Joachim Schnerf:
Wir waren eine gute Erfindung
Die Melodie überkommt mich, und meine Lippen murmeln vergessene Wörter: »Wenn morgen wieder Licht wird, zeig uns die Klarheit des Himmels.« Ich will mich Strecken, doch mein Körper reagiert nicht mehr. Ich, Salomon, Sohn Davids, Sohn Jakobs. Ich, Salomon, der ich nicht mehr weiß, ob meine Lieder wirklich sind, ob mein letzter Ruf im Zimmer nachhallt. »Möge diese Nacht nicht die letzte sein …« Michelles Gesicht ist neben mir, aber es ist Sarah, die zu mir spricht. Sie tröstet mich, verspricht mir, dass morgen wieder Licht werde. Dann werden wir zusammen sein. Ein Liebespaar mit verschlungenen Schenkceln, beide endlich wieder aneinandergefügt. Und unsere Flügel werden nachwachsen, wie überhaupt alles. Und wir werden uns ein wenig vom Boden erheben. Werden ein wenig fliegen.
Das geschieht in dieser Nacht. „Cette nuit“ heißt der Roman im französischen Original. Vielleicht geschieht es aber auch nicht. Fliegen, wenn auch nur ein wenig, kann der Geist am besten, wenn er nicht mehr vom Körper beschwert ist, ganz zuletzt, wenn sich alles vermischt, alles gleich wichtig ist. Wenn es nicht mehr wichtig ist.
Diese Nacht, das ist der Abend vor Pessach, der Sederabend, ein gewichtiger Abend im jüdischen Festkalender, ein Abend, an dem sich die gesamte Familie trifft, um ungesäuertes Brot zu essen. Streng nach jüdischem Ritual, ein Abend wie geschaffen, um die Zeit fließend werden zu lassen, das Geschehene mit dem Erträumten zu verbinden. Den Holocaust und die Flügel.
Salomons Frau Sarah ist gestorben. Er kann sie aber nicht fortlassen, sie sitzt mit am Seder-Tisch, ist anwesend wie die Gedanken ans KZ, an das Grauen.
Ich frage mich, was Sarah jetzt wohl täte, wo sie gerade wäre. Wahrscheinlich würde sie leise durchs Zimmer gehen und versuchen, sich fertig zu machen, ohne mich zu wecken. Ihre Füße streiften die Parkettleisten, streichelten sanft den Boden. Ich frage mich das, obwohl ich doch weiß, dass Sarah überall ist. Sarah. Ich mag es, ihren Namen zu flüstern, sie in meine Gedanken einzumauern, um das Vergessen an seinen Streifzügen zu hindern. Ich wickle meine Frau in unsere Teppiche und in unsere Vorhänge ein, ich zerstückle ihr Bild, damit kein Nazi sie ganz erwischen kann. Statt der Lampenschirme sehe ich ihre bläulichen Pupillen, statt der Kopfkissen ihre warmen Hände.
Und ich höre sie schimpfen: »Warum die Nazis, immer noch?« Sie hatte genug von der ständigen Shoah, aber ist es überhaupt möglich, eine Gedächtniswunde zu heilen?
Die Kinder haben ihre eigenen Sorgen, eigene Probleme mit ihrem Leben, sie hören nur halb hin, lachen über die bemühten Shoah-Witze, streiten sich über Dinge, die sie für wichig halten. Die Töchter haben sich unterschiedlich entwickelt, können sich nicht mehr leiden, die Enkel sind wie Enkel, was geht sie die Geschichte an, was der Schrecken, sie haben die Austauschschülerin Leyla mitgebracht, die sich als deutschtürkisch erweist.
Das Familienoberhaupt braucht den Afikoman, um den Sederabend zu beschließen, und die Tradition besagte, dass ich ihn versteckte, während er ihn wieder aufspüren musste … oder gegen ein Geschenk auslösen.
Mit den Jahren sind meine Enkel zu Spezialisten geworden, sie agieren rasch und präzise. Doch während ich mir die Hände wasche, macht sich für gewöhnlich tiefe Langeweile am Tisch breit, wie Sarah mir berichtete. Ich wage mir gar nicht das diesjährige Unbehagen vorzustellen, wenn unsere Töchter plötzlich ohne die Kinder und ohne mich im Esszimmer sitzen. Ohne Sarah. Der stille Raum. Sie haben sich seit Jahren nichts mehr zu sagen.
Joachim Schnerf hält die Erzählung in der Schwebe – zwischen Tod und Leben, zwischen Erinnerung und Alltagsproblemen, zwischen Überlebenden und Nachgeborenen, zwischen Ritual und Müdigkeit. Die Geschichte durchzieht ein leiser Witz, eine Unbeschwertheit, die hilft, die Trauer zu überstehen. Zu fliegen. Kein politischer Roman, sondern eine warmherzige Annäherung an die Familie und sich selbst.
Geschrei, Tränen und Exkremente, diese Nacht wird all den anderen gleichen. Ich sollte sie gar nicht nach ihrer Meinung fragen, sondern ihnen Sarahs Erbe einfach aufzwingen, ohne über Geld zu sprechen. Tief in meinem Herzen weiß ich, was ihr gefallen hätte, ich weiß, was ihr diese Festabende bedeuten, und ich bin überzeugt, dass sie an diesem Seder keine Wehmut gewollt hätte. Es wird diese Nacht ohne sie geben, und die morgige. Aber nächstes Jahr und das darauffolgende? Ich will ihr keinen Wein mehr einschenken ohne Hoffnung, ich will nicht mehr hier sitzen, essen und betrübt aus Ägypten ausziehen. Es hat diese vielen Sederabende mit Sarah gegeben, nun wird es diese erste Osternacht ohne sie geben, danach werden wir die Befreiung woanders besingen müssen, damit sich die Traueranlässe nicht überschneiden, damit sie nichts von ihrer heiligen Regelmäßigkeit verlieren.
2018 140 Seiten
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