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Saša Stanišić: Herkunft
Also doch, Herkunft, wie immer, dachte ich und legte los: Komplexe Frage! Zuerst müsse geklärt werden, worauf das Woher ziele. Auf die geografische Lage des Hügels, auf dem der Kreißsaal sich befand? Auf die Landesgrenzen des Staates zum Zeitpunkt der letzten Wehe? Provenienz der Eltern? Gene, Ahnen, Dialekt? Wie man es dreht, Herkunft bleibt doch ein Konstrukt!
Autofiktion. So heißt das jetzt und ist der Hype der Stunde. Das Fernsehn hat’s mit der Dokufiktion vorgemacht. Die dokumentarischen Szenen – gerne in schwarzweiß – fließen in die Spielfiguren hinein, der Protagonist ist zertifiziert, auch wenn er das Produkt des Autors ist, die Realität gewinnt Farbe und Gefühl.
Saša Stanišić’ Saša Stanišić gibt’s wirklich. Er ist 1992 mit seinen Eltern von Višegrad/Bosnien nach Heidelberg/Deutschland geflohen, hat 26000 Tweets abgesetzt und soeben den Buchpreis 2019 des Börsenvereins des Deustchen Buchhandels gewonnen.
Das ausgezeichnete Buch „Herkunft“ ist damit noch „verkäuflicher“ geworden, obwohl es sich nicht Roman nennt. Saša Stanišić gibt es wirklich, er hat es in Deutschland bis zur Schilddrüsenentzündung gebracht. Disease-Authentifikation. Das Buch ist eins von Herkunft und Ankunft, die dazwischenliegende Flucht ist der Weg von gewachsenem und verfügtem Familienleben zur Ungewissheit darüber, was kommt. Stanišić sagt, er habe Glück ghabt, dem Krieg zu entkommen und er hat sich sein weiteres Glück erarbeitet, seinen deutschsprachigen Literaturvordergrund“ (Mely Kiyak, ZEIT)
Im Krieg ist nicht nur Jugoslawien zerplatzt, sondern auch, wie vieles andere, die Stanišić-Familie. „Mutter muss mit fünfunddreißig ihr Leben in Višegrad aufgeben.“ Die Eltern erhielten in Deutschland keine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis, sie gingen zuerst wieder zurück und 1998 in die USA, andere Verwandte können da und dort in Europa besucht werden, Großmutter Kristina blieb in Bosnien und vergaß. Saša machte in Heidelberg Abitur, studierte und durfte deshalb bleiben und ist heute – assimiliert? Heimisch?
Saša Stanišić mixt in kurzen Kapiteln Geschichten, Anekdoten und Reflexionen der Ankunft mit solchen der Herkunft, wobei die Herkunft zeitlich und politisch-geografisch gesplittet ist in die Erinnerung an Kindheit, Jugend und Familie im damaligen Jugoslawien und Nach-Forschungen im Nachkriegs-Bosnien, das „Heimat“ nur noch in vermitteltem (?) Sinn ist. Das alte Jugoslawien, das war die Zugehörigkeit, das waren die Partisanenlieder, das war die Mutter als Marxismus-Dozentin, das war Tito. Sein Bild in der Stube. Das war die Zeit, als der serbische Vater die bosnische Mutter heiraten konnte, die Zeit vor den verwilderten Nationalismen. Das waren dann aber auch die Schüsse und die Angst der Mutter wegen ihres „muslimischen“ Vornamens, die Gräuel, die Peter Handke* in Višegrad nicht finden wollte.
Der Kitt der multiethnischen Idee hielt dem zersetzenden Potenzial der Nationalismen nicht länger stand. Tito als die wichtigste Erzählstimme des jugoslawischen Einheitsplots war nicht zu ersetzen. Die neuen Stimmen volkstümelten verlogen und verroht. Ihre Manifeste lesen sich wie Anleitungen zum Völkerhass. Sie wurden von Intellektuellen unterstützt, medial verbreitet und so oft wiederholt, bis man ihnen, Mitte der Achtziger, nirgends mehr entkam. Von ihnen hatte Vater gelesen, bevor er mit Mutter und mit der Schlange tanzte.
Als Überlebende ist noch die Großmutter da, die auch für den erwachsenen Saša noch ein – entschlüpfender – Haltepunkt ist. „Die Großmutter und der Reigen“, Großmutter isst einen Pfirsich und gibt dem Totengräber nichts ab“, „Großmutter und die Zahnbürste“, undund. Über Demente zu erzählen, ist immer lustig, auch wenn es so mitfühlend geschieht. Saša ist 14, als er nach Heidelberg „geflohen kam“ (Mely Kiyak), erst in Deutschland erreichte er das Alter, selbstständig zu handeln und sich darüber klar zu werden. Die Kapitel der Ankunft sind für mich die interessanteren. Nicht so sehr die Jugendstreiche, die gehören dazu, sondern die disparaten Gruppen und Milieus, in die man sich hineinfinden und in denen man sich zurechtfinden muss. Das ist für Leute, die neu im Land angekommen sind, mühsamer, als es für „Einheimische“ schon ist. Die multiethnische Clique an der ARAL bietet Unterschlupf, weil niemand dabei ist, der einen dissen könnte, die „Internationale Gesamtschule“ ist auf Flüchtlinge eingestellt, man kann sich emporarbeiten, wenn man so neugierig und beflissen ist, wie Saša. (Er darf sich hier sogar als Dichter erproben. “Mein Pseudonym war: Stan Bosni.” – Gespräch mit dem Deutschlehrer von Saša Stanišić, Werner Nikisch) „Ich las. Lernte. Spielte Bach auf der Gitarre und übte Headbangen, und manchmal schloss ich einfach lange die Augen, um mich zu erfinden.” Die Eltern können einem kaum Hilfe sein, im Gegenteil, eher muss hier der Schüler zum Vermittler der Kulturen werden. Das ist immer bei Geflohenen oder Zugewanderten der Fall, Saša Stanišić kann das reflektieren.
1998 mussten meine Eltern das Land verlassen. Heidelberg ist bis heute eine ihrer Lieblingsstädte in der Vorstellung dessen, was sie für sie hätte sein können, wenn ihnen ein normales Leben möglich gewesen wäre. Die Welt ist voller JugoslawenFragmente wie sie oder ich es sind. Die Kinder der Geflüchteten haben längst eigene Kinder, die Schweden sind oder Neuseeländer oder Türken. Ich bin ein egoistisches Fragment. Ich habe mich mehr um mich selbst gekümmert als um Familie und ihren Zusammenhalt.
Literatur ist ein schwacher Kitt. Das merke ich auch bei diesem Text. Ich beschwöre das Heile und überbrücke das Kaputte, beschreibe das Leben vor und nach der Erschütterung, und in Wirklichkeit vergesse ich Geburtstage und nehme Einladungen zu Hochzeiten nicht wahr. Ich muss nachdenken, um mich zu erinnern, wie die Kinder meiner Cousinen heißen. An den Gräbern meiner. Großeltern mütterlicherseits habe ich noch kein einziges Mal eine Kerze angezündet.
Ich schiebe nicht dem Krieg und der Entfernung die Schuld zu für meine Entfremdung von meiner Familie. Ich schiebe Geschichten als Übersprungshandlungen zwischen uns.
Dass ich diese Geschichten überhaupt schreiben kann und schreiben will, verdanke ich nicht Grenzen, sondern ihrer Durchlässigkeit, verdanke ich Menschen, die sich nicht abgeschottet, sondern zugehört haben.
Ein guter Gastgeber ist auch ein guter Gast, besagt ein bosnisches Sprichwort. Die Eltern von Rahim waren gute Gastgeber, und ich machte mir eine Million Gedanken, ob es gutgehen könnte, sie als Gäste bei uns zu haben. Wie sich meine Eltern und Großeltern fühlen würden und wie ich. Ich wollte, dass uns als Familie etwas gelingt, wenn auch nur etwas so Einfaches wie ein Abendessen mit neuen Bekannten.
Ich wünschte es mir speziell für meine Mutter, die in Jugoslawien so gern Gastgeberin gewesen war.
Das nächste Mal, als ich wieder bei ihnen aß – es gab etwas, das aus nur drei Zutaten bestand, die ich alle nicht kannte, dabei war es ein fränkisches und kein arabisches Gericht -, sprach ich die Einladung aus: Kommen Sie auch einmal zu uns? (…) Ich habe meinen Eltern nicht von der Einladung erzählt. Ich traute mich auch nicht, sie noch einmal gegenüber Rahims Eltern auszusprechen. Sie haben mich natürlich nicht daran erinnert.
Saša Stanišić’ Methode des Infragestellens ist ambivalent. In seinem oben angehefteten Tweet zu Fertigstellung des Buchs schreibt er: „Ich schrieb und recherchierte und dachte nach ziemlich genau zwei Jahre. Das Buch heißt HERKUNFT. Es hat 335 Seiten und 467.757 Zeichen. Es ist ein Selbstporträt mit Ahnen. Und ein Scheitern des Selbstportraits.“ Öffentlich gemachte Selbstbescheidung ist immer auch fishing for compliments. Der Dichter will wahrhaftig sein, weiß aber zu wenig, um dafür garantieren zu können. Der Autor darf suchend irren. Autofiktion. Der Leser ist zur Mitsuche eingeladen, er darf mitirren. So soll es sein, es ist aber eben auch Methode. „Wer klug ist, weiß ohnehin, dass Identität kein Kleidungsstück ist, in das man einmal hinein- und nie wieder hinausschlüpft. Sondern vielmehr eine komplexe Mixtur aus Herkunftsmythen, Erzählungen, Erfindungen, Sehnsüchten, Begierden, Ängsten und Widersprüchen.“ (Ulrich Rüdenauer, SWR2)
Nach dem „Epilog“ folgt noch ein Text-Adventure, das diese Methode augreift. „Der Drachenhort“, in den Hauptrollen Großmutter, der auf dem Cover abgebildete Drache und ich, der Leser. Schön, ein weiteres Spiel mit der Fiktion und der Fantasie, lesenswert eher für Fans von Rollenspielen. »Nationalismus und Separatismus erschüttern Europa. Was tun? Vielleicht erst mal neue Heimatschriftsteller wie Saša Stanišić lesen.« Ein Leseappell von Karin Janker (SZ) auf dem Schutzumschlag.
2019 370 Seiten
Leseprobe beim Luchterhand-Verlag
Saša Stanišić spricht über sein Buch „Herkunft“
Saša Stanišić liest aus „Herkunft“
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* Die Süddeutsche Zeitung hat Peter Handkes Reisebericht
„Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“, der 1996 in der SZ erschienen ist, online gestellt.
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