Nachrichten vom Höllenhund


Slimani
7. Dezember 2019, 17:48
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Leïla Slimani: All das zu verlieren

slimanialldasSie hat einen Mann, den Chirurgen Richard, den Sohn Lucian, 8 und nicht anders als andere Kinder, eine gut eingerichtete Wohnung in zentraler Lage von Paris , später ein Haus am Meer, sie arbeitet bei einer Zeitung. Adèle ist 36, weshalb reicht ihr das alles nicht? Weshalb riskiert sie, „all das zu verlieren“?

Ja, es muss im Leben mehr als alles geben. Die „Unruhe des Herzens“ ergriff Jennie, Adèle ist ergriffen von der Unruhe des Körpers, wobei beides nicht zu trennen ist. Sie treibt es weg von Mann und Kind und alledem, ohne das sie – auch – nicht leben kann.

Das Kind im Arm, steht sie auf und geht in die Küche. Sie ist euphorisch, wie Betrüger es sind, die man noch nicht entlarvt hat. Voller Dankbarkeit, geliebt zu werden, und starr vor Angst bei der Vorstellung, all das zu verlieren. Nichts erscheint ihr im Moment kostbarer als das beruhigende Brummen des Rasierapparates am Ende des Flurs. Um nichts in der Welt würde sie die morgendliche Umarmung ihres Sohnes aufs Spiel setzen, diese Zärtlichkeit, dieses Bedürfnis, das er nach ihr hat und das niemand sonst je haben wird. Sie bereitet Crepes zu. Wechselt schnell die Tischdecke, die sie, trotz des gelben Flecks in der Mitte, seit einer Woche nicht erneuert hat. Sie macht Richard Kaffee und setzt sich neben Lucien. Sie sieht zu, wie er in den Crêpe beißt, seine mit Marmelade verschmierten Finger ableckt.

Während sie darauf wartet, dass ihr Mann aus dem Bad kommt, nimmt sie ein Blatt Papier und beginnt, eine Liste zu schreiben. Dinge, die sie tun will, nachholen vor allem. Sie hat eine ganz genaue Vorstellung davon, was sie vorhat. Sie wird ihr Leben ausmisten, sich nach und nach ihrer Ängste entledigen. Sie wird tun, was von ihr verlangt wird.

Leïla Slimani beschreibt die Qualen ihrer Adèle absolut nüchtern und streng, sie bedient sich keines Weichschreibers. Obsessionen sind das zentrale Thema, der Leser wird gezwungen dabeizusein. Leïla Slimani analysiert nicht, sie gibt wieder. Der Leser wird veranlasst, genau zu sein, Puzzle-Teile zu erlesen, die Adèles Verhalten erklären könnten. Die Gedanken stoßen dabei auf manches: Auto-Aggressionen, um sich selbst zu spüren, Borderline-Persönlichkeit, deren Selbstwahrnehmung schwankt und die handeln muss, auch wenn sie sich selbst schädigt. Gemeinsam ist, dass sich mit den gesuchten Mitteln keine Er-Lösungen einstellen lassen, dass nur die Wiederholung ein wenig Ruhe für den Moment ermöglicht. Sucht nach Sex.

Wie Louise, die Kinderfrau in „Dann schlaf auch du“, ist Adèle abstämmige Nordafrikanerin. Leïla Slimani sagt das, versteckt es aber so, dass man es leicht überliest. Vielleicht ist es aber auch besser, das nicht zu beachten bzw, als Grund der Abweichung außer Acht zu lassen. Wie Louise ist Adèle eine Frau, die aus ihrer sozialen Herkunft kein Selbstbewusstsein entwickeln kann, die sich als Mensch minderer Klasse erlebt und Wege zur Kompensation sucht. In beiden Fällen ist das existenziell ambivalent. Louise bringt in einer Art erweitertem Selbstmord nicht nur das Wichtigste ihrer Arbeitgeber um, deren Kinder, sondern will auch sich selbst auslöschen. Adèle überwältigt den Mann/die Männer, indem sie sich ihnen unterwirft. Allerdings steht Adèle in der urbanen Mittelschicht, doch sie kann sich in deren Gewöhnlichkeit nicht einordnen, empfindet nur Langeweile.

Adèle hat Lucien aus demselben Grund bekommen, aus dem sie geheiratet hat. Um dazuzugehören und wie die andern zu sein. Indem sie Ehefrau und Mutter wurde, hat sie sich mit einer schützenden Aura der Achtbarkeit umgeben, die ihr keiner mehr nehmen kann. Sie hat sich einen Zufluchtsort für die angsterfüllten Abende geschaffen, einen bequemen Schlupfwinkel für die Tage der Ausschweifung.

Man darf keinerlei Würde haben, denkt Adele in dem Moment, als die Haustür geöffnet wird. Jemand hat den Aufzug gerufen. Sie rührt sich nicht. Schade, dass er nicht die Treppe genommen hat. (…) Sie will ihn, ihn und seine Frau und diese Ge­schichte und diese Lügen und die kommenden Nachrichten und die Geheimnisse und die Tränen und selbst den un­vermeidlichen Abschied. Er streift ihr das Kleid ab. Seine langen, knochigen Chirurgenhände berühren kaum ihre Haut. Seine Gesten sind sicher, geschickt, delikat. Er wirkt unbeteiligt und plötzlich wild, unkontrollierbar. Er hat ein sicheres Gespür für die Dramaturgie, stellt Adele erfreut fest. Er ist jetzt so nah, dass ihr schwindlig wird. Sein Atem lähmt ihre Gedanken. Sie ist weich, leer, ihm vollkommen ausgeliefert. (…) Einmal hat ein Mann auf ihre Scheide gespuckt. Das hat ihr gefallen.

Sie will, dass man sie packt, dass ihr Kopf gegen die Scheibe prallt. Sobald sie die Augen schließt, hört sie die Geräusche: das Stöhnen, die Schreie, das Klatschen der Körper. Ein nackter, keuchender Mann, eine Frau, die kommt. Sie will nur ein Objekt inmitten einer Meute sein. Gefressen, ausgesaugt, mit Haut und Haar verschlun­gen werden. Sie will in die Brust gekniffen, in den Bauch gebissen werden. Sie will eine Puppe im Garten eines Un­geheuers sein.

Das Interessante an Leïla Slimani ist, dass sie in ihrer Beschreibung drastisch radikal ist, schonungslos auch ihrem Personal gegenüber, der entwürdigten und sich entwürdigenden Frau. Das kann zum Weiterdenken führen. Das kann aber auch bewirken, dass man angesichts der Ausweglosigkeit verzweifelt. Wie lässt sich ein Leben führen, das zwei auseinanderstrebende Pole hat, das im Geheimen ablaufen muss, das alle Grenzen sprengt! Es kann einen auch kalt lassen. „Da ist nur die holzschnittartige Darstellung eines spießigen, geordneten Familienlebens und sein Gegenteil: Sex. All das kommt in einer den Inhalt spiegelnden, langweiligen Sprache daher.“ (Julia Friese, SPIEGEL)

Es hört nicht auf, Adele. Nein, es hört nicht auf. Liebe ist nichts als Geduld. Eine devote, ungeheure, tyrannische Ge­duld. Eine unsinnig optimistische Geduld.

Das mit uns ist noch nicht vorbei.

2014            220 Seiten

Leseprobe beim Luchterhand-Verlag

Buchvorstellung beim SWR Lesenswert-Magazin (Audio – 7:30)

3-

 


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