Nachrichten vom Höllenhund


Reichlin
7. Juli 2020, 16:49
Filed under: - Belletristik

Linus Reichlin:
Keiths Probleme im Jenseits

Probability rules the universe.reichlinkeith

Ganz einfach: Wenn man ein Ei fallen lässt, wird es zerbrechen. Das hat mit Entropie zu tun, ist jetzt aber zu kompliziert. Es geht nur darum, dass der umgekehrte Fall nie beobachtet wird: Ein zerbrochenes Ei setzt sich nicht wieder zusammen. Es ist aber nicht unmöglich, dass es sich wieder zusam­mensetzt, es ist nur sehr unwahrscheinlich, deswegen sehen wir es nie. Es könnte aber jederzeit geschehen, und falls es lange genug Eier gibt, wird es mit Sicherheit einmal geschehen, denn es verletzt den zweiten Haupt­satz der Thermodynamik nicht. Es war sehr unwahr­scheinlich, aber möglich, dass Keith Richards wieder lebte, und ich ging rüber zu Lynns Zimmer und klopfte leise, um ihr das zu sagen.

Kann man ein Buch lesen, das sich als Roman bezeichnet, aber von Entropie, Thermodynamik und Zeitumkehrvarianz handelt? Und sich dabei “Keiths Probleme im Jenseits” nennt? Es geht, wenn man akzeptiert, dass Keith Richards, berühmt-berüchtiger Gitarrist der Rock-Band “The Rolling Stones” beim Spielen der Gitarre wirklich gelebt hat (“The Riff-Master” – alle Riffs der Stones außer “Brown Sugar”!“ –I’m the riff master,” wrote Richards in his autobiography Life.) – und jetzt gestorben ist. Der Roman lebt von der These, er lebe nach seinem Tod wieder. Das ist wissenschaftlich plausibel erklärbar, könnte jeden treffen, kommt aber sehr selten vor und ist eigentlich nur von einigem Interesse, wenn der von den Toten Auferstandene berühmt bzw. berüchtigt ist. (Anspielungen auf das einzig bekannte Muster für die Resurrektion fehlen im Buch. Das würde auch nur ablenken.)

Die Auferste­hung eines Toten ist noch nicht einmal etwas besonders Unwahrscheinliches angesichts der Tatsache, dass es fast genauso unwahrscheinlich war, dass der Tote zuvor gelebt hat. Man neigt dazu zu denken, dass ein Mensch, ein Tier, die Apfelbäume oder Taschenlampen etwas sehr Wahrscheinliches sind, da es ja so viele davon gibt. Aber das Gegenteil stimmt: Solche komplexen atoma­ren Strukturen sind etwas extrem Unwahrscheinliches. Es ist extrem unwahrscheinlich, dass sich Abermilliar­den von Atomen zu einer bestimmten Konstellation arrangieren, die dann eine Taschenlampe oder einen Menschen hervorbringt. (…) Angesichts dessen spielt es wirklich keine Rolle mehr, wenn auf der Erde, einem höchst unwahrschein­lichen Ort, der nur für eine schier unendlich kurze Zeit­spanne existiert, ein Toter wieder Jack Daniel’s trinkt. Es ist nur ein Herz, das nach zwei Tagen wieder zu schla­gen beginnt, so what! Kein einziges physikalisches Ge­setz wird dadurch verletzt, denn diese Gesetze sind zeit­umkehrinvariant.

Sogar Keiths Inselärztin Lynn spekuliert: “Sie sagte, bei der Beerdigung ihrer Großmutter sei ihr zum ersten Mal der Gedanke gekommen, dass sie viel­leicht nie stirbt. Ich dachte, es gibt so viele Menschen auf der Welt, da muss es doch mal einen geben, der nie stirbt, und das bin vielleicht ich.” Eine lustige Resurrection-Shuffle. “Ihm ist es passiert, nicht mir.”

Der wissenschaftliche Hintergrund ist wichtig, denn er stößt sich an Keith Richards’ ziemlich diesseitig ausgerichtetem Leben nach dem Tod. Seine Probleme resultieren gar nicht so sehr aus seinem Tod und seiner unerwarteter Wiederkunft, sondern daraus, dass der Tod publik geworden ist, das Begräbnis stattgefunden hat und das Erbe verteilt ist. Wie könnte man da friedvoll wieder auftauchen? Keith Richards zieht sich zurück – auf die Karibikinsel Jesters (was Narr/Spaßvogel bedeutet).

Keith Richards ist nicht so simple minded wie das Gerede geht. Er lässt sich einen Kundigen einfliegen, der ihm seine Troubles erläutert. Nicht zufällig ist das der Ich-Erzähler, Fred Hundt, Autor des Buches “The earth is an unlikely place”, über dessen Thema er auch Vorträge an am Gymnasium hält.

Die fünfte Gymnasialklasse in Karlsruhe war an mei­nem Vortrag so interessiert wie ein Baby an Zitronen­saft. Ich sagte, meine Mutter habe vergessen, was ein Ei ist, aber damit sei sie in guter Gesellschaft, denn eines Tages werde niemand im ganzen Universum mehr wis­sen, was ein Ei ist, und die Zeitspanne, in der jemand es gewusst habe, werde so astronomisch viel kleiner sein als die Zeitspanne, in der keiner es mehr weiß, dass im Rückblick gesehen Eier nie existiert hätten. In the long run nothing ever existed. Das ist ein großartiger Ge­danke, aber wenn man einem Baby Zitronensaft in den Mund träufelt, ist es vollständig mit seinem Widerwillen beschäftigt und unempfänglich für die Schönheit eines physikalischen Gedankens. In der vordersten Reihe saß eine schwarzhaarige Selfie-Queen, die ständig mit dem Fuß wippte. Ihr Zwischenruf Wie kann man denn so was wie Eier vergessen? machte aus der Klasse eine Horde Brüllaffen, die fortan jedes Mal, wenn ich das Wort benutzte, auf den Ästen herumsprang und brünstige Laute ausstieß. Ich war froh, dass ich angerufen wurde.

Wider manches Erwarten freunden sich Fred und Keith Richards an.

Er wollte mit mir sprechen, und als ich sein Zimmer betrat, zog er sich gerade einen roten Wollpullover über den Kopf, sein Kopf steckte noch im Pullover, ich sah, dass er unter dem Pullover schon einen Baumwollpulli trug, dazu Jeans und dicke, geringelte Wollsocken. Er ver­hedderte sich in den Ärmeln und kriegte den Kopf nicht durchs Pulloverloch, nur die grauen, krautigen Haare schauten raus und die Spitzen seiner riesigen Ohren. Soll ich Ihnen helfen?, fragte ich, er sagte mit heiserer Stimme, nenn mich nicht Sie, und gestern hast du mich Mister genannt, das will ich auch nicht mehr hören, wir sitzen hier alle in derselben Scheiße. Ich dachte, na ja, eigentlich sitzt nur er drin, wir anderen könnten jeder­zeit verschwinden. Ich sollte also du und Keith zu Keith Richards sagen, das war, als würde man in der Kirche eine Madonnenstatue sagen hören, du kannst mich Mimi nennen.

Fred und Keith schreiben sogar neue Songs zusammen. “Out the Window”, das Fred vom Pfandleiher hat, bei dem er für Keith eine Gitarre besorgen sollte, hält Keith für genial, „Keith sagte, ich habe seit Happy nichts so Gutes mehr geschrieben, aber das hier ist noch besser als Happy, Happy war konventionell, das hier ist wie Chopin, es reisst Wände ein. Ja, sagte ich, ich habe noch nie so etwas geschrieben. Wenn du was zum Waschen hast, sechzig Grad, weiß, sagte Lynn zu Keith, ich mache gerade eine Maschine fertig. Ist alles da in dem Dings, sagte Keith, er meinte einen Bastkorb, aus dem eine So­cke raushing, sie war aber blau. Lynn legte mir, bevor sie ging, die Hand auf die Schulter und sah müde aus. Die Arme musste waschen, während ich die Rockmusik er­neuerte.” Als Produzent glaubt Keith Richards an Don Was.

Keith Richards kann aber, da “tot”, nicht mehr auftreten, also wittert Fred die Chance auf eine späte Karriere über seine Geburtstags- und Scheidungcombo hinaus. ”Weißt du, was da draußen am Horizont auf mich wartet? Meine letzten guten Jahre. Die paar wenigen gu­ten Jahre, die mir noch bleiben. Und die werde ich in knallengen Lederhosen verbringen und nicht im Feder­etui-Gestank von Klassenzimmern.
Hatte ich nicht recht? Mit sechzig gibt es nur zwei Op­tionen: Sieg oder Tod! Patria o muerte, wie die Kubaner sagen, mit Patria meinen sie Rock ’n‘ Roll, Rock ’n‘ Roll ist der Sieg des Lebens über die Seniorenresidenz.”

Zunächst muss er aber noch Keiths bekannten Totenkopfring verhökern, damit der wieder zu Geld kommt. Als Abnehmer bietet sich Johnny Depp an, doch der ist gerissener als Fred und Keith. Nicht alles entwickelt sich wie geplant (oder auch nicht geplant), vieles scheitert sogar, aber Linus Reichlin erfindet sich in allem viele Möglichkeiten für stets augenzwinkerndes Erzählen. Die Keith-Problem-Skurrilitäten stehen eindeutig im Vordergrund. “Linus Reichlins Roman sprüht nur so von komischen Einfällen, witzigen Ideen und Wahrheiten, denn es gibt jede Menge Verweise auf den wirklichen Keith Richards und dessen musikalische Karriere.“ (Ingrid Mosblech-Kaltwasser)

keithkariAm nächsten Tag war Sturmwarnung, aber das über­springe ich hier. Es wurde ein Hurrikan erwartet, die Hunde wurden an die Bäume gebunden. Die Leute be­schwerten ihre Hausdächer mit Ziegelsteinen. Ich sah vom Hotelzimmer aus diese Ziegelsteine durch die Luft fliegen, gefolgt von Wellblechteilen und Hunden mit ge­rissenen Leinen um den Hals.

Es reicht jetzt! So lustig das alles ist, es kann einem auch ein wenig auf den Wecker gehen, wie Linus Reichlin seine Gags raushaut, mal brillant, mal billiger. Die Anspielungen hab ich sicher nicht in ihrer Fülle entdeckt. Es ist nicht schlecht, wenn man ein bisschen was über Keith Richards gehört hat, aber man kann den Roman auch so höchst lustig finden.

2019          255 Seiten

Leseprobe beim Verlag Kiepenheuer & Witsch

Linus Reichlin liest aus “Keiths Probleme im Jenseits” bei zehnseiten.de

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