Willy Vlautin: Ein feiner Typ
Er betrachtete den Sternenhimmel über sich und dachte an seine Töchter und dann an Horace, und er wünschte, Little Lana wäre da, um ihm Gesellschaft zu leisten. Er schloss die Augen und döste noch einmal weg. Das nächste Mal erwachte er bei Sonnenaufgang, nahm eine halbe Valium, wartete darauf, dass sie wirkte, und arbeitete sich dann langsam aus dem Schlafsack. Er machte die Streckübungen, zu denen er in der Lage war, und rieb sich die untere Rückenpartie mit Wärmebalsam ein. Er packte sein Schlafzeug zusammen, aß ein Sandwich mit Erdnussbutter und Gelee und wechselte die Cowboystiefel gegen ein neues Paar Laufschuhe, die seinem Rücken besser taten. Die Pferde standen ruhig beieinander. Er zog bei beiden die Sattelgurte fest und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu Pedro.
Mr. Reese hat in der Bergwelt Nevadas eine Ranch mit Schafen, Pferden, Eseln, Hühnern, Hunden. Er ist schon recht betagt, sein Rücken schmerzt, die Tiere haben kein Nachsehen und auch die Maschinen müssen repariert und der Brunnen vertieft werden. Mrs. Reese kocht ihm das Essen, ist ihm aber bei der Arbeit keine Hilfe, die beiden Töchter sind aus dem Haus. Die Reeses haben einen Jungen aufgenommen, den seine Mutter in für sie schweren Zeiten abgeschoben hat, den Halb-Paiuten, halb Iren Horace. Die Reeses lieben ihn wie einen eigenen Sohn, Horace erweist sich auf der Ranch als geschickt und willig, er könnte sie übernehmen.
Mr. Reese ist ein feiner Typ. Er ist abgeklärt, hat mit seiner Zukunft abgeschlossen, aber er kümmert sich rührend um Horace.
Und wer weiß schon, was daraus am Ende wird? Eine Ranch zu verwalten, ist harte Arbeit, vor allem, wenn man allein ist. Und viel Geld ist auch nicht rauszuholen. Ich weiß, du bist schüchtern uns gegenüber und es fällt dir schwer, Geschenke anzunehmen. Und ich weiß, dass es für dich nicht einfach war, dich bei uns wohlzufühlen. Uns zu vertrauen. Aber wir vertrauen dir. Was ich versuche zu sagen, ist, dass Mrs. Reese und ich dich als unseren Sohn betrachten und dass wir möchten, dass du die Ranch übernimmst, wenn du so weit bist. «
Horace sah den Alten an, brachte aber kein Wort heraus. Tränen stiegen ihm in die Augen. Er sah aus dem Fenster auf die salbeibewachsenen Hügel und dahinter in der Ferne die Berge. Sie fuhren etliche Meilen, ehe er etwas sagte. »Ich glaube, noch nie hat jemand gemeint, ich könnte eine Ranch führen«, sagte er schließlich. »Aber dass Sie und Mrs. Reese mir das zutrauen, das ist das Schönste, was ich je gehört habe. Ich werde niemals vergessen, dass Sie das gesagt haben. Wirklich nicht. Sie und Mrs. Reese, Sie haben mich gerettet. Ich weiß das. « »Na ja, und du hast uns auch gerettet«, sagte Mr. Reese. »Und du hast Mrs. Reese geholfen. Sie war ganz außer sich, als unsere Töchter weggegangen sind. Du weißt, wie sie war, wie sie sein kann. Du hast ihr geholfen. « . (…) Der Alte fuhr langsamer, bis der Truck nur noch dahinkroch, und sah wieder zu dem jungen rüber. »Ich wollte dich nicht verärgern, Horace. Es tut mir leid – wirklich. Ich finde bloß, dass ich dir diese Fragen stellen muss, weil du mein Freund bist, und das machen Freunde: Sie passen aufeinander auf.
Horace ist auch ein feiner Typ, doch er kann sich nicht damit abfinden, dass er abgeschoben wurde. Er fühlt sich nutzlos, sucht nach seiner Identität, seinem Wert im Leben. Er meint sich beweisen zu können, wenn er Boxer wird. Das gelingt. Vorübergehend.
Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich nicht als Außenseiter oder Versager. Er fühlte sich nicht wie ein Sonderling, er fühlte sich nicht ausgestoßen oder mangelhaft. Endlich, nach all der Arbeit und all dem Herzschmerz, konnte er Horace Hopper loswerden. Er konnte ihn abschütteln und im Nichts verschwinden lassen. Er hielt den Pokal in Händen und spürte den Respekt der Menschen im Raum. Er hatte gewonnen.
(…) Horace lehnte sich erleichtert und voller Stolz gegen die Wand und schloss die Augen.
Willy Vlautin erzählt in ruhigen Worten. Mr. Reese bleibt bei Frau nd Ranch, Horace geht nach Tucson und Las Vegas und nach Mexico. Er will sich Hector Hidalgo nennen lassen, findet einen Trainer, gewinnt ein paar Kämpfe, von denen Vlautin eindringlich, aber auch erfreulich knapp erzählt. Mehr als die Schläge interessiert ihn, wie Horace mit den Einschlägen umgeht, was sie aus ihm machen, ob sie ihm die so heftig verlangte Selbstbestätigung vermitteln. Horace muss sich in der Box-Welt ziemlich auf sich allein gestellt durchbringen, durch die Kämpfe wird er immer hinfälliger, der ganze Körper schmerzt und ist verquollen, die Blessuren machen ihn steif und er muss sich vom Bett rollen. Und gleicht hierin dem alten Mr. Reese, den sein Rücken mehr und mehr erledigt.
Vlautin rückt nicht ab vom traurigen Schicksal der feinen Typen, er wird mit seinen Figuren immer sentimentaler. Als Leser mag ich da nicht mitweinen, werde eher bös auf das selbstgefällige Fallenlassen von Horace. Soll der Roman eine Parabel sein auf die „Geworfenheit“ des einfachen Menschen im raubtierhaften US-System? „Dieses zutiefst amerikanische Verlorenheitsgefühl, das kein Urvertrauen kennt, zieht sich wie ein roter Faden durch Vlautins Romane und Songs und macht seine Figuren zu Archetypen weit jenseits der Tagespolitik .“ (Willy Vlautin ist auch Musiker und hat einen Song zu „Don´t skip out on me“ – so der Originaltitel – Lass mich nicht im Stich – gemacht.)
Andrian Kreye (SZ) vergleicht Vlautins Texte in hrer Authentizität mit denen von Bruce Springsteen, doch es fehlt die Musik, die das Gefühl begleitet und der Roman hat den Nachteil gegenüber dem Song, dass er die Emotionalität streckt, dass er sich in anschwellender Wiederholung verläuft. „Schlicht und ergreifend“, heißt es in der „Buchkultur“. Der Tenor vieler Kritiken: „Herzzerreißend, aber ohne Kitsch“. Der verlorene Sohn – „Von der Gewissheit, dass am Ende des Tunnels – möge er ihnen auch bisweilen unendlich erscheinen – das Licht der Erlösung auf seine Helden wartet.“ (Peter Henning, SPIEGEL). „Willy Vlautin ist kein raffinierter, kein formal avancierter oder ambitionierter Erzähler. Aber: Wenn Barmherzigkeit eine literarische Kategorie ist, dann ist Vlautin einer ihrer lesenswerten Verfechter.“ (Christoph Schröder, ZEIT). Ein bisschen viel Seelengüte, ein bisschen viel Misericordia, aber das braucht’s zum Überleben und zum Sterben in den USA.
Will Vlautin chats about his new novel and coinciding album – New Day Northwest (englisch – incl. Song)
Willy Vlautin scheint auch ein feiner Typ zu sein.
2018 330 Seiten
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Seelengüte und Misericordia zum Überleben und Sterben braucht’s nicht nur in den USA
Kommentar von Anonymous 1. Oktober 2019 @ 11:09