Joseph Roth: Das Spinnennetz
Der „Hitler-Putsch“, das war 1923 im November. Im Oktober und November 1923 erschien in der Wiener Arbeiter-Zeitung ein Fortsetzungsroman von Joseph Roth. Roth war 29, sein erster Roman blieb ohne Ende.
Im Mittelpunkt steht Theodor Lohse. Aber der Roman heißt „Das Spinnennetz“, denn Lohse vernetzt sich geschickt und skrupellos und fügt sich in rechtsnationale Kreise im Umfeld von General Ludendorff ein. Als WK1-Leutnant hat er keine Orientierung gefunden als den eigenen Wunsch aufzusteigen, beachtet zu werden, zur Spinne zu werden. Er mordet, intrigiert, dient sich an, sucht Verbündete. Ein geheimes Netz muss natürlich fragil bleiben, keinem ist zu trauen, auch Benjamin Lenz nicht, der als Doppelagent agiert, aber über Wissen und Geld verfügt. Immer wieder gerät Lohse an Juden und fühlt sich von ihnen gedemütigt. Schließlich heiratet er Elsa von Schlieffen, adelig, national, antisemitisch und in der Tradition erzogen, dass sie zu einem Mann „aufschauen“ muss. Man kennt die Typen aus vielen Romanen, Filmen und Geschichtsbüchern. Das besondere an Roths Roman sind seine Entstehungszeit und der Schreibstil.
Theodor Lohse:
Manchmal überfiel ihn sein eigener Stolz wie eine fremde Gewalt, und er fürchtete seine Wünsche, die ihn gefangenhielten. Aber sooft er durch die Straßen ging, hörte er Millionen fremder Stimmen, flimmerten Millionen Buntheiten vor seinen Augen, die Schätze der Welt klangen und leuchteten. Musik wehte aus offenen Fenstern, süßer Duft von schreitenden Frauen, Stolz und Gewalt von sicheren Männern. Sooft er durch das Brandenburger Tor ging, träumte er den alten, verlorenen Traum vom siegreichen Einzug auf schneeweißem Roß, als berittener Hauptmann an der Spitze seiner Kompanie, von Tausenden Frauen beachtet, vielleicht von manchen geküßt, von Fahnen umflattert und Jubel umbraust. Diesen Traum hatte er in sich getragen und liebevoll genährt vom ersten Augenblick seines freiwilligen Eintritts in die Kaserne, durch die Entbehrungen und Lebensnöte des Krieges. Die schmerzende Beschimpfung des Wachtmeisters auf der Exerzierwiese hatte dieser Traum gelindert, den Hunger auf tagelangem Marsch, das brennende Weh in den Knien, den Arrest in dunkler Zelle, das betäubende, qualvolle Weiß der verschneiten Wachtpostennacht, den stechenden Frost in den Zehen.
Der Traum drängte zum Ausbruch wie eine Krankheit, die lange unsichtbar in Gelenken, Nerven, Muskeln lebt und alle Blutgefäße des Körpers erfüllt, der man nicht entrinnen kann, es sei denn, man entrinne sich selbst.
Die Zeiten:
In den Parlamenten redeten oberflächliche Menschen. Minister gaben sich ihren Beamten preis und waren ihre Gefangene. Staatsanwälte exerzierten in Sturmtrupps. Richter sprengten Versammlungen. Nationale Wanderredner hausierten mit tönenden Phrasen. Listige Juden zahlten Geld. Arme Juden erlitten Prügel. Geistliche predigten Mord. Priester schwangen Knüppel. Katholiken waren verdächtig. Parteien verloren Anhänger. Fremde Sprachen waren verhaßt.
Der Hass:
Noch brannte der Name Theodor Lohse nicht in den Zeitungen. Er hätte gern ein Märtyrer seines Ruhmes werden, der Volkstümlichkeit des Namens sein Leben opfern mögen. Es schmerzte ihn der Zwang zur Namenlosigkeit, unter dem er alle Taten verrichten mußte. Und je geringer die Kraft seiner Überzeugung wurde, desto mehr erweiterte er die Gebiete seines vorgetäuschten Hasses: Nun sprach er nicht nur gegen Arbeiter und Juden und Franzosen, sondern auch gegen den Katholizismus, die Römlinge. Er überfiel den Saal, in dem der katholische Schriftsteller Lambrecht sprach. Er saß in der ersten Reihe. An ihm vorbei rauschten Sätze einer fremden, unverständlichen Sprache. Aber ein Wort fiel nieder, das Wort »Talmud«.
Die Arbeiter:
Die Arbeiter gingen mitten im grauen Regen. Grau waren sie wie er. Unendlich waren sie wie er. Aus grauen Quartieren kamen sie wie er aus grauen Wolken. Sie waren wie ein Herbstregen. Unaufhörlich, unerbittlich, leise. Wehmut verbreiteten sie. Sie kamen, die Bäcker mit den blutlosen Gesichtern, die wie aus Teig waren, ohne Muskel und Kraft; die Menschen von der Drehbank mit den harten Händen und den schiefen Schultern; die Glasbläser, die nicht älter werden sollten als dreißig Jahre: kostbarer, tödlicher, glitzernder Glasstaub stach in ihren Lungen. Es kamen die Bürstenbinder mit den tiefen Augenhöhlen, den Staub der Borsten und Haare in den Poren der Haut. Es kamen die jungen Arbeiterinnen, von der Arbeit gezeichnet, mit jungen Bewegungen, verbrauchten Gesichtern. Es gingen die Tischler. Sie rochen nach Holz und Hobelspänen. Und die riesenhaften Möbelpacker, groß und überwältigend wie eichene Schränke. Es kamen die schweren Arbeiter aus den Brauereien, sie stampften wie große Baumstämme, die gehen gelernt haben; die Graveure kamen, in den Falten ihrer Gesichter den kaum sichtbaren Metallstaub; die Zeitungssetzer, die übernächtigten, die zehn Jahre und länger nicht eine ganze Nacht geschlafen hatten; sie haben gerötete Augen und blasse Wangen und sind nicht vertraut mit dem Licht des Tages.
Die Straßenkämpfe:
Der Zug der Arbeiter singt die Internationale. Sie singen falsch, die Arbeiter, aus vertrockneten Kehlen. Sie singen falsch, aber mit rührender Kraft. Es singt eine Kraft, die weint, eine schluchzende Gewalt.
Anders singen die jungen Studenten. Aus gepflegten Kehlen tönende Gesänge, volle runde Klänge, siegreiche Lieder, blutige Lieder, satte Lieder, ohne Bruch, ohne Qual, kein Schluchzen ist in ihren Kehlen, nur Jubel, nur Jubel.
Ein Schuß knallt. (…)
Den Gewehrkolben stößt er gegen Leichen. Er schmettert die Waffe gegen tote Schädel. Sie bersten. Verwundete tritt er mit den Absätzen. Er tritt die Gesichter, die Bäuche, die schlaff hängenden Hände. Er nimmt Rache an den Toten, sie wollen nicht sterben.
Es wurde Abend. Feuchte Finsternis hockte in den Straßen. Es ist ein Sieg der Ordnung.
Es war ein Sieg der Ordnung.
Der Sieg:
Wie ein lächelnder Mörder ging der Frühling durch Deutschland. Wer in den Baracken nicht starb, den Foltern entging, von den Kugeln der Nationalen Bürgerliga nicht getroffen wurde und nicht von den Knüppeln des Hakenkreuzes, wen der Hunger nicht zu Hause traf, wen die Spitzel vergessen hatten – der starb unterwegs, und die schwarzen, großen Rabenschwärme kreisten über seinem Leichnam.
Das ist geschriebener Expressionismus. Stakkato-Sätze. Wortblitze. Stilversuche. Ein Text für die schnell gelesene Zeitung, ein Text für die rasend empfundene Zeit. Der Roman hat seine Aktualität nur teilweise verloren. Heute sieht man den Typ “Lohse” als verblendete Witzfigur, erklärt ihn mit dem Krieg und den Wirren der Republik, die keine “Ordnung” für sich finden konnte. Der Rahmen des Geschehens ist aktuell wie je, denn auch hinter den heutigen “Witzfiguren” stehen Netzwerke, wie sie speichelnd Uwe Tellkamp in seinem “Eisvogel” beschreibt: rechte Geheimorganisation mit terroristischen Visionen. Großes Geld, das im Hintergrund die Meute anstachelt. Natürlich ist der „Schoß“ fruchtbar.
Jospeh Roths „Das Spinnennetz“ von 1923 erschien erst 1967 (!) als Buch. 1989 machte Bernhard Wicki aus dem kurzen Roman einen über dreistündigen Film (mit Ulrich Mühe als Theodor Lohse und Klaus Maria Brandauer als Benjamin Lenz).
1923 125 Seiten (TaBu)
Romantext bei Projekt-Gutenberg
Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar