Nachrichten vom Höllenhund


Scheuer
11. Februar 2020, 16:00
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Norbert Scheuer: Winterbienen

scheuerwinterbienen„Januar 1944: Egidius Arimond, ein frühzeitig aus dem Schuldienst entlassener Latein- und Geschichtslehrer, schwebt wegen seiner Frauengeschichten, seiner Epilepsie, aber vor allem wegen seiner waghalsigen Versuche, Juden in präparierten Bienenstöcken ins besetzte Belgien zu retten, in höchster Gefahr. Gleichzeitig kreisen über der Eifel britische und amerikanische Bomber. Arimonds Situation wird nahezu ausweglos, als er keine Medikamente mehr bekommt, er ein Verhältnis mit der Frau des Kreisleiters beginnt und schließlich bei der Gestapo denunziert wird.“

Der Klappentext fasst zusammen, was im Roman von Belang ist. Egidius Arimond hat alles in seinen tagebuchartigen Aufzeichnungen festgehalten, Norbert Scheuer musste die Blätter nur noch finden und transkribieren. „Am Tisch holte er aus einer Aktentasche ein loses Bündel Hefte, auf denen sich Bleistiftzeichnungen befanden, die er, wie er mir versicherte, beim Aufräumen seiner Scheune in einem alten Bienenstock gefunden habe. Die Dokumente erzählten, so sagte er, von einem Mann, dem er viel zu verdanken habe.“ Ein kluges Konstrukt.

Die Tageseinträge ähneln sich. Wetter, Umgebung, die blühenden Blumen, die Bienen, die Befindlichkeiten, das Tagwerk. Die Schwerpunkte variieren, was sich verändert, ist die Situation des Krieges an der „Westfront“ im Winter 1944/45. Zunehmende Zerstörung durch alliierte Bombardemants führen zu zunehmender Verstörung der Personen und ihres sozialen Gefüges. Fanatisierte Nazi-Verblendete reden sich eine Wende, eine Wunderwaffe, den Sieg ihrer Ideologie ein, sie haben ihr ganzes Leben eingesetzt, sie können, sie dürfen nicht verlieren. Alles wäre verloren. (Dass die Nazis bald wieder aus ihren Verliesen kriechen, wissen sie nicht.) Im Dorf Kall wird noch einmal der 20. April begangen, der Geburtstag Jupps.

Es regnet wieder; ich sitze im Cafe Blasius und blicke zum Marktplatz, wo Aufmärsche zu Jupps fünfundfünfzigstem Geburtstag stattfinden. Die Regale in der Bäckerei sind leer, weil kein Mehl vorhanden war, um Brot zu backen; aber es riecht zumindest immer noch ein wenig nach Sauerteig, gemahlenem Weizen- und Roggenmehl. Die Verkäuferin reicht mir einen wässrigen Ersatzkaffee aus Zichorien, der nur nach Wasser und den Bitterstoffen der gemeinen Wegwarte schmeckt. Unter der Hand bekomme ich ein kleines Stück Kuchen aus Rübenmehl, er ist ja mit meinem Honig gesüßt. Es kommt sonst keine Kundschaft, da es heute nichts zu verkaufen gibt.

Die Häuser um den kleinen Marktplatz und in der Bahnhofsfraße sind beflaggt; natürlich hängt aus der Wohnung des Apothekers auch eine Parteifahne. Jedes Mal, wenn ich zu ihm in den Laden komme, behauptet er dreist, die Preise für die Medikamente seien wieder gestiegen, aber davon ganz abgesehen, dürfe er mir gar keine Medizin geben, was ja auch stimmt; für meinesgleichen gibt es kein Recht auf Hilfe, ich muss selbst schauen, wie ich hier überleben kann.

Die kleinen Bienen geben Arimond Überlebensmut. Er hat etwas, wofür es sich zu kümmern lohnt. Er ist fasziniert von der Staatsorgansisation* der Bienen, will zu diesem Thema mit dem berühmten Bienenforscher Karl von Frisch in Kontakt treten.
Er braucht das Geld, das er für den Honig erhält, um sich Medikamente kaufen zu können (Luminal, Phenobarbital). Später muss er einen großen Teil seines Honigs als Deputat abliefern. Gleichzeitig darf er seine Epilepsie nicht offenkundig werden lassen, niemandem davon erzählen, es droht die Euthanasie. Das Leben stößt an immer mehr Grenzen, der Krieg wendet sich endlich gegen die Deutschen. Im Dezember 1944 brechen Arimons Tagebucheinträge ab.

Arimond ist kein „Gutmensch“. „Das, was ich notiere, ist nur eine Projektion meines Le­bens, es ist weniger und doch gleichzeitig mehr, als ich selbst bin, wie auch die gesprochene Sprache immer mehr ist als ihre schriftliche Wiedergabe, die aber auf der ande­ren Seite doch vielleicht eine tiefere Wirklichkeit aufzeigt, ebenso wie eine Landkarte niemals die tatsächliche Land­schaft selbst darzustellen vermag.” Er war Lehrer, er hat “Frauengeschichten”, auch mit der Frau des Nazi-Kreisleiters. (Die Zeit ist günstig für Affären, die Männer sind im Krieg.) Er präpariert seine Bienenkörbe, um darin jüdische Flüchtlinge über die Grenze nach Belgien zu schmuggeln. Er steht dazu, er begibt sich in Gefahr, aber er nimmt dafür auch Geld, das er für seine Medikamente braucht. Norbert Scheuer zeigt seinen Protagonisten in dieser Ambiguität. Die Stärken des Romans sind die Vernetzungen von persönlichen Dilemmata, dörflichen Strukturen und zeitgeschichtlicher Fundierung. “Und wir können nur staunen über Norbert Scheuers Kunst: Was für ein reifes, reiches, unaufdringlich überwältigendes Buch.“ (Markus Clauer. ZEIT) Aus den zunächst betulichen Aufzeichnungen des ehemaligen Lehrers, der Hitler “Jupp” nennt und kein Nazianhänger ist, liest man seine Berührtheit, er ist aber doch letztlich unpolitisch. Aus der Kriegswelt flieht er zu seinen Bienen, trennen lassen sich die Sphären aber nicht.

Ich gehe nun täglich zur Bibliothek, um dort nach einer weiteren Nachricht zu sehen, muss wissen, wann genau die Flüchtlinge an der Übergabestelle am Malakow-Turm sein werden. Der stillgelegte Förderturm liegt inmitten des Bergschadensgebietes in der Nähe des Bleibergtrichters; es gibt nur einen befahrbaren Weg dorthin, der schließlich in einer Sackgasse am Trichter endet. Über Jahrzehnte haben Bergleute das riesige Loch mit einem Durchmesser von fünf Kilometern ausgehoben. Der Trichter führt in Terrassen bis zu einhundert Meter tief in die Erde hinein. Tausende von Arbeitern haben die bleierzhaltige Erde von einer Stufe zur nächsten im Rhythmus einer Trommel von Ebene zu Ebene nach oben geschaufelt. Im Trichter und auf den Bleisand- und Schlackenhalden gedeihen nun riesige Heidekrautfelder. Im Spätsommer ist es, als wäre das Blau des Himmels auf die Erde gefallen. Der Honig vom Heidekraut hat einen angenehmen, etwas herben Geschmack, und ich habe Kunden, die besonders diesen Honig mögen. Wenn die Bienen hier schwärmen und ins Bergschadensgebiet hinüberfliegen, um sich dort zu sammeln, muss ich sie meist verloren geben, weil die Gefahr selbst für mich viel zu groß ist, in einen der alten Stollen einzubrechen. Die Bienen suchen sich dann Nester in Baumlöchern oder Felsnischen und werden wieder zu Wildbienen.

In diesen abgeklärten Tagebuchseiten entsteht eine sich steigernde Brisanz und das macht den Roman lesenswert, auch wenn einen das Blühen der Natur und die Erstaunlichkeiten des Bienenvolkes weniger interessieren. Thea Dorn verweist (im Literarischen Quartett) auf die Problematik des “Bienenvölkischen”. * “In einigen Völkern musste ich die alte, unfruchtbare Königin töten, denn es schadet den Guten, wer die Schlechten schont.” Von Bienen, die “geschunden sind im Dienst für ihr Volk” müsse nicht erzählt werden “in einer Zeit, in der die völkische Ideologie in Deutschland für einen Massenmord gesorgt hat” (Dorn). Der Hinweis ist nicht wegzuschieben. Ich habe Arimonds Tagebuch aber nicht so gelesen. Die den Bienen einprogrammierten (Über-)Lebensaktionen können nicht auf biologistische Art auf Menschenpopulationen übertragen werden. Solchen Nazi-“Darwinismus” werfe ich Arimond und damit Scheuer nicht vor, auch wenn die Analogien, die der Autor einsetzt, bei aller Kunstfertigkeit aufmerksam gelesen sein sollen.

Eingestreut in die Tagbucheinträge sind Übertragungen aus Pergamenten aus dem 15. Jahrhundert, die von Ambrosius Arimond stammen, einem Vorfahren des Egidius. Die Methode ist kommentiert, auch Bienen kommen in den Fragmenten vor und das Herz des Nikolaus von Cues. Die Zeichnungen von Militäflugzeugen sollen von Scheuers Sohn Erasmus stammen. Das entschuldigt sie aber auch nicht.

2019           320 Seiten

Diskussion im Literarischen Quartett des ZDF

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