Lutz Wilhelm Kellerhoff:
Die Tote im Wannsee
Aus dem Autoradio klingt Jimi Hendrix mit Hey Joe und Good Vibrations von den Beach Boys. Im Kings-Club singt ein „junger Mann mit Gitarre (…) etwas von einem gewissen Orpheus“, ja, „der Mann hieß Reinhard Mey“.
Mittendrin ermittelt Kommissar Wolf Heller, „und Heller hatte das Gefühl, dass der Wahnsinn sich ausbreitete und irgendwann auch ihn befallen würde. Er war zweiunddreißig Jahre alt, unverheiratet und wohnte in Kreuzberg bei einer Mutter von zwei Kindern zur Untermiete. In seinem Ausweis stand: eins zweiundachtzig groß, fünfundsiebzig Kilo schwer, blaue Augen, dunkles Haar. Die Frauen standen auf ihn.” Er steuert seinen roten Karmann-Ghia mit Stoffverdeck durch den Stadtplan Berlins. “Weil der Ku’damm wegen eines Feuerwehreinsatzes gesperrt war, nahm er die Kantstraße, was sich bald als Fehler herausstellte. Einmal pro Woche marschierten zweihundert bis dreihundert Studenten am Amerikahaus in der Hardenbergstraße vorbei, warfen Farbbeutel und Eier und riefen USA-SA-SS, Ho-Ho-Ho-Chi-Minh und andere Parolen. Wolf Heller wusste nicht, was damit gemeint war. Die Studenten schienen auf Krieg aus zu sein, als würden sie bedauern, beim letzten nicht dabei gewesen zu sein. Es ging gegen die Spießer, gegen die Amerikaner, gegen Vietnam. Und vor allem ging es gegen Axel Springer und die Bild-Zeitung.”
Man ist gefangen im Fluidum der umzäunten Stadt, des Vorpostens der westlichen Welt, und das ist das Merkmal und das Besondere an den Krimis von Martin Lutz, Uwe Wilhelm und Sven Felix Kellerhoff. Die Handlung ist in diese “politisch aufgeheizten Zeiten” (Cover) hineingepflanzt und streift die Schauplätze der Weltpolitik und deren Randakteure. Louise arbeitet in der Kanzlei von Horst Mahler, Karl-Heinz Kurras hat Benno Ohnesorg erschossen, die Kommune in der Wielandstraße träumt von der Revolution und die DDR hat ihre Finger im Spiel. Heidi Gent besucht aus unerklärlichen Gründen eine Hütte an einem geheimen Ventil im Grenzzaun zur DDR. Dann fischt man sie aus dem Wannsee und sie trug als Leiche unerwartet und für ihr bürgerliches Leben unpassend rote Schuhe und schwarzes Kleid.
»Haben Sie Gummistiefel dabei?«, fragte er und deutete auf Hellers Lederschuhe. »Da unten ist alles nass.«
In den letzten Tagen hatte es geregnet wie schon seit Jahren nicht mehr. Als wollte der Wettergott all die Schuld und die Wut von der Stadt abwaschen.
Heller passierte den Eingang, stieg auf der Seeseite die Treppen hinab und lief zum Ufer. Etwa zwanzig Meter entfernt dümpelte ein Schiff der Wasserschutzpolizei mit laufendem Motor. Ein Schupo, ein Beamter der Kripo, Oskar Schubert von der Spusi und sein junger Assistent standen um eine Frauenleiche. Hellers Kollege Albert Doll grinste.
»Na, Heller, auch schon da?«, spottete er. Sein Gesicht war schief, als hätte sein Schöpfer sich einen Spaß machen wollen und zwei unpassende Hälften zusammengesetzt.
Die Tote trug ein schwarzes, knielanges Kleid mit schmalen Trägern. Es sah so ähnlich aus wie das von Audrey Hepburn in Frühstück bei Tiffany. Vor einiger Zeit hatte Heller den Film zusammen mit Paula in der Filmbühne Wien am Ku’damm gesehen. Die Tote lag auf dem Bauch, Oberkörper und Kopf reichten ins seichte Wasser.
»Haben unsere Freunde mal wieder den Ku’damm stillgelegt?«, fragte Schubert.
»Das sind nicht meine Freunde«, erwiderte Heller.
»Aber du hast Verständnis für die Spinner«, sagte Doll.
Ja, das hatte er. Nicht für den Krawall und die wöchentlichen Demonstrationen, die die Gegend um den Bahnhof Zoo lahmlegten. Aber er konnte verstehen, dass die Studenten wütend waren.
Die Aufklärung des Mordes erweist sich als schwierig und zeitaufwendig. Zu viele Instanzen behindern Kommissar Heller: die Vertuschungen der Täter, die Verweigerung potentieller Zeugen, die Influencer aus der DDR, die studentischen Staatsfeinde, Hellers Familie(n) und auch seine eigene – korupte – Behörde in der Keithstraße. Das ist alles wichtig, verbreitet Atmosphäre und lässt Heller viel Raum für die Darstellung der Facetten seines Berufs und seines Lebens seiner Stadt und seiner Zeit. Aber: Ich habe selten einen Krimi gelesen, der sich für die – schließlich auch dank des weißen BMW 2000 C doch erfolgte – Lösung derart viel Zeit und Nebenwege nimmt wie “Die Tote im Wannsee”. Was mögen jüngere Leser empfinden, denen Erinnerungen an 68er Global- und Subkulturen fehlen. Ein stärker geraffter erster Serienband hätte die Neugier auf weitere Fälle erhöht.
2018 380 Seiten (incl. Glossar)
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