Jackie Thomae: Brüder
Michael und Gabriel, nein, nicht die Erzengel, sondern die „Brüder“, genauer: Halbbrüder. Gleicher Vater, der aber weitergezogen ist, verschiedene Mütter, beide Brüder gezeugt in der DDR, die sich dann auch aufgelöst hat. Die Brüder kennen ihren Vater nicht, außer genetische Spuren hat Idris Farbspuren hinterlassen, in welchem Ausmaß ist auch Thema des Romans. Beide sind „halbschwarz“. Auch zu der jeweiligen Mutter ging der Kontakt verloren. Gabriels Mutter hat sich nah Andalusien abgesetzt, ist dann gestorben, Monika war in der DDR sozialisiert und wollte ihren Mick als selbstständige Frau allein zur Selbstständigkeit erziehen. Die beiden Brüder kennen sich nicht und das bestimmt den Aufbau des Romans.
Es gibt keine Verflechtungen, keine auch nur partiell gemeinsame Geschichte, und so erzählt Jackie Thomae die Lebensläufe scharf getrennt. Erste Hälfte: Mick, Berlin, 1985 – 2000, zweiter Teil: Gabriel, nach 2000, London. Mick, der „Hallodri“, in Tag und Nacht hineinlebend, Gabriel der streng selbstkontrollierte und erfolgsorientierte Architekt.
Mick schlägt sich durchs Leben im multikulturellen Berlin der Nachwendezeit, er sucht und findet keinen Halt, beteiligt sich an einem Club, hat Interesse nur an der Musik und den Typen und dem Leben als Spiel. Mick “ließ sich zu nichts machen. Er müsste einfach so bleiben, wie er war. Wenn sie sah, wie lässig und entspannt er mit Kindern umging, machte sie das mehr an als jeder fancy Hokuspokus, den er sich im Bett einfallen ließ. Und es war kein Geheimnis, warum die Kids ihn so liebten: Weil er einer von ihnen war.” Er lässt sich sterilisieren, was später seine nicht klar definierte Beziehung zu Delia aufs Spiel setzt, dass er einen Sohn hat, erfährt er erst viel später, als er von einem Selbstfindungstrip nach Thailand wieder zurück in Berlin ist. Dazwischen wird’s nie eintönig im Leben, es kommt immer ein nächster Tag und eine nächste Nacht. Richtig gefährlich wird’s nur einmal, als er sich zum Drogenkurier überreden lässt.
Der immergleiche Film, er spulte ihn wöchentlich ab, als wäre all das brandneu. Gewummer, Gestampfe, Getränke, Gelaber, Gefühle. Ja, die Jahre flossen ineinander. Doch das hieß nicht, dass dieses Fließen nicht auch seine Schönheit hatte. Eine irrlichternde, nichtkonservierbare Schönheit der Kategorie: Muss man dabei gewesen sein.
Wenn die Endzeitstimmung einsetzte, diese unerklärliche, fast greifbare Angst vor dem Tageslicht, wo wäre er hingegangen ohne Delia? Er wäre mit Unbekannten weitergezogen bis zur Ohnmacht. Er wäre neben Unbekannten aufgewacht. Okay, er wachte auch so neben Unbekannten auf. Aber er wusste, wohin er anschließend gehörte. Das Wochenende begann am Donnerstag, der Nacht für Kenner, die den Freitag und den Samstag den Amateuren überließen, es endete am Montag, irgendwann gegen später. Am Dienstag widmete er sich seiner Nebenbeschäftigung, Plattenkritiken zu schreiben, der Mittwoch war sein freier Tag. An diesen Tagen hieß es: große Sorgfalt beim Ernährungskonzept, Sport, Wald, See, Hund, Frau. Dann ging es von vorn los mit den Großereignissen, die sich unvergesslich anfühlten, aber so austauschbar waren, dass er sich viele von ihnen hätte sparen können, wäre ihm das damals schon aufgefallen
Gabriel ist nicht vom Leben, sondern von seiner Selbststrukturierungsmanie geschlagen. Er hat mit seiner Frau Fleur den Sohn Albert, der sich aber weder für Vater noch Mutter begeistern kann.
Als Gabriel und Mark ihr erstes Büro gründeten, nannten sie sich kurz Concrete Rock. Jung und disziplinübergreifend sollte das Büro sein, dazu ein Name, den man auf T-Shirts und Beanies drucken konnte. Dachte Mark Barnett. Zu verspielt, fand Gabriel und verlangte es klassisch: Loth & Barnett. Dabei war es Gabriel, der die Personifizierung des Concrete Rock war. Sein Innenleben war nicht aus Beton, seine Umhüllung sehr wohl.
Zur Hautfarbe: Mick lässt auch das an sich abtropfen, er geht davon aus, dass ihn das Thema nicht betrifft, was insofern erleichtert ist, als er sich in subkulturellen Kreisen bewegt. Nazis sind die auf der anderen Straßenseite.
Die Wahrheit war, dass er das Gefühl hatte, dieser Blödsinn ginge ihn nichts an. Er fand, die Nazis sollten sich einfach verpissen, während die Nazis fanden, er solle sich einfach verpissen. Was er tatsächlich gern getan hätte, an einen der vielen Orte, wo diese Leute und ihr Weltbild keinerlei Rolle spielten, Orte, die nicht perfekt waren, diesem hier aber etwas Entscheidendes voraushatten: die Selbstverständlichkeit eines urbanen Miteinanders, das Gegenteil dieser hinterwäldlerischen Rückständigkeit. Ja, von ihm aus konnten sie sehr gerne unter sich bleiben. Wenn sie sich hier breitmachten, gehörte er nicht mehr hierher. Er wohnte nur dummerweise hier. Die Trambahn stand. Polizeieinsatz, Demonstranten auf den Schienen, warum auch immer. Mick schaute hinaus auf die eindeutigen Symbole.
Gabriel nimmt für sich in Anspruch. Dem Thema durch seine Erfolge entwachsen zu sein.
Trotzdem, auch wenn ich es damals nicht formulieren konnte, war mir das Lob meiner Hautfarbe immer unangenehm, denn die unterschwellige Botschaft verstand ich doch: Könnte noch schlimmer sein. Ich wünschte mir, das alles wäre gar kein Thema. Das war kein idealistischer Wunsch, es ging mir nur um mich. Ich dachte: Lasst mich doch einfach in Ruhe. Bis er für den NHS ein Formular ausfüllen muss:
Ich hatte damals nicht mit diesem Formular gerechnet. London war nicht das Paradies, aber so postrassistisch, dass man hätte meinen können, es gehe wirklich nur noch ums Geld. Das ist für den Zensus, sagte mir die Rezeptionsschwester, die ich fragte, was das alles sollte und was sie davon hielt. Sie schaute mich an, als hätte ich sie in einem Restaurant gefragt, warum sie mir eine Speisekarte reicht.
Es war das bemerkenswerteste behördliche Papier, das ich je gesehen hatte. Nicht, dass man hier, bei einem Arzt, auf die Idee kam, nach Vorerkrankungen, Allergien oder Süchten zu fragen. Nein, die Frage lautete, welcher Ethnie man angehörte.
Kategorie A lautete weiß. Weiße Menschen hatten anzukreuzen, ob sie Briten, Iren, Irish Travellers, also Nichtsesshafte, weiße EU-Mitglieder oder sonstige Weiße sind. Ein Extrakästchen für die EU-Weißen aus Irland. Ich fand das so absurd, dass ich dachte, die Schwester hätte mir versehentlich einen internen Fragebogen gegeben.
Kategorie B umfasste mixed/multiple ethnic groups, also mich. Hier wurde unterschieden zwischen weiß und schwarz aus der Karibik, weiß und schwarz aus Afrika, weiß und asiatisch und sonstigen Mixen, zu denen wohl auch die Kombination schwarz und asiatisch gehören musste, die hier nicht aufgeführt war.
Asiaten, hier die ethnische Gruppe C, wurden unterteilt in Leute aus Indien, Pakistan, Bangladesch, China und sonstige Asiaten.
Kategorie D unterteilte Schwarze in karibische, afrikanische und britische Schwarze. Plus: any other blacks.
Jackie Thomae knofrontiert Gabriel mit der Aktivistin Sybil.
Stimme, Haare, Haut, Seele. Unsere gemeinsame Hautfarbe legte sich über jedes Thema und verwandelte es in ein Streitthema.
Entschuldige, Sybil, ich laufe nicht den ganzen Tag herum und denke, ich bin schwarz, ich bin schwarz, oh Gott, ich bin schwarz! Ich denke auch nicht den ganzen Tag darüber nach, dass ich ein Mann bin, dass auf meinen Wimpern winzige Lebewesen sitzen, dass ich irgendwann durch einen Geburtskanal gepresst wurde. Das ist alles faszinierend, aber ich muss auch an andere Dinge denken als an gottgegebene Tatsachen, verstehst du das?Es tat mir leid, wie Sybil ihr eigenes Dasein ständig deklassierte. Sie hörte sich an wie jemand, der einen Sklavenaufstand plant, war aber eine englische Mittelklassefrau, die in einer großen Modelagentur arbeitete und ausschließlich in Designerklamotten herumlief.
Gabriel hat auch hier seine eigene Rationaltät: „Jeder hat seine Themen, und die Koexistenz in Städten war meines. Hierbei ging es nicht um Hautfarben, sondern um Geld.”
Der erste Teil des Buches ist nicht nur wegen des schillernden Sujets (Person und Umfeld) der interessantere. Hier zeigt sich, wie gut Jackie Thomae die Szene kennt und wie gewandt sie sich auch sprachlich darin bewegt. Glanzstück: Mick trifft auf einen früheren Schulkameraden, der sich zum Neonazi vertrottelt hat. Thomae führt diese Fitzpiepe in seiner eigenen verblödeten Denke vor als wäre sie die begnadete Kabarettistin.
Er also Punkt sieben im Wartezimmer der Nebelkrähe, die einen Doppelnamen hatte, und als würde das allein nicht schon scheiße genug aussehen, hatte die sich an ihren deutschen Nachnamen auch noch einen Kanakennamen drangehängt, geht’s eigentlich noch? Er tanzt da also quasi mitten in der Nacht an, damit die keinen Grund haben, ihm sein Geld zu kürzen, zitternd wie Espenlaub, weil es ihm wirklich beschissen geht, was ja vielleicht gar nicht so verkehrt ist, wenn man weiter krankgeschrieben werden will, und dann lässt Frau Lehmann-Mubarak ihn erst mal eine geschlagene halbe Stunde draußen sitzen. Geht mit seiner Zeit um, als wär’s ihre! Er so zu ihr: Ich wär dann so weit. Und dachte sich so: Ich hau hier gleich alles kurz und klein. Sie so: Wenn Sie sich bitte noch zehn Minuten gedulden würden, ja? Danke. Und schließen Sie bitte die Tür, ich rufe Sie dann gleich rein. Er so: Alles klärchen.
Das Buch Gabriel passt sich an das erstarrte Personal an und wirkt zäh, pedantisch, versteinert. Abwechselnd erzählen Gabriel und Fleur in gewählter Sprache von ihrer Situation, ihrer Befindlichkeit, der Be- und Erziehung, den Lebenswegen. Alles wird durchgekaut, ohne dass ein Weiterkommen, eine Änderung oder auch nur die spezielle Relevanz erkennbar ist. Das Erzählen offeriert eher Psychostudien, blendet dabei die Gesellschaft weitgehend aus. “Brüder” ist kein Geschichtsbuch, keine Anklage. Bilder aus dem Leben zweier Männer, die sehr unterschiedlich sind, in unterschiedlichen sozialen Milieus agieren. Nur der Titel suggeriert eine Beziehung zwischen den beiden. Wenn der Roman einen anderen Titel hätte, läse man unbeeinflusst einen bzw. zwei unabhängige Romane. Die Frage, weshalb die Halb-Brüder so unterschiedlich (geworden) sind, beantwortet Jackie Thomae nicht. Es soll hier nicht verraten sein, ob die “Brüder” schließlich doch noch aufeinander treffen.
2019 430 Seiten
Jackie Thomae liest aus „Brüder“ (zehnseiten.de)
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