er es kaum erwarten kann, Erika abzuküssen. »Willkommen, meine Liebe«, Richters Stimme überschlägt sich fast, so kenne ich den raubeinigen Hund ja gar nicht.
Lars begrüßt er mit einem festen Handschlag, mir knallt er kurz und kanaillenhaft seine Pranke auf die Schulter.
Erika und Lars sind Volkers Kollegen. Die Arbeit als Zivi im Heim der vor sich hin dementierenden Alten ist abscheulich, das reicht vom „Ausräumen“ bis zum Einsargen und den üblichen trivialen Verrichtungen. Notgedrungen bietet so ein Heim auch viel Stoff für hochkomische Erlebnisse. Hilmar Klute lässt Volker freies Spiel beim Erzählen, verpflichtet ihn aber auch, das bisschen Würde zu wahren, das die alten Menschen noch haben und brauchen. Volker verteidigt dieseWürde auch gegen das angestellte Pflegepersonal und das alles macht ihn sympathisch – und Hilmar Klute gleich mit.
Ich trat selbst nach einem halben Jahr und einem satten Überschuss an routinierter Abgebrühtheit jedes Mal mit einem unbezwingbaren Ekel ihr Zimmer. Frau Ehrmann war dünn wie ein Drahtgestell. Die Frau konnte kaum etwas essen, ihr Körper hatte sie längst vor die Tür gesetzt, aber ihr Herz schlug in gnadenloser Regelmäßigkeit. Wenn das Herz in einem zum Sadisten wird, dachte ich, dann ist das Herz dein Feind. Es lässt dich leiden, indem es dich nicht sterben lässt. Einmal sagte Frau Ehrmann den Satz: »Mein Mund, der ist zum Küssen da. « Es war ein Zitat, ein alter Schlager. Trotzdem hätte ich ich mich fast übergeben.
Neben dem Altenpflegen und als Mitglied der Gruppe 47 lebt Volker noch ein drittes Leben. Er gewinnt die Teilnahme an einem Treffen für Nachwuchsschriftsteller in West-Berlin. In Berlin ist er mehr Spielball als Akteur. Er hat zwar ein Gedicht mitgebracht, das er in Paris verfasst hat, aber wie soll er es und sich in den Literaturbetrieb einbringen?
Um halb acht Uhr morgens in diesem halbleeren Cafe gönnte ich mir das französischste Frühstück, das man sich vorstellen konnte. So mussten die Arbeitstage der Existenzialisten begonnen haben – ich war sicher, dass mir in den nächsten Minuten die fabelhaftesten Einfälle kommen würden. Der Kellner servierte Cognac und Kaffee, die Sachen kamen auf einem ovalen Holztablett, ich sagte wieder merci – viel mehr Französisch konnte ich nicht – und löste ein Stück Würfelzucker im Cognac auf, keine Ahnung, warum ich das tat. Dann drehte ich mir eine Zigarette und zauberte mir mit Tabak, Kaffee und Cognac meinen individuellen Proust-Moment zusammen. Und das war exakt der Augenblick, da ich ein Gedicht schreiben musste, das von dieser Zeit handelte, vom Leben in den Cafes und von den schlechten Dingen, die wir tun, wenn wir uns nicht mit Kunst beschäftigen. Es war früh am Morgen, zugegeben. Ich nahm einen Schluck gezuckerten Cognac. Aber es hätte genauso gut später Abend sein können und bitte: Wer, wenn nicht ich hätte es in der Hand, aus dem Morgen eine Nacht zu machen; wer, wenn nicht dem Dichter stünde das Recht zu, die Welt so zu verwandeln, dass sie zur Poesie wird? Ich holte meinen karierten Block aus der Tasche und schrieb: »Langstieliges Nachtleben -« das war schon mal gut, klasse Metapher, aus Cocktailglas und einem atmosphärisch nahestehenden, aber nicht semantisch verwandten Wort. Ich schrieb einfach und nach einer Viertelstunde stand das hier auf dem karierten Papier:
Langstieliges Nachtleben
heute schauen wir wieder tief
in die Longdrinkgläser
und fassen die Zeit am Henkel an.
Aus den Tageszeitungen am Stiel
wachsen die Kriege der Fremde
abgeschlaffte Sonnenschirme spiegeln
im Fenster sich wie ungern
alt gewordene Damen.
Stunden wälzen sich übers Trottoir
durchbrechen mit grausamer Langsamkeit
das Bollwerk aus Kaffee und Abendgespräch.
Hilmar Klute wechselt die Schauplätze Ruhrpott und Berlin von Kapitel zu Kapitel. Das verschafft auch dem Leser Abwechslung und entpflichtet den Autor von strenger Chronologie. Im Pott geht aus schlechten Gründen wenig voran, in Berlin aber juckt die Freiheit. 1986. Der Leser fühlt auch in Berlin mit Volker, findet grundsympathisch, wie dieser Thomas’ Annäherungen erduldet und wie er Katjas Abgebot nicht ausnutzt. Thomas und Katja sind seine Mentoren und Reiseleiter, führen und fahren ihn durch die Stadt und stützen ihn beim Treffen der Schriftsteller. Und Volker trifft auch gleich Heiner Müller – der ihm rät, alles was er bisher geschrieben hat, wegzuschmeißen -, Nicolas Born, Max von der Grün, Uwe Johnson, den ganzen Zirkel selbstverliebter und sich spinnefeinder bundesdeutscher Literaten in ihrer Hochzeit. Die Begründer der neuen deutschen Literatur bzw. die Neubegründer einer deutschen Literatur. Von Peter Rühmkorf stammt das Titelzitat.
»Du hast mich die ganze Zeit ziemlich geschickt ausgeknockt«, sagte Katja zu mir.»Wieso denn? «
»Ich wollte eigentlich, dass du Bernd ablöst und nicht, dass du mich von Bernd ablöst.« Zum Glück lachte Katja, es war also nicht ganz ernst gemeint; aber ein bisschen doch?
»Eigentlich müsste ich jetzt nach Hause fahren, ich glaube, ich stehe mit dem Bus im Halteverbot. « Sie hatte tatsächlich unsere Leute mit dem Bus nach Charlottenburg gekarrt?
»Du hast aber … «
»Hab ich, ja«, sagte sie und legte ihren Kopf eine Sekunde lang auf meine Schulter wie ein Kind, das zugibt, etwas ausgefressen zu haben. (…)
Fand ich Katja schön? In diesem Augenblick sah sie mädchenhaft albern aus, weil sie mit dem Schließen ihrer Bluse beschäftigt war und dabei die Augen zusammenkniff und die Lippen kräuselte; ich fühlte mich erleichtert, weil ich nicht von ihr überwältigt war. (…)
»Das war schön rasant«, sagte Katja. Ich war so kindisch froh über die sportliche Formulierung, dass ich aufstand und Katja auf den Mund küsste; das Leben sollte bitte leicht bleiben, so lautete die Abmachung dieses Jahrzehnts. Die großen Leidenschaften mussten handhabbar sein, Dramen und Liebeselend gehörten in die Tagebücher der Pubertätsjahre, das Herz lebte aus dem Koffer.
Auch hier geht Hilmar Klute so behutsam mit Volkers Zauder um, legt er ihm so gelungene Bonmots in Hirn und Mund, dass man das schon wegen des einfühlenden Stils gern liest, egal ob die Handlung wirklich relevant ist. Volker ist ja auch erst frühverbürgerlichte 20. Volkers Weisheiten in Klutes sanfter Ironie. Man möchte viel zitieren.
Der Club war klein und lag tief in einem Keller in Schöneberg; ich stand an der Theke, eine Flasche Beck’s in der Hand, und wusste nicht, warum man eigentlich tanzen sollte. Nie tanzte ich, und ich sah auch den anderen nicht gerne beim Tanzen zu. Mit Tanzenden konnte man nicht reden, man konnte nicht vernünftig sein mit ihnen – sie machten eben alles mit dem Körper, weil sie irgendetwas auszudrücken glaubten in ihren Bewegungen. Thomas tanzte wie ein Spürhund; er setzte einen Fuß vor den anderen beim Tanzen, so als ginge er auf Scherben; als müsse er aufpassen, dass er seine Ideen nicht zertritt. Der Tanz von durchgeistigten Menschen kam mir immer ein bisschen wie eine Schandtat vor. Wer Bücher liest, sollte nicht tanzen. (…)
Ich nickte und küsste sie auf den Mund. Ein geküsster Mensch bleibt verdutzter und irgendwie versiegelt zurück, wenn man ihn verlässt.
“Alle sahen jetzt, wie Gabi aufstand, unerträglich langsam erhob sie sich von ihrem Stuhl, die Tränen liefen ihr die Wangen herunter, und dass sie beim Weinen lächelte, gab diesem Abgang eine grausame Erotik.” Aber immer, wenn man meint, es geht nicht mehr, legt einem jemand die Hand auf die Schulter. »Dann müssen wir uns eben unterstellen«, sagte Katja und führte mich, den rechten Arm um meine Schulter gelegt, um das Karstadtgebäude herum Richtung Südstern, immer die lange kalte Hasenheide entlang.” Die liebevolle Besitzgeste ist häufig in Gebrauch: S. 37, 57, 73, 74, 105, 115, 116 (Kopf), 137, 166, 211, 242, 247, 250, 285 (Hüfte), 314, 334 (“schlug mir …”!), 356, 350 und vielleicht mehr. Ein Leitmotiv? Ein enges Feld. Thea Dorn vergleicht mit Thomas Mann.
P.S. Die empfindsamste Episode aber ist Volkers Radtour von Bochum über Herdecke nach Hagen. Allein ,”mich an der Sensationslosigkeit meiner Heimat zu weiden”.
Die Landschaft veränderte sich, große Eisenbahnviadukte überwölbten das immer abschüssiger werdende Flusstal, das Pathos der Industrialisierung hatte sich in die Natur eingeschrieben; alles sollte dem Fortschritt dienen, kein Baum durfte nur mehr Baum sein, kein Weg nutzlos ins Nirgendwo münden. Man hörte noch den Nachklang der ratternden Eisenbahnen, das Scheppern der Kohlewagen auf den Schienen hoch über den Bäumen. Stadt Land Dorf bildeten zusammen eine einzige Großküche für den Fortschritt, die Idee der feierlichen Ausbeutung von Natur und Rohstoff. Dazwischen die kleinen, seinerzeit ebenfalls zum Zweck der Krafterhaltung künstlich angelegten Seen, auf denen jetzt Ausflugsschiffe fuhren, die Schwalbe hießen oder Harkort. Die Schönheit war ein Abfallprodukt der Zweckmäßigkeit. Aber als ich in Herdecke ankam, fühlte ich mich auf einmal im Kleinstädtischen geborgen.
Er bestellt einen Eisbecher und später eine Currywurst und findet schließlich das Haus des verstorbenen Lyrikers Ernst Meister.
Mit der Gedichtzeile Meisters findet der Roman seine Erfüllung.
“Du darfst nur nicht Liebe verraten.” Ach Volker. Ach Hilmar.
2018 365 Seiten
Besprechung im Literarischen Quartett des ZDF
![]() 2 |
![]() |
1 Kommentar so far
Hinterlasse einen Kommentar
Ach, was will uns nur dieses Ach sagen???
Kommentar von Anonymous 18. September 2019 @ 12:02https://www.zeit.de/2000/03/200003.l-kleist_.xml