Nachrichten vom Höllenhund


Altaras
3. Juni 2020, 16:45
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter:

Adriana Altaras: Die jüdische Souffleuse

altarassouffleuseSissele („wie die Süße“) Chaimberg arbeitet als Souffleuse am Theater. Dort heißt sie Susanne, aber ihr eigentliches Lebens-Anliegen ist: „Ich möchte meine Familie finden.“ Sie ist Jüdin und ging in den Nachkriegs-„Wirren“ verloren. Als Adriana Altaras, die Ich-Erzählerin, für eine Inszenierung von Mozarts „Entführung aus dem Serail“ ans Theater kommt, sieht Sissele eine Hoffnung: „Ich habe dein Buch gelesen (…). Du bist mutig und schonungslos vorgegangen, du hast gefragt, recherchiert und bist herumgefahren. Das will ich auch. Aber mit dir.

Adriana Altaras ist auch Jüdin, aber sie fühlt sich durch die forsche Art Sisseles zunächst überrumpelt, dennoch kann sie ihr Interesse nicht loslassen. Vielleicht unterscheidet sich Sisseles Lebensgeschichte nicht grundlegend von der jüdischer Kinder zu dieser Zeit. Als sie bei einer nächtlichen Autofahrt zu den Lager-Stationen ihrer Kindheit zu erzählen beginnt, ist Adriana doch beeindruckt, vor allem von ihrer Wanderung durch verschiedene Familien, zu denen sie ihr Vater Fischel nach seiner Emigration vom Lager für Displaced Persons in Deggendorf nach Kanada „abgeschoben“ hat.

Es waren alles in allem nette Familien. Die erste war sogar mehr als das, sie war für mich der Himmel auf Erden. Wir fuhren mit einem kleinen Bus aus der Stadt heraus. Nicht weit, der Schnee lag meterhoch, der Himmel war von einem unwirklichen, strahlenden Blau. So etwas Schönes hatte ich lange nicht gesehen. Die Familie wohnte in einem großen, alten Haus. Hunde bellten, ein paar Gänse liefen aufgeregt davon. Als wir aus dem Bus stiegen, kam uns eine alte Frau entgegen, sie schaute meinen Vater gar nicht an, umarmte mich, sie sprach Jiddisch und Französisch: »La pauvre petite, armes Maidele, sie bot a soi scheine blonde Hu’er di bist avade hingerik?«, dann rannte ein Mädchen auf mich zu, nahm meine Hand und ließ sie für ein paar Wochen nicht mehr los. Das Mädchen sprach Französisch: »A partir d’aujourd’hui tu es mon amie! «, sagte sie. »N’aies pas peur! Ca c’est ma Brand-mere, et tu restes avec nous!« Von heute an brauchst du keine Angst mehr zu haben, ich bin deine Freundin, und du wirst bei mir und meiner Großmutter leben.

Es waren alles in allem nette Familien. Die erste war sogar mehr als das, sie war für mich der Himmel auf Erden. Wir fuhren mit einem kleinen Bus aus der Stadt heraus. Nicht weit, der Schnee lag meterhoch, der Himmel war von einem unwirklichen, strahlenden Blau. So etwas Schönes hatte ich lange nicht gesehen. Die Familie wohnte in einem großen, alten Haus. Hunde bellten, ein paar Gänse liefen aufgeregt davon. Als wir aus dem Bus stiegen, kam uns eine alte Frau entgegen, sie schaute meinen Vater gar nicht an, umarmte mich, sie sprach Jiddisch und Französisch: »La pauvre petite, armes Maidele, sie bot a soi scheine blonde Hu’er di bist avade hingerik?«, dann rannte ein Mädchen auf mich zu, nahm meine Hand und ließ sie für ein paar Wochen nicht mehr los. Das Mädchen sprach Französisch: »A partir d’aujourd’hui tu es mon amie! «, sagte sie. »N’aies pas peur! Ca c’est ma Brand-mere, et tu restes avec nous!« Von heute an brauchst du keine Angst mehr zu haben, ich bin deine Freundin, und du wirst bei mir und meiner Großmutter leben.

In keiner dieser “alles in allem netten Familien” kann sie länger bleiben, was ihre Sehnsucht nach “ihrer” Familie erklärt und verstärkt. Es erklärt auch, weshalb sie sich sehr an Adriana “klammert”. Die Nachforschungen bringen allerdings kein Ergebnis, bis Adriana wieder mal mit hrem Bekannten Robbi in Israel telefoniert.

Altaras erzählt launig und beredt. Sie vergisst nicht, ihre Vorzüge und Meriten zu erwähnen, spielt sie aber nicht in den Vordergrund, versteckt auch ihre Schwachstellen nicht. Man erfährt – natürlich subjektiv grundiert – manches über den Theaterbetrieb: die Hintergedanken der Inszenierung, die persönlichen Stärken und Schwächen der multinationalen Darsteller, vom Solisten bis zum Chor, Eigenheiten von Bühnengestaltern, Kostümbildnerinnen und Dramaturginnen. Und – nicht zuletzt – darf über der Theaterarbeit mit ihren ungeplanten Seitenwegen zu Sisseles Familiensuche auch Adriana Altaras’ eigene Familie nicht zu kurz kommen. Ein kleiner Roman, in den Adriana Altaras – wie gewohnt –ihre Lebendigkeit überträgt. Es gehört schon eine gehörige Portion erzählerische Chuzpe dazu, über dem Abgrund der Schoa ein derart barock überdrehtes, zugleich mutwillig unglaubwürdiges und furchtlos realitätsgesättigtes Stück Literatur aufzuführen, wie Adriana Altaras es in ihrem Roman ‚Die jüdische Souffleuse‘ tut.“ (Ursula Scheer, FAZ)

»Ich werde mich endlich damit abfinden müssen«, sagt Sissele, als ich sie wenig später am Hauptbahnhof raus­lasse. »Für mich gibt es wohl keine Familie mehr. «
Ist Sissele ein weiblicher Hiob? Alles, was ihr wider­fährt, wird zu einer Prüfung.
Sie ist mit Abstand die erstaunlichste Person, die ich je getroffen habe, und von ihrer Lebensgeschichte werde ich mich lange nicht erholen können.
Ich winke der kleinen Gestalt hinterher, die Richtung Eingang verschwindet.

2018               200 Seiten

Leseprobe beim Verlag Kiepenheuer & Witsch


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