George Saunders: Lincoln im Bardo
Man kann den Boandlkramer um Aufschub bitten, aber irgendwann wird’s aus sein. When I’m dead and gone. Wolfgang Niedeken und Trude Herr sangen: Niemals geht man so ganz, es gibt Vorhölle und Vorhimmel (Limbus und Purgatorium) als der Unendlichkeit vorgelagerte Aufenthaltsräume fürs Nach-Leben. Die Buddhisten nennen diese Regionen „Bardo“ – eigentlich gibt es davon wie bei Dante mehrere –, in denen man vor der finalen Auslöschung noch ein wenig herumspuken darf. Man sieht, man wandelt auf schummrigem Gelände.
George Saunders lädt den Leser ins Bardo ein (hat nichts mit Bardolino zu tun) und setzt ihn dort dem Geplapper einiger Vortoten aus. Gesichert ist nichts. Den Hauptpart der Unterhaltungen auf dem Friedhof in Georgetown bestreiten hans vollman, roger bevins iii und ein paar reverends (Saunders lässt die Namen klein drucken), aber auch Leute wie du und ich reden mit, so die eher vulgären eddie und betsy baron, Ärzte, Geistliche, Soldaten, Nichtsnutze, bunt geschichtet.
Ah, Benjamin, Benjy! Weißte noch, dieser Sch-schnurrbart? Haben wir ihn nich mal bei McMurray festgehalten, dass der ihn kahlschert? (eddie baron) Ich hab mal mit Benjy rumgeferkelt wie Satan und Gar:… ha. (betsy baron) Ach, wer nich? Haha! Nee: soweit ich weiß, hab ich selber nie mit Benjy rumgeferkelt, aber is schon mal vorgekommen, dass so in dem allgemeinen, äh. Frohsinn bisschen sch-un klar war, wer) etzt grade mit wem rumferkelt wie der Sehsatan – (eddie baron)
Man erinnert sich an das Leben und kommentiert die aktuelle Situation, spekuliert auch über die Geschichte, 1862, Sezessionskrieg, Abraham Lincoln. Die Meinungen über den Präsidenten sind durchaus ambivalent; „Ihr habt die Zügel ergriffen und Euch zum Diktator aufgeschwungen und damit eine neue monolithische Form des Regierens eingerichtet, die die Rechte des Einzelnen übertrumpft. Eure Herrschaft sagt eine schreckliche Zeit voraus, in der all unsere Freiheiten zugunsten der Rechte des Monolithen verloren sein werden. Die Gründerväter wenden sich mit Grausen.“ (In: »Der Schurke Lincoln«, von R. B. Arnolds, Bericht von Darrel Cumberland) Der Raum des Bardo ist liquide, die Personen materialisieren sich formfrei und können sich anderen Körpern einfügen, auch durch sie hindurchgehen. Die Zeit der toten Individuen ist auch im Bardo begrenzt, wenn sie ihre Illusionen verloren haben, endlich ihr Totsein akzeptieren und loslassen können, entmaterialisieren sie sich in einer „Materienlichtblüte“, dass es nur so knallt und furzt. Die Handlung soll sich an einem Tag, einer Nacht abspielen, aber das ist egal.
Seine Gestalt (wie es manchmal mit denjenigen passiert, die kurz vorm Weggang stehen) flackerte jetzt zwischen den verschiedenen Formen, die er an jenem vormaligen Ort eingenommen hatte: purpurrotes Neugeborenes, schreiender nackter Säugling, Kleinkind mit Puddinggesicht, fiebernder Junge auf dem Krankenbett. (hans vollman) Dann, ohne seine Körpergröße im Geringsten zu verändern (also immer noch in Kindergröße), nahm er seine verschiedenen zukünftigen Gestalten an (die er leider nicht mehr er reicht hatte): nervöser junger Mann im Hochzeitsgehrock; nackter Gatte, von der gerade erlebten Lust noch feucht zwischen den Beinen; junger Vater, aus dem Bett springend, um eine Kerze anzuzünden, weil ein Kind geschrien hat; trauernder Witwer mit weißem Haar; gebeugter alter Knabe mit Ohrtrompete, breitbeinig auf einem Baumstumpf, nach Fliegen schlagend. (roger bevins iii)
Als dieser Herr durch mich hindurchging, spürte ich eine Seelenverwandtschaft.
Und beschloss, ein bisschen zu bleiben.
Da drinnen.
Und so bewegten wir uns nun gemeinsam voran, ich richtete mich Schritt für Schritt nach ihm. Was nicht leicht war. Er hatte sehr lange Beine. Ich streckte meine Beine aus, damit sie sich seinen anpassten, streckte mich komplett aus, und wir waren gleich groß, und draußen, auf dem Rücken eines Pferdes, und (verzeiht mir) die Aufregung, wieder auf einem Pferd zu reiten, war zu groß, und ich – ich blieb. Da drinnen. War das aufregend! Zu tun, was ich wollte. (thomas havens)
Zwischen die Gespräche setzt Saunders Zitate von Zeitzeugen, Texte aus Sachbüchern und zeitgenössischen Briefwechseln. Saunders nennt die Quelle, ich kann nicht prüfen, was davon authentisch ist. Auch Abraham Lincoln erscheint in dieser Nacht auf dem Friedhof, deshalb hat Saunders den Termin gewählt. Lincoln im Titel, das ist auch der Leserfang. Lincolns Sohn Willie ist mit 11 Jahren gestorben, an Tuberkulose, der Vater ist trostlos. “
Doch da die Tür nur angelehnt war und die Kranken-Gestalt seines jungen drinnen lag, konnte er offenbar nicht widerstehen, ein letztes Mal hineinzugehen. (reverend everly thomas) Wiir sprangen vom Dach hinunter und folgten ihm hinein. (hans vollman) Die Nähe der Kranken-Gestalt schien Mr. Lincoln aus einer früheren Entschlossenheit zu reißen, und er zog die Kiste aus ihrem Wandfach und stellte sie auf den Boden. (reverend everly thomas) Vie es aussah, wollte er nicht weiter gehen (roeger bevins iii) E:r hatte ursprünglich nicht einmal so weit gehen wollen (reverend everly thomas) Nur dass er sich dann hinkniete. (hans vollman) Und als er da kniete, konnte er offenbar nicht widerstehen, üe Kiste ein letztes Mal zu öffnen. (reverend everly thomas) Er öffnete sie; sah hinein; seufzte. (roger bevins iii) Griff hinein und strich zärtlich die Stirnlocke zurecht. (hans vollman) Veränderte die Stellung der blassen gekreuzten Hände ein wenig. (roger bevins iii) Auf dem Dach schrie der Knabe auf. (hans vollman)
Er nimmt seinen Sohn aus der “Kranken-Kiste“ – dem Sarg – und drückt ihn, um Abschied zu nehmen. Auch für dieses Tun gibt es Zeitungsberichte? Die Vortoten mischen sich ein. Fort?, schrie der Junge auf. Wir hatten ihn jetzt befreit. Er schob sich aus der Wand, taumelte ein paar Schritt weit und setzte sich auf den Boden. (reverend everly thomas)
Auch Willie spricht:
Ich bin Willie Ich bin Willie Ich bin sogar jetzt noch Bin nicht Willie
Nicht willie aber irgendwie Weniger
Mehr Alles ist Jetzt erlaubt Alles ist mir jetzt erlaubt
Alles ist Licht Licht Licht mir jetzt erlaubt
Aus dem Bett aufstehen, zum Empfang runtergehen, erlaubt (…)
Aus dem Fenster fliegen, erlaubt, erlaubt (die ganze lachende Gesellschaft des Empfangs steht glücklich hinter mir, drängt mich, ja, flieg los) (und sagt, oh, es geht ihm schon viel besser, er wirkt überhaupt nicht krank!)!
Alles, was der frühere Kerl (willie) hatte, muss jetzt zurückgegeben werden (wird mit Freuden zurückgegeben),
denn es war nie meins (nie seins) und wird deshalb auch nicht weggenommen, überhaupt nicht!
Da ich (der ich willies war, doch nicht mehr (nur) willies bin) nun zurückkehre
Zu solcher Schönheit.
willie lincoln
Das Buch zu lesen ist leicht und doch ungewöhnlich. Es fügen sich viele Stimmen, oft nur wenige auf einer Seite. Man liest schnell drüber hinweg, versucht Relevantes herauszufiltern, braucht dazu Zeit und hat doch bald viele Seiten hinter sich. “Es sieht nicht wirklich aus wie ein Roman.” (Thea Dorn) Die Geister ergeben keinen Chor, obwohl sie gesellschaftliche Empfindungen abbilden, aber die Stimmen begleiten nicht, sie sind das Sprechen, eher ein Drehbuch als eine Erzählung. Als “musikalische Literatur” empfindet es Thea Dorn. Auch als Mosaik lässt sich das Buch nicht lesen, ein Mosaik lebt von der Gleichzeitigkeit der Betrachtung, für den Roman braucht man Stunden oder mehr, vieles vom Gelesenen hat man bald wieder vergessen. Was natürlich auch nicht schlimm ist. Möglich, dass ein zweites Lesen manches zurechtrückt, Überblicke verschafft, das Umgehen mit der Methode erleichtert. Aber, so Andreas Isenschmid mehrdeutig: “Ein solches Buch wird man so bald nicht wieder lesen.“ (ZEIT) Ulrich Baron (SZ) hat lange kein Buch mehr gelesen, das die „Schönheit der Welt“ derart feiert wie Georg Saunders‘ erster Roman. Laut Klappentext mündet der vielstimmige Chor, “in die eine große Frage (…): Warum lieben wir überhaupt, wenn wir doch wissen, dass alles zu Ende gehen muss?” In meinem Buch habe ich weder die Frage noch eine Antwort darauf gefunden. Das Buch sei ein Wunder, hört man, doch das Spirituelle ist nicht so meine Sache.
2017 450 Seiten
* Die Zitate geben nur den Text wieder, das Seitenlayout ist nicht berücksichtigt. (siehe Bild/ZDF)
Gespräch mit Hubert Winkels in der 3Sat-Kulturzeit
Diskussion im Literarischen Quartett des ZDF
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