Nachrichten vom Höllenhund


Ng
17. August 2020, 15:09
Filed under: - Belletristik | Schlagwörter: ,

Celeste Ng:
Was ich euch nicht erzählte

Amerikanische Klein- und Mittelstädte, Vorstädte auch, machen es ihren Bewohnern verdammt schwer, zurechtzukommen. Ist der „Schmelztiegel“ Großstadt anonym, lebt von der Diversität, ist das Dorf homogener. In Ohio nennt man village, was unter 5000 Bewohner hat. In den Gemeinden dazwischen gibt es community colleges,eine weniger bedeutende Universität, kulturelle und kommunikative Infrastruktur. All das zieht gehobenes Bürgertum an, das qua Existenz aber zum Außenseitertum neigt und sich daher zur existenziellen Einbettung rigide Normen auferlegt. Die Mitgliedschaft im exkludierenden Club, der standardisierte Konsum, der gepflegte Rasen, die angepassten Kinder. Wehe, man weicht ab, wehe, man leistet sich Eigensinn, distinguiert sich.

Wehe, man sieht anders aus. Walter Lee und die Kinder sehen anders aus, ein bisschen nur, aber es reicht. Walters Eltern stammen aus China, er hält seine Vorlesung an der örtlichen Hochschule – über Cowboys, Marilyn ist eine der wenigen Hörer*innen, in der Sprechstunde überfällt sie ihn mit einem Kuss. Das war das Leben. Die Kinder sehen ein bisschen asiatisch aus, Marilyns Träume vom Medizinstudium enden im Haushalt. Routine. In Middlewood (!) gibt es in den 1970ern keine „asiatische“ Commnuity. Marilyns Mutter hatte gewarnt. Marilyn ruft es sich ins Gedächtnis:

Deine Mutter hatte letztendlich recht. Du hättest jemanden heiraten sollen, der mehr wie du ist. Mit einer Bitterkeit in der Stimme, die ihr den Atem nahm. Die Worte kommen ihr bekannt vor; sie wiederholt sie stumm und versucht, sie zu verorten. Dann erinnert sie sich. An ihrem Hochzeitstag, im Gerichtsgebäude: Ihre Mutter hatte sie wegen ihrer Kinder gewarnt, dass sie nirgendwo hinpassen würden. Du wirst es bereuen, hatte sie gesagt, als würden sie mit Flossen zur Welt kommen.

DieZentralfigur des Romans ist Lydia, die ältere Tochter, bald volljährig. Der erste Satz: „Lydia ist tot.“ Niemand will es glauben. Bis die Polizei ihre Leiche im See findet. Auch das will niemand glauben, weil es nicht sein kann, weil es nicht sein darf, weil man mit ihrem Tod zu tun haben würde. Die Familie macht sich mit Celeste Ng auf die Suche: „Wie hatte es angefangen?“, fragen sie zu Beginn von Kapitel zwei. Die Antwort versteckt sich hinter allgemeinen Beschwörungen. “ Wie alles: mit Müttern und Vätern. Mit Lydias Mutter und Vater, mit deren Müttern und Vätern. Weil vor langer Zeit ihre Mutter verschwunden war und ihr Vater sie zurückgeholt hatte. Weil ihre Mutter sich sehnlichst gewünscht hatte, aus der Menge herauszuragen, und weil ihr Vater sich sehn­lichst gewünscht hatte, ein Teil der Menge zu sein. Beides war nicht möglich gewesen.”

»Dir ist klar, dass du das einzige Mädchen in der Schule bist, das nicht weiß ist?«
»Ach ja? Ist mir noch gar nicht aufgefallen.« Das war eine Lüge. Selbst mit ihren blauen Augen konnte sie nicht so tun, als gehörte sie dazu.
»Ich wette, du und Nath seid wahrscheinlich die einzigen Chinesen in ganz Middlewood.«
»Kann sein.« (…) Lydia zögerte. Manchmal vergaß man es fast: dass man nicht so aussah wie alle anderen. Man hörte sich die Morgenansprache an, gab im Drugstore einen Film zum Entwickeln oder packte im Supermarkt einen Karton Eier in den Einkaufswagen und fühlte sich genau wie jeder andere in der Menge. Manchmal dachte man überhaupt nicht daran. Und dann wie­der spürte man, wie das Mädchen auf der anderen Seite des Gangs glotzte, wie der Apotheker gaffte, der Junge an der Kasse einen be­äugte, und man sah sich in ihren starren Blicken widergespiegelt: fehl am Platz. Man stach ins Auge wie ein Fremdkörper.

Die Methode der nachgeschriebenen Aufklärung steckt schon im Titel. (Celeste Ng übernimmt sie auch in „Kleine Feuer überall“ von 2017.Auch hier verstärken neu zugezogene Nachbarn die Sehnsüchte und den Zwang, diese abzuweisen.) Das kann Spannung in den Text legen, obwohl der Leser ja auch nicht völlig unbelesen ist und aus der Gestaltung und den vielfältigen kaum verhüllten Anspielungen die Hintergründe absehen kann.

Eigentlich bräuchte der Roman die Elemente ethnizistischer Diskriminierung nicht. Lydia ist ja schon allein deshalb überfordert, weil sie zwischen den ambivalenten Erwartungen vor allem der Mutter nur versagen kann. Sie soll den latent rebellierenden Lebenstraum der Mutter verwirklichen und sie soll zugleich die überangepasste, brave Tochter sein. Beides zugleich geht nicht, so sehr Lydia sich auch abstrampelt. Immer wieder bemüht Celeste Ng das Bild, wie Lydia unter dem Esstisch die Arme um die Knie schlingt, sich klein macht, unsichtbar, ihre Existenz ungeschehen machen will. (Nach Lydias Tod komplementiert sich die Metapher: “Marilyn sitzt wie ein kleines Mädchen auf Lydias Bett, die Arme um die Knie geschlungen.”)

„Was ich euch nicht erzählte“ ist ein ambitionierter, genau beobachteter Familienroman in einer „sorgfältig aufgebauten klaustrophobisch-repressiven familiären Versuchsanordnung. (…). Aber „die Welt bleibt außen vor“ (Martin Zähringer, NZZ) Die rassistisch motivierten Gehässigkeiten verschärfen die Leiden der Kinder, ihre Einsamkeit, ihr unbeholfenes Abplagen, sie selbst sein zu können, zu dürfen.

»Wir haben auch mit anderen Klassenkameraden und Lehrern gesprochen. Soweit wir es beurteilen können, hatte sie nicht viele Freunde.« Officer Fiske blickt auf. »Würden Sie sagen, dass Lydia einsam war?«
»Einsam?« James sieht kurz seine Frau an und dann – zum ersten Mal an diesem Morgen – seinen Sohn. Als eine von nur zwei Asiaten an der Middlewood High – der andere ist ihr Bruder Nathan -fiel Lee in der Schule auf. Er kennt das Gefühl: die vie­len fischbleichen Gesichter, die einen stumm anstarren. Er hatte sich einzureden versucht, dass Lydia anders wäre, dass ihre vie­len Freundinnen sie einfach zu einer aus der Gruppe machten. »Einsam«, wiederholt er langsam. »Sie war oft allein.«

Martin Zähringer stellt sich die Frage, „warum die Autorin im Jahr 2015 einen Roman schreibt, der dem Erfahrungsraum heutiger Asian Americans so wenig zu entsprechen scheint“. Ich habe das Buch 2020 gelesen und auch da hat Corona einiges offen gelegt.

„Nicht nur in den USA, auch in Deutschland berichteten Menschen asiatischer Herkunft kurz danach von zunehmender Diskriminierung. Wohnungssuchende seien wegen ihres Aussehens zurückgewiesen worden, Ärzte hätten Behandlungen verweigert. Von einer Pandemie des Rassismus war mitunter die Rede – zusätzlich angeheizt durch im Internet kursierende Verschwörungstheorien, die China vorwarfen, das Virus bewusst in die Welt gesetzt zu haben.“(SPIEGEL)

Author Celeste Ng noted on Twitter that “Asians worldwide are facing actual harassment because of people who insist on calling the illness the Chinese virus”. (Lauren Aratani, The Guardian März 20)

Im Roman untersucht Celeste Ng die Wurzeln des Rassismus nicht. „Dabei bleiben die Einflüsse von aussen nur schattenhafte Erfahrungsmomente im drangvoll geschlossenen Familienkreis.“ (Martin Zähringer)

Bei diesem letzten Vorsatz war Lydia klar, was sie tun musste. Dass sie noch einmal ganz von vorn anfangen musste, damit sie nie wieder Angst vor dem Alleinsein hätte. Was sie tun musste, um ihre Vorsätze zu besiegeln und zu verwirklichen. Vorsichtig stieg sie in das Ruderboot und löste das Tau. Als sie sich vom Ufer abstieß, rechnete sie mit einem Anflug von Panik. Er kam nicht. Selbst als sie langsam und ungeschickt auf den See hinausgeru­dert war – so weit, dass der Laternenpfahl nur noch ein Punkt war, zu klein, um die Dunkelheit um sie herum zu verschmutzen -, war sie merkwürdig ruhig und zuversichtlich. Über ihr stand ein Mond, rund wie eine Münze, klar und perfekt. Unter ihr schaukel­te das Boot so sanft, dass sie es kaum spürte. Als sie in den Him­mel blickte, hatte sie das Gefühl, vollkommen frei im Weltraum zu schweben. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass etwas nicht mög­lich war.

2014 280 Seiten

2

         

Kommentar verfassen so far
Hinterlasse einen Kommentar



Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..



%d Bloggern gefällt das: